Transkript
FORTBILDUNG
Begünstigt Vitamin-D-Mangel endokrine Autoimmunerkrankungen?
Zum Teil widersprüchliche Datenlage zu Kausalität, Grenzwerten und Supplementierung
Vitamin D spielt eine zentrale Rolle bei der Regulierung des
Mineral- und Knochenstoffwechsels. In Beobachtungs-
studien und Metaanalysen zeigten sich aber auch Zu-
sammenhänge zwischen den Vitamin-D-Serumspiegeln
und der Pathogenese verschiedener Erkrankungen. Ita-
lienische Wissenschaftler haben nun die Verbindungen
zwischen Vitamin D und endokrinen Autoimmunerkran-
kungen untersucht.
Reviews in Endocrine and Metabolic Disorders
Der Steroidhormonvorläufer Vitamin D3 (Cholecalciferol) wird in der Haut über eine fotochemische Reaktion mithilfe von ultravioletter Strahlung des Sonnenlichts synthetisiert. Die Aufnahme über die Nahrung ist nur begrenzt über fetten Fisch und Eier möglich. Cholecalciferol ist biologisch inert. Zur Aktivierung sind zwei Schritte erforderlich. Zunächst erfolgt in der Leber die Hydroxylierung zu 25-HydroxyVitamin D3 (Calcidiol). Dieses Zwischenprodukt wird dann in der Niere durch das Enzym 1-alpha-Hydroxylase in die biologisch aktive Form 1,25(OH)2D3 (Calcitriol) überführt. Calcitriol beeinflusst über die Bindung an den nukleären Vitamin-D-Rezeptor (VDR) die Transkription verschiedener Zielgene. Die physiologische Hauptfunktion von Vitamin D besteht in der Regulierung des Mineral- und Knochenstoffwechsels. In Observationsstudien und Metaanalysen wurden aber auch Zusammenhänge zwischen den Vitamin-D-Serumspiegeln und dem Verlauf von endokrinen Erkrankungen, Autoimmunerkrankungen, Krebserkrankungen und Infektionskrankheiten beobachtet. In einem Review haben Barbara Altieri von der
Katholischen Universität vom Heiligen Herzen in Rom (Italien) und ihre Arbeitsgruppe die derzeit verfügbare Evidenz zur Rolle von Vitamin D in der Pathogenese endokriner Autoimmunerkrankungen zusammengefasst. Des Weiteren diskutieren die Forscher die Bedeutung von Vitamin-D-Supplementen zur Prävention und zur Behandlung dieser Erkrankungen.
Die Rolle von Vitamin D in der Immunabwehr
Autoimmunerkrankungen sind durch einen Verlust der immunologischen Homöostase gekennzeichnet, der in Fehlern bei der Erkennung eigener Gewebe und in der Zerstörung dieser Gewebe durch autoreaktive Immunzellen resultiert. Man nimmt an, dass eine Kombination aus genetischer Disposition, epidemiologischen Risikofaktoren und Umwelteinflüssen an der Entwicklung von Autoimmunerkrankungen beteiligt sind. Zu den relevanten Umweltfaktoren könnte auch Vitamin D gehören. Vitamin D spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der angeborenen und der erworbenen Immunabwehr. Viele Immunzellen exprimieren das Enzym 1-alpha-Hydroxylase und sind somit in der Lage, aus den Vorläuferformen von Vitamin D den biologisch aktiven Metaboliten zu synthetisieren. Dieser weist ähnliche immunmodulatorische Eigenschaften auf wie lokal aktive Zytokine. Vitamin D verstärkt die antimikrobiellen Eigenschaften von Zellen der angeborenen Immunabwehr. Des Weiteren vermindert Vitamin D die Produktion entzündlicher Zytokine, erhöht die Produktion antientzündlicher Zytokine und unterstützt die Induktion regulatorischer T-Zellen (Treg). Somit stimuliert Vitamin D die angeborene Immunabwehr, reguliert die adaptive Immunabwehr und fördert die Immuntoleranz. Dadurch verringert sich das Risiko für die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen.
MERKSÄTZE
O Vitamin D stärkt die antimikrobiellen Eigenschaften von Zellen der angeborenen Immunabwehr.
O Vitamin D wirkt regulierend auf die adaptive Immunabwehr und fördert die Immuntoleranz.
O Ein Vitamin-D-Mangel könnte die immunologische Homöostase beeinträchtigen und die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen begünstigen.
Vitamin D und Diabetes Typ 1
Die Studienergebnisse zur Rolle von Vitamin D bei Diabetes Typ 1 sind widersprüchlich. In manchen Untersuchungen wurde eine Verbindung zwischen Gen-Polymorphismen des Enzyms 1-alpha-Hydroxylase und Diabetes Typ 1 beobachtet, in anderen dagegen nicht. In epidemiologischen Studien waren bei Kindern ein NordSüd-Gradient der Diabetes-Typ-1-Inzidenz und ein saisonales Muster des Krankheitsbeginns erkennbar. In einer Metaanalyse von vier Fall-Kontroll-Studien und einer Kohortenstudie konnte das Risiko für die Entwicklung von Diabetes Typ 1 bei Kindern, die Vitamin-D-Supplemente erhielten, im Vergleich zu denen, die keine erhielten, signifikant um 29 Prozent
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reduziert werden. Klinische Interventionsstudien zum Nutzen von Vitamin-D-Supplementen zur Prävention von Diabetes Typ 1 verliefen bis anhin jedoch enttäuschend. Barbara Altieri und ihre Kollegen kamen zu dem Schluss, dass Personen mit hohem genetischen Risiko für Diabetes Typ 1 derzeit geraten werden kann, einen Vitamin-D-Mangel gegebenenfalls mithilfe von Supplementen zu vermeiden.
Vitamin D und Morbus Addison
Bei Morbus Addison handelt es sich um eine seltene Erkrankung, die durch eine autoimmun vermittelte selektive Zerstörung der Nebennierenrinde gekennzeichnet ist. Die Erkrankung tritt bei 40 Prozent der Betroffenen isoliert und bei 60 Prozent zusammen mit autoimmunen polyendokrinen Syndromen auf. In Studien standen Polymorphismen des VDR in Zusammenhang mit Morbus Addison, und in einer grossen Kohorte von Patienten mit Vitamin-D-Mangel wurden signifikant erhöhte Raten an Morbus Addison (Rate-Ratio: 7,0) und anderen Autoimmunerkrankungen beobachtet. Altieri und ihre Arbeitsgruppe weisen darauf hin, dass die Erkenntnisse zu Vitamin D und Morbus Addison derzeit hauptsächlich auf wenigen Beobachtungsstudien beruhen. Diese vorläufigen Ergebnisse weisen allerdings darauf hin, dass Vitamin D die genetische Suszeptibilität für diese Erkrankung durch eine Modifizierung des Immunansprechens beeinflussen könnte.
Vitamin D und autoimmune Schilddrüsenerkrankungen
Neuere Studienergebnisse lassen auch eine Verbindung zwischen Vitamin-D-Mangel und autoimmunen Schilddrüsenerkrankungen (autoimmune thyroid disease, AITD) wie Hashimoto-Thyreoiditis und Morbus Basedow vermuten. In einer Metaanalyse waren die Serumspiegel von 25-Hydroxy-Vitamin D bei AITD-Patienten niedriger als die gesunder Kontrollpersonen. Zudem entwickelte sich bei Personen
mit niedrigen Vitamin-D-Serumspiegeln häufiger eine AIDT als bei Kontrollpersonen mit ausreichenden Serumwerten. Ein Vitamin-D-Mangel könnte somit bei der Pathogenese dieser Erkrankungen eine Rolle spielen. In einer randomisierten Studie waren Vitamin-D-Supplemente bei AIDT-Patienten mit einer signifikanten Reduktion der Thyreoperoxidase-Antikörper-Titer verbunden. Dies weist darauf hin, dass Vitamin D bei AIDT eine Verbesserung bewirken könnte. In einer anderen Studie wurde jedoch nur eine schwache inverse Korrelation zwischen den Vitamin-D-Serumwerten und den Thyreoperoxidase-Antikörper-Titern beobachtet. Aufgrund der unterschiedlichen Ergebnisse wird die Rolle von Vitamin D bei autoimmunen Schilddrüsenerkrankungen kontrovers diskutiert. Kofaktoren wie die Sonnenlichtexposition, Adipositas oder ein bewegungsarmer Lebensstil könnten die Ergebnisse epidemiologischer Studien beeinflusst und zu widersprüchlichen Resultaten geführt haben. Die zunehmende Evidenz für einen Zusammenhang weist jedoch darauf hin, dass eine Vitamin-D-Supplementation bei AITDPatienten von Nutzen sein könnte.
Vitamin D und autoimmune polyendokrine Syndrome
Zu den autoimmunen polyendokrinen Syndromen (APS) gehören verschiedene Erkrankungen, die durch eine Koexistenz von mindestens zwei endokrinen oder nicht endokrinen Autoimmunerkrankungen charakterisiert sind. Man unterscheidet die vier Formen APS-1, -2, -3 und -4. In der einzigen Studie zur Verbindung zwischen dem Vitamin-D-Status und APS wurde bei Patienten mit APS-3 häufiger ein niedriger Vitamin-D-Spiegel diagnostiziert als bei gesunden Kontrollpersonen. Ob der unzureichende Vitamin-DStatus als kausaler Faktor in der Pathogenese der APS oder als Folgeerscheinung der Erkrankung zu betrachten ist, muss noch geklärt werden.
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Vitamin-D-Supplemente zur Prävention
Die Blutkonzentration von Calcidiol dient als Biomarker zur Erfassung des Vitamin-D-Status. Derzeit existiert kein internationaler Konsens bezüglich der optimalen Serumkonzentration zur Verhinderung gesundheitlicher Schädigungen im Rahmen nicht klassischer Vitamin-D-Funktionen. Für die Erhaltung der Knochengesundheit bei gesunden Personen erachten das Institute of Medicine (IOM) und die National Osteoporosis Society in ihren Richtlinien einen Vitamin-DSerumspiegel von 20 ng/ml (50 nmol/l) als ausreichend. Ein Vitamin-D-Mangel liegt nach ihrer Definition bei weniger als 12 ng/ml vor. Die Endocrine Society definiert dagegen eine höhere Vitamin-D-Serumkonzentration von 30 ng/ml als ausreichend. Ein Vitamin-D-Mangel liegt entsprechend ihrer Richtlinie bei weniger als 20 ng/ml vor. Die optimale Vorgehensweise bei der Vitamin-D-Supplementierung wird ebenfalls kontrovers diskutiert. In experimentellen Studien bei Menschen zeigte sich, dass Vitamin-D-Supplemente das Risiko für die Entwicklung von Autoimmunerkrankungen senken und die Krankheitsaktivität verringern können. Die oral applizierten Vitamin-D-Mengen reichen dazu jedoch möglicherweise oft nicht aus. Um einen Zielwert der 25(OH)D-Serumkonzentrationen von > 75 nmol/l zu erreichen, müssten bei einigen Personen mit unzureichenden Vitamin-D-Spiegeln Dosierungen von mindestens 800 bis
1000 IU/Tag gegeben werden. In den Richtlinien der Endo-
crine Society wird zur Erreichung ausreichender Vitamin-D-
Serumspiegel für Erwachsene mit Vitamin-D-Mangel zu-
nächst eine 1-mal wöchentliche Applikation von 50 000 IU
über 8 Wochen empfohlen, der Erhaltungsdosen von 1500
bis 2000 IU/Tag folgen.
Eine akute Vitamin-D-Intoxikation, die sich durch Hyper-
kalzämie, Hyperkalzurie und eine Kalzifizierung verschie-
dener Organe manifestiert, trat in Studien bei 25(OH)D-
Serumspiegeln > 150 ng/ml auf. Die meisten Vitamin-D-Into-
xikationen wurden jedoch erst bei einer längerfristigen
Aufnahme von > 40 000 IU/Tag beobachtet.
Wegen der potenziellen Nebenwirkungen von aktiviertem
Vitamin D wird Cholecalciferol als bevorzugte Form für eine
Supplementation empfohlen. Im Vergleich mit anderen in-
aktiven Formen von Vitamin D, wie Ergocalciferol, weist
Cholecalciferol eine längere Halbwertszeit und eine höhere
Bioverfügbarkeit im Gewebe auf.
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Petra Stölting
Quelle: Altieri B et al.: Does vitamin D play a role in autoimmune endocrine disorders? A proof of concept. Rev Endocr Metab Disord 2017, Jan 9; DOI: 10.1007/s11154-016-94059 [Epub ahead of print].
Interessenlage: Die Autoren des referierten Reviews erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
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