Transkript
FORTBILDUNG
Ehrgeizigere Blutdruckziele auch im Alter?
Amerikanische Praxisleitlinie zur Hypertoniebehandlung ab 60 Jahren
Dass eine medikamentöse Blutdrucksenkung bei arteriel-
ler Hypertonie auch im Alter Vorteile bei der Mortalität
sowie bei kardialen und zerebrovaskulären Ereignissen
bietet, ist unbestritten. Unsicherheiten bestehen hinge-
gen hinsichtlich der anzustrebenden Blutdruckziele. Das
American College of Physicians (ACP) und die American
Academy of Family Physicians (AAFP) propagieren auch für
ältere hypertensive Patienten als Ziel einen individuell
tieferen systolischen Blutdruck.
American College of Physicians/ American Academy of Family Physicians
Die beiden amerikanischen Fachgesellschaften haben gemeinsam eine Guideline zur Pharmakotherapie bei hypertensiven Patienten im Alter von 60 oder mehr Jahren herausgegeben (1), die sich auf einen systematischen Review mit Metaanalyse (2) stützt. Für diese Übersicht fanden die Autoren 21 randomisierte, kontrollierte Studien mit Vergleichen von Blutdruckzielen oder Behandlungsintensität sowie 3 Beobachtungsstudien, welche nachteilige Behandlungsauswirkungen untersuchten. 9 Studien von hoher Qualität lieferten Evidenz, dass eine Blutdruckkontrolle auf Werte unter 150/90 mmHg die Sterblichkeit, kardiale Ereignisse sowie Hirnschläge signifikant reduziert. 6 Studien erbrachten Evidenz niedriger bis mittlerer Qualität, dass tiefere Werte bei Behandlungszielen (≤ 140/85 mmHg) mit marginal signifikanten
Abnahmen bei kardialen Ereignissen und Hirnschlag sowie nicht signifikant weniger Todesfällen assoziiert waren. Evidenz niedriger bis mittlerer Qualität zeigte, dass tiefere Blutdruckziele die Zahl der Stürze und das Ausmass an kognitiven Beeinträchtigung nicht erhöhen.
Grosses Gewicht von SPRINT und ACCORD
Wegen ihrer Grösse und den Ereignisraten trugen die Studien SPRINT (Systolic Blood Pressure Intervention Trial) und ACCORD (Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes) am meisten zu den Analysen bei. SPRINT, betonen die Autoren, war substanziell beteiligt am Ausmass des Behandlungsnutzens. Wurden diese Daten in einer zusätzlichen Sensitivitätsanalyse entfernt, war die Auswirkung auf die Mortalität reduziert, und die Effekte auf die kardialen Ereignisse waren nicht mehr länger signifikant. Die günstige Beeinflussung der Hirnschlaghäufigkeit blieb jedoch weitgehend unverändert. Zusammen betrachtet, tragen SPRINT und ACCORD zur Unsicherheit über den wahren Effekt einer intensiveren Blutdrucksenkung bei, da sie widersprüchliche Ergebnisse lieferten. Beide verglichen zwar systolische Blutdruckziele von unter 140 mmHg und unter 120 mmHg bei Patienten mit gut kontrollierter Hypertonie und hohem kardiovaskulärem Risiko, SPRINT fand eine ausgeprägte Reduktion von Mortalität und kardiovaskulärem Risiko, ACCORD hingegen nicht. ACCORD umfasste Diabetiker, SPRINT schloss sie aus. In ACCORD waren die Teilnehmer jünger (62 vs. 68 Jahre), ACCORD war eine kleinere Studie, SPRINT wurde wegen des nachgewiesenen Behandlungsnutzens vorzeitig abgebrochen, was die Behandlungseffekte zu gross erscheinen lassen könnte.
MERKSÄTZE
O Die neue amerikanische Praxisleitlinie zur Pharmakotherapie bei hypertensiven Patienten im Alter von 60 und mehr Jahren berücksichtigt nur den systolischen Blutdruck.
O Die meisten, auch ältere Patienten mit Hypertonie werden schon von einer Blutdruckabsenkung auf unter 150/90 mmHg hinsichtlich Mortalität und Morbidität profitieren.
O Ein tieferes Blutdruckziel ≤ 140 mmHg kann bei Risikokonstellationen (transiente ischämische Attacke, Hirnschlag, kardiovaskuläre Risikofaktoren) individuell sinnvoll sein.
Vor- und Nachteile der Behandlung
Die für die Praxis bestimmte Guideline zur Hypertoniebehandlung bei älteren Patienten stellt Behandlungsvorteile und -nachteile zusammen: O Nutzen: Mortalität, Hirnschlaginzidenz und kardiale Er-
eignisse werden alle durch die Behandlung reduziert. Eine Behandlung mit tieferem Blutdruckziel verbessert Mortalität, Lebensqualität und funktionellen Zustand nicht weiter, vermindert aber die Häufigkeit von Hirnschlag und kardialen Ereignissen. O Nachteile: häufigere Therapieabbrüche wegen Nebenwirkungen bei tieferen im Vergleich zu höheren Blutdruckzielwerten; häufiger Husten, Hypotonie und mehr Synkopen bei tieferen im Vergleich zu höheren Blutdruckzielwerten,
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FORTBILDUNG
Kasten 1:
Die drei Empfehlungen des American College of Physicians (ACP) und der American Academy of Family Physicians (AAFP) zur Pharmakotherapie bei Hypertonikern ab 60 Jahren
Empfehlung 1: ACP und AAFP empfehlen zur Reduktion des Mortalitätsrisikos und des Risikos für Hirnschlag und kardiale Ereignisse den Beginn einer Therapie bei Erwachsenen mit Alter 60 oder höher und anhaltendem systolischem Blutdruck von 150 mmHg oder höher, um ein Therapieziel von unter 150 mmHg zu erreichen (starke Empfehlung, Evidenz hoher Qualität). ACP und AAFP empfehlen, die Behandlungsziele für Erwachsene im Alter von 60 oder mehr Jahren auf Basis einer periodischen Diskussion von Nutzen und Risiken spezifischer Blutdruckziele mit dem Patienten zu wählen.
Empfehlung 2: ACP und AAFP empfehlen den Beginn oder die Intensivierung der Pharmakotherapie bei Erwachsenen im Alter ab 60 Jahren und mit positiver Anamnese für Hirnschlag oder transiente ischämische Attacke zur Reduktion des Risikos für weitere Hirnschläge mit einem systolischen Zielblutdruck von weniger als 140 mmHg (schwache Empfehlung, Evidenz mittlerer Qualität). Die Behandlungsziele sollen auch bei diesen Patienten auf Basis einer periodischen Diskussion von Nutzen und Risiken spezifischer Blutdruckziele mit dem Patienten gewählt werden.
Empfehlung 3: ACP und AAFP empfehlen den Beginn oder die Intensivierung der Pharmakotherapie bei gewissen Erwachsenen mit einem Alter von 60 oder mehr Jahren und individuell bestimmtem, hohem kardiovaskulärem Risiko zur Reduktion des Risikos für Hirnschlag und kardiale Ereignisse mit einem systolischen Zielblutdruck von weniger als 140 mmHg (schwache Empfehlung, Evidenz geringer Qualität). Dieses Behandlungsziel soll mit dem Patienten hinsichtlich Nutzen und Risiken spezifischer periodisch diskutiert werden.
Kasten 2:
Was derzeit gültige schweizerische, europäische und amerikanische Guidelinies zum Blutdruckziel empfehlen
Guideline der Schweizerischen Hypertoniegesellschaft 2015
O generell Blutdruck < 140/90 mmHg O Diabetiker und Nierenpatienten < 140/85 mmHg O isolierte systolische Hypertonie* < 150 mmHg * gilt auch für Betagte bei fehlender Orthostase.
ESC/ESH-Guideline 2013
O Ein systolisches Blutdruckziel von < 140 mmHg wird für alle hypertensiven Patienten empfohlen, mit wenigen Ausnahmen. O Bei älteren hypertensiven Patienten unter 80 Jahren gibt es solide Evidenz zugunsten einer Reduktion des systolischen Blutdrucks
zwischen 140 und 150 mmHg, aber ein Ziel < 140 mmHg kann bei Älteren in gutem Zustand in Betracht gezogen werden. Bei über 80-Jährigen wird empfohlen, den systolischen Blutdruck auf 140 bis 150 mmHg zu reduzieren, wenn sie in guter körperlicher und mentaler Verfassung sind. O Ein diastolischer Blutdruck < 90 mmHg wird immer empfohlen, ausser bei Patienten mit Diabetes, für die Werte < 85 mmHg empfohlen werden.
ACP/AAFP-Guideline zur Blutdrucksenkung bei hypertensiven Patienten im Alter von 60 und mehr Jahren 2017
O generell systolischer Zielwert < 150 mmHg O bei positiver Anamnese für Hirnschlag oder transiente ischämische Attacke systolischer Zielwert < 140 mmHg O für hypertensive Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko systolischer Zielwert < 140 mmHg
hingegen keine Unterschiede zwischen höheren und tieferen Blutdruckzielwerten für renale und kognitive Verlaufsparameter sowie für Stürze und Frakturen. O Nebenwirkungen: Diuretika vom Thiazidtyp: Elektrolytstörungen, gastrointestinale Beschwerden, Hautausschläge und andere allergische Reaktionen, sexuelle Dysfunktion bei Männern, Fotosensitivitätsreaktioen und orthostatische Hypotonie; ACE-Hemmer: Husten und Hyperkaliämie;
Angiotensinrezeptorblocker: Benommenheit, Husten und Hyperkaliämie; Kalziumantagonisten: Benommenheit, Kopfweh, Ödeme und Obstipation; Betablocker: Müdigkeit und sexuelle Dysfunktion.
Drei Empfehlungen zu den Blutdruckzielen Aus den zusammengetragenen Daten hat das Expertenkomitee von ACP und AAFP drei Empfehlungen destilliert (Kasten 1).
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FORTBILDUNG
Für die Empfehlungsstärke stellen die Autoren auf die Balance zwischen Vor- und Nachteilen ab. Eine Empfehlung gilt als stark, wenn der Nutzen die Risiken und die Behandlungslast klar übertrifft oder wenn umgekehrt die Risiken und die Behandlungslast den Nutzen eindeutig übertreffen. Eine schwache Empfehlung basiert auf Daten, die eine Balance zwischen Nutzen und Risiken erkennen lassen. Die amerikanischen Empfehlungen stellen für die Zielwerte nur auf den systolischen Blutdruck ab. Die Autoren erklären die Evidenz für die Therapie einer isolierten diastolischen Hypertonie für ungenügend. Die meisten Studien erfassten die Behandlungsauswirkungen auf Basis des systolischen Blutdrucks, und keine einzige Studie schloss Patienten mit einem mittleren diastolischen Blutdruck über 90 mmHg bei mittlerem systolischem Blutdruck unter 140 mmHg ein. Grundsätzlich empfiehlt die Guideline eine therapeutische Senkung des systolischen Blutdrucks unter 150 mmHg. Das Blutdruckziel soll aber im Hinblick auf Nutzen und Risiken periodisch mit dem Patienten diskutiert werden. Für besondere Konstellationen empfiehlt die Guideline ein noch tieferes systolisches Blutdruckziel von unter 140 mmHg. Dies gilt für hypertensive Patienten nach durchgemachter transienter ischämischer Attacke oder Hirnschlag sowie für solche mit individuell bestimmtem, hohem kardiovaskulärem Risiko. Das Blutdruckziel hängt jedoch von vielen für den einzelnen Patienten geltenden Faktoren wie Begleiterkrankungen, Medikationslast, Risiko für Nebenwirkungen und Kosten ab. Die ACP/AAFP-Guideline unterscheidet sich in den etwas ehrgeizigeren Therapiezielen (Kasten 2) von den Empfehlungen europäischer Gremien wie European Society of Hypertension (ESH) und European Society of Cardiology (ESC) (3) oder der Schweizerischen Hypertoniegesellschaft (4). Sie wurden jedoch vor der Publikation der SPRINT-Studie abgefasst.
Weitere klinische Gesichtspunkte
Im Einklang mit europäischen Guidelines weisen die Exper-
ten von ACP und AAFP darauf hin, wie wichtig vor Beginn
einer antihypertensiven Therapie die akkurate Blutdruck-
messung ist. Bei Hinweisen auf Weisskitteleffekte ist eine
ambulante Blutdruckmessung angemessen.
Noch vor Medikamenten oder zumindest gleichzeitig sind
auch die nicht pharmakologischen Optionen wie Gewichts-
reduktion, Ernährungsumstellung und Steigerung der körper-
lichen Aktivität zu berücksichtigen. Viele ältere Menschen
nehmen eine ganze Reihe von Medikamenten ein, daher sind
Medikationslast und Interaktionen bei der Wahl von Behand-
lungsoptionen wichtige Gesichtspunkte. Einige Studien haben
eine schlechtere Adhärenz bei Mehrfachdosierungen von
Antihypertensiva gezeigt. Die Guideline befürwortet auch den
Einsatz von Generika, wenn sie zur Verfügung stehen.
Die Evidenz für gebrechliche alte Menschen oder für multi-
morbide Patienten ist beschränkt.
O
Halid Bas
Quellen: 1. Qaseem A et al.: Pharmacologic treatment of hypertension in adults aged 60 years or
older to higher versus lower blood pressure targets: a clinical practice guideline from the American College of Physicians and the American Academy of Family Physicians. Ann Intern Med, published online 17 Jan 2017, DOI: 10.7326/M16-1785. 2. Weiss J et al.: Benefits and harms of intensive blood pressure treatment in adults aged 60 years or older: a systematic review and meta-analysis. Ann Intern Med, published online 17 Jan 2017, DOI: 10.7326/M16-1754. 3. Mancia G et al.: 2013 ESH/ESC Guidelines for the management of arterial hypertension: the Task Force for the Management of Arterial Hypertension of the European Society of Hypertension (ESH) and of the European Society of Cardiology (ESC). Eur Heart J 2013; 34 (28): 2159–2219. 4. http://swisshypertension.ch
Interessenlage: Die Interessendeklarationen der Autoren sind einsehbar unter www.acponline.org/authors/icmje/ConflictOfInterestForms.do?msNum=M16-1785. Einige namentlich erwähnte Mitglieder der Expertengruppe enthielten sich wegen möglicher Interessenkonflikte bei den Abstimmungen zu den Empfehlungen.
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