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STUDIE REFERIERT
Oligonukleotide – eine neue Klasse von Cholesterinsenkern
Das Oligonukleotid Inclisiran verhindert über eine gezielte Genabschaltung die Synthese des LDL-Rezeptor-Regulators PCSK9 in der Leber und senkt so den LDL-Cholesterin-Serumspiegel. In einer Phase-I-Studie blieb der LDLCholesterin-Wert nach nur einer subkutanen Applikation bis zu 6 Monate lang konstant niedrig.
New England Journal of Medicine
Eine erhöhte Serumkonzentration von LDL-(«low-density lipoprotein»-)Cholesterin (LDL-C) gehört zu den Hauptrisikofaktoren für die Entwicklung kardiovaskulärer Erkrankungen. Viele Risikopatienten weisen jedoch trotz einer Behandlung mit Statinen oder anderen Lipidsenkern erhöhte LDL-C-Werte auf (1). Vor wenigen Jahren wurde die Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin Typ 9 (PCSK9) als bedeutsame Zielstruktur für eine cholesterinsenkende Behandlung identifiziert. Dieses Enzym wird vorwiegend in der Leber exprimiert und in den Blutstrom sezerniert. PCSK9 bindet an LDL-Rezeptoren auf der Oberfläche von Leberzellen und bewirkt den Abbau der LDL-Rezeptoren in den Lysosomen der Hepatozyten. Dadurch erhöht sich die Konzentration des im Blut zirkulierenden LDL-C (1). PCSK9 reguliert die Menge der LDL-Rezeptoren und darüber hinaus die Grössenordnung der LDL-C-Clearance (2).
Monoklonale Antikörper
inhibieren PCSK9
Die monoklonalen Antikörper Alirocumab (Praluent®) und Evolocumab (Repatha®) blockieren die PCSK9. Dadurch erhöht sich die Anzahl der LDLRezeptoren auf den Hepatozyten, und der LDL-C-Serumspiegel wird gesenkt. Die derzeit verfügbaren Daten weisen darauf hin, dass eine Langzeitbehandlung mit diesen Antikörpern mit geringeren Raten kardiovaskulärer Ereignisse verbunden ist als mit Plazebo. Beide PCSK9-Inhibitoren werden 1- bis 2-mal monatlich subkutan verabreicht (1). Alirocumab und Evolocumab sind von der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) – und in der Schweiz – in speziellen Fällen als ergänzende Medikamente zugelassen, wenn mit Statinen allein keine ausreichende Senkung der LDL-C-Spiegel erreicht werden kann. Bei Statinunverträglichkeit können die PCSK9-Inhibitoren gegebenenfalls als Monotherapie angewendet werden (2).
MERKSÄTZE
O Das Enzym PCSK9 reguliert die Anzahl der LDL-Rezeptoren auf der Oberfläche von Leberzellen.
O Die monoklonalen Antikörper Alirocumab und Evolocumab blockieren den LDL-Rezeptor-Regulator PCSK9.
O Inclisiran unterbindet über eine DNAInterferenz die Synthese von PCSK9.
O Alirocumab und Evolocumab müssen 1- bis 2-mal im Monat appliziert werden.
O Bei Inclisiran ist eine Applikation im Abstand von 3 bis 6 Monaten ausreichend.
Inclisiran
verhindert PCSK9-Synthese
Als neue Alternative zur Senkung der PCSK9- und der LDL-C-Serumspiegel stehen jetzt auch siRNA-(«small interfering RNA»-)Moleküle zur Verfügung. Die Wirkungsweise der siRNA basiert auf dem natürlichen Mechanismus der RNA-Interferenz (RNAi). Das siRNA zerstört über eine Bindung an RISC (RNA-induced silencing complex) die Messenger-RNA (mRNA), welche das Protein PCSK9 kodiert, und verhindert so die PCSK9-Synthese (1, 2). Bei dem Oligonukleotid Inclisiran handelt es sich um ein synthetisch hergestelltes siRNA, das an ein triantennäres N-Acetylgalaktosamin (GalNac) gekop-
pelt ist. Dieses komplexe Zuckermolekül bindet an den Asialoglykoproteinrezeptor der Hepatozyten, sodass Inclisiran gezielt in die Leberzellen eingeschleust wird (1, 2)
Phase-I-Studie
In einer Phase-I-Studie evaluierten Kevin Fitzgerald, Angestellter des Herstellers Alnylam Pharmaceuticals in Cambridge (USA), und seine Arbeitsgruppe die Sicherheit, das Nebenwirkungsprofil und die pharmakologischen Effekte von Inclisiran. An der Studie nahmen 69 gesunde Probanden teil, die einen LDL-C-Wert von mindestens 100 mg/dl aufwiesen. Eine kleine Anzahl von ihnen wurde gleichzeitig mit Statinen behandelt. Im Rahmen der Studie erhielten die Teilnehmer randomisiert im Verhältnis 3:1 Inclisiran oder Plazebo in Einzeldosen von 25 mg, 100 mg, 300 mg, 500 mg und 800 mg oder in Mehrfachdosen von 125 mg wöchentlich (4 Wochen), 250 mg alle zwei Wochen (4 Wochen), 300 mg monatlich (2 Monate, mit oder ohne Statin) und 500 mg monatlich (2 Monate, mit oder ohne Statin). Die häufigsten unerwünschten Wirkungen waren Husten, muskuloskeletale Schmerzen, Nasopharyngitis, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und Diarrhö. Alle Nebenwirkungen waren leichter oder mittelschwerer Natur. Bei 1 Teilnehmer kam es unter Inclisiran (500 mg) und Atorvastatin (Sortis® und Generika; 40 mg/Tag) zu erhöhten Gammaglutamyltransferase- (Grad 3) und Alanintransferasewerten (Grad 2). Nach Abbruch der Statintherapie normalisierten sich die Werte, stiegen jedoch bei erneutem Beginn mit Atorvastatin (20 mg) wieder an. Die Erhöhung der Transferasewerte war somit vermutlich auf die Statintherapie zurückzuführen (1).
Langfristige PCSK9-Senkung
mit einer Applikation
Am Tag 84 waren Einzeldosen ab 300 mg mit signifikanten Reduktionen der PCSK9-Serumspiegel von bis zu 74,5 Prozent im Vergleich zum Ausgangswert verbunden. Bei Einzeldosen von 25 mg und 100 mg waren bis zum Tag 180 wieder die PCSK9-Ausgangswerte erreicht. Bei Inclisiran-Einzeldosen ab 300 mg hielt die PCSK9-Senkung bis zum Tag 180 an.
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STUDIE REFERIERT
Alle Mehrfachdosen waren am Tag 84 mit einer signifikanten Reduktion der PCSK9- Serumspiegel von 71,8 Prozent bis 83,8 Prozent im Vergleich zu den Ausgangwerten verbunden. Die Reduktion der PCSK9-Werte blieb nach der ersten Applikation bis Tag 196 annähernd konstant erhalten (1).
Langfristige Cholesterinsenkung
mit einer Applikation
Bei Inclisiran-Einzeldosen ab 100 mg sanken die LDL-C-Serumwerte bis zum Tag 84 um bis zu 50,6 Prozent im Vergleich zum Ausgangswert. Bei Dosierungen von 25 mg und 100 mg waren nach 180 Tagen wieder die Ausgangswerte erreicht. Bei Inclisiran-Dosierungen ab 300 mg blieb die Cholesterinsenkung mindestens bis zum Tag 180 konstant. Unter allen Mehrfachdosen (bis auf Personen, die 125 mg wöchentlich über 4 Wochen erhielten) wurde eine signifikante Reduzierung des LDL-C-Werts von bis zu 59,7 Prozent im Vergleich zum Ausgangswert beobachtet. Die Reduktion der LDL-C-Serumwerte blieb unter allen Mehrfachdosen bis zum Tag 196 erhalten.
Einzel- oder Mehrfachdosen ab 250 mg waren zusätzlich mit einer signifikanten Senkung von Gesamtcholesterin, NichtHDL-(«High-density lipoprotein»-)C und Apolipoprotein B im Vergleich zu den jeweiligen Ausgangswerten verbunden (1).
Diskussion
In dieser Phase-I-Studie war die Grössenordnung der LDL-C-Senkung unter Inclisiran mit der von PCSK9-Antikörpern oder einer intensiven Statintherapie vergleichbar. Inclisiran und PCSK9Antikörper unterscheiden sich jedoch in ihren Mechanismen. Während Alirocumab und Evolocumab an extrazelluläres PCSK9 aus allen Geweben binden, verhindert Inclisiran spezifisch die PCSK9-Synthese in der Leber. Die pharmakodynamischen Profile beider Medikamentenklassen weisen ebenfalls Unterschiede auf. Die Ergebnisse der Phase-I-Studie weisen darauf hin, dass mit Inclisiran bei einer Applikation im Abstand von 3 bis 6 Monaten ein effektives Management der Hypercholesterinämie erreicht werden kann. Die PCSK9-Antikörper müssen dagegen aufgrund ihrer kürzeren Halb-
wertszeit alle 2 bis 4 Wochen appliziert werden. Als Limitationen ihrer Studie werten die Autoren die einseitige Verblindung und die geringe Teilnehmerzahl. Zudem wiesen die Probenden ausser LDLC-Werten ≥ 100 mg/dl relativ normale Lipidprofile auf. Die Ergebnisse der Phase-I-Studie sollten daher vorsichtig interpretiert werden und müssen noch durch grössere klinische Studien mit längerem Follow-up bestätigt werden. Wirksamkeit und Sicherheit von Inclisiran werden derzeit in der Phase-IIStudie ORION weiter evaluiert (1). O
Petra Stölting
Quellen: 1. Fitzgerald K et al.: A highly durable RNAi therapeutic
inhibitor of PCSK9. N Engl J Med 2017; 376(1): 41–51. 2. Khvoroa A: Oligonucleotide therapeutics – a new class
of cholesterol-lowering drugs. N Engl J Med 2017; 376(1): 4–7.
Interessenlage: 1) Die referierte Studie wurde vom Inclisiran-Hersteller Alnylam Pharmaceuticals finanziert. 7 der 15 Autoren sind bei diesem Unternehmen angestellt. 5 weitere Autoren haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten. 2) Hier sind keine Angaben zu Interessenkonflikten vorhanden.
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