Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Rosenbergstrasse
Vor vielen Jahren warb unsere Schweizer «Chemie» mit dem Slogan: «Chemie ist nicht alles, aber alles ist Chemie». Ebenso könnte unsere Gesundheitsindustrie werben mit: «Gesundheit ist nicht alles (Wirklich nicht? Fragen Sie mal uns Ältere!), aber alles ist Gesundheit». Stimmt irgendwie, denn jede gesellschaftliche oder politische Entwicklung hat Auswirkungen. Wenn nicht auf unser körperliches, dann aufs psychische Befinden. Kurios wird’s, wenn wir gesundheitsschädigende Gewohnheiten und Produkte eliminieren und im Gegenzug gesundheitsfördernde Massnahmen verordnen und uns genau diese ach so heilvolle, manchmal gut gemeinte, manchmal nur sektiererische und nicht selten schlicht ökonomisch orientierte Gesundheitspolitik dann doch «krank» macht, zumindest im Gemüt.
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Haben wir richtig gehört? Der Döschwo (Citroën 2CV, in Deutschland «Ente») darf aus Umweltschutzgründen nur noch mit Extragenehmigung durch Paris kurven? Ils sont fous les Français, oder nicht? Und in Riom schliesst die Zigarettenfabrik, in der die Gauloises produziert werden. Gauloises wird es zwar noch geben, aber «made in Poland». Andererseits, egal ob Gitanes oder Gauloises, die Zigarettenschachteln werden in Frankreich ohnehin bald nicht mehr zu unterscheiden sein. Nur markenlos, lecker illustriert mit Gruselfotos, wird man sie noch erhalten. Doch keine Bange, Freunde aus den späten Sechzigern, jede Prohibition, und sei sie noch so triefend moralisch oder kernig gesund, findet eines Tages ihr Ende. Humphrey Bogart, Jean Gabin, Jean-Paul Belmondo, Alain Delon mit Zigarette sind unvergänglich, Winnetou mit E-Peacepipe vor partikelgefiltertem Lagerfeuer – wäre eine Witzfigur.
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Eine der dümmsten Gewohnheiten ist das Gejammer über «postfaktische» Zeiten. Also über den Ersatz von Wahrheiten durch Lügen (oder was Andersdenkende
zu Lügen erklären). Wurde früher weniger gelogen? Natürlich nicht! Was die Jammerer vergessen: Demokratie lebt nicht von der einen Wahrheit, sondern vom Wettstreit verschiedener Wahrheiten. «Statt um Fakten geht es um Deutungen», sagt der Philosoph Alexander Grau. Wer behauptet, es gebe nur eine Wahrheit, meint immer seine eigene – und nur die. Das ist in einer Diktatur so, und dort bekanntermassen schlecht für Andersdenkende. In einer Demokratie hingegen muss man für seine Wahrheit, die objektiv gesehen immer (bis tief in die Mathematik hinein, Stichwort «Statistiken») nur eine Meinung ist, mit Worten kämpfen, andere überreden oder überzeugen. Und am Ende gewinnt – man mag das bedauern – nicht das Wahrere, sondern die bessere Rhetorik, mit der man zwar Ängste verstärken, Teilwahrheiten aufplustern, empathisch punkten, Gierige ködern oder Gleichgültige einlullen kann – aber immer auch das Gegenteil. «Faktische» Zeiten gab es noch nie. Der Vorwurf des «Postfaktizismus» ist denn auch nicht mehr als ein rhetorischer Kniff der selbstdeklariert Guten gegen die angeblich Fehlgeleiteten. Demokratie ist, wenn schon, dann (so der Philosoph) «kontrafaktisch». Gäbe es eindeutige Fakten, gäbe es nichts zu diskutieren. Moralisch und ideologisch zurechtgebogene Wahrheiten hingegen sind diskutabel. Die Demokratie lebt genau davon. Manchmal gewinnt man und freut sich, manchmal verliert man und ärgert sich. Wer das verhindern oder gar keine abweichenden Ansichten will, braucht ein Wahrheitsministerium. Das gibt’s im Orwell’schen Big-Brother-Staat von «1984». Aber hoffentlich nicht so bald in Europa. Obschon, einige Liebhaber hat die Idee. Bei ihnen heisst alles, was stört, «Hetze».
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Niemand wird gerne geranked (oder gerankt?), es sei denn, besser als alle andern. Rankings sind problematisch. Das wissen oder ahnen alle. Aber Rankings sind für einige halt ein Geschäft oder eine Marketingmassnahme. Und so wird vorderhand weiter geranked. Fachleute ranken
die Spitäler nach Infektionshäufigkeit (was dazu führt, dass Spitalstatistiken kreativ modifiziert werden), Patienten ranken ihre Ärzte – zum Glück sehr viel seltener als nötig wäre für vernünftige Vergleiche. In den USA, wo Rankings schon viel länger üblich sind, ist der Boom übrigens wieder am Abklingen. Vielleicht weil die Patienten gemerkt haben, dass Vergleiche nur gerecht, sinnvoll und nützlich sein können, wenn sie nach objektiv vergleichbaren Kriterien erfolgen. Und erkannt haben, dass das unmöglich ist.
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Die alten Hausärzte wissen es längst, ihre Patienten ebenso: Wer immer vom selben Hausarzt betreut wird, landet seltener im Spital. Nun ist sogar eine wissenschaftliche Untersuchung zum gleichen Schluss gekommen – und dann wird’s ja wohl stimmen (s. BMJ, Februar 2017). Also: Besser und kostengünstiger wird die medizinische Grundversorgung durch den «alten» (nicht an Jahren, aber traditionell, z.B. Vollzeit[!] arbeitenden) Hausarzt – nicht durch mehr Polikliniken, Walk-in-Praxen oder Gesundheitszentren mit schnell wechselndem ärztlichem Personal. Das passt manchem Gesundheitspolitiker und manchem und mancher work-life-balance-bewussten Mediziner(in) nicht ins ideologische beziehungsweise ins Lebenskonzept. Ist aber so. Und nicht mal der ordinärste Zeitgeist schleckt das weg.
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Auswertungen im Rahmen der ZikaVirus-Epidemie ergaben ein erschreckendes, jedoch nicht erstaunliches Ergebnis: Mitteilungen der WHO wurden auf Facebook etwa zehnmal seltener angeklickt als irreführende Posts aus dubiosen Quellen. Und vermutlich auch zehnmal weniger geglaubt. Warum? Gute Frage! Traut man offiziellen Stellen (politisch: den Eliten) nicht (mehr)? Besteht ein Bedürfnis nach alternativen Erklärungen («alternativen Fakten»)?
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Und das meint Walti: Lieber an der Quelle sitzen, als vor 'ner Mündung stehn.
Richard Altorfer
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ARS MEDICI 5 I 2017