Transkript
BERICHT
Vier Studien mit Auswirkungen auf die Praxis
Körperliche Untersuchung nicht vernachlässigen!
Am SGAIM Great Update für Grundversorger präsentierte Prof. Dr. Stefano Bassetti, Chefarzt Innere Medizin am Universitätsspital Basel, vier Studien, die Auswirkungen auf die tägliche Praxis haben sollten. Dabei ging es ihm nicht nur um therapeutische, sondern auch um diagnostische Aspekte.
Christine Mücke
Zum Auftakt widmete sich der Experte einem häufigen Problem der täglichen Praxis: der Hypertonie. Laut der Swiss Society of Hypertension soll der Blutdruck generell unter 140/90 mmHg und bei Diabetikern sowie bei Nierenpatienten unter 140/85 mmHg gesenkt werden. Viel von sich reden machte im letzten Jahr die SPRINT-Studie, deren Ergebnisse diese Empfehlungen infrage stellten (1). Die Studienautoren hatten
gere Werte ergebe als diejenigen, die in Europa üblich seien, so Bassetti. Zudem haben Erkenntnisse zum nützlichen Ausmass einer Blutdrucksenkung aus der grossen internationalen Kohortenstudie CLARIFY die Aussage der SPRINT-Studie wieder relativiert (2). Bei über 22 000 Patienten mit stabiler Koronarerkrankung wurde in der CLARIFY-Studie über 5 Jahre hinweg der Zusammenhang zwischen der Höhe
Auch nach der SPRINT-Studie gelten die bestehenden Empfehlungen zur Blutdrucksenkung weiter.
bei über 9000 Patienten mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko eine Standardblutdruckeinstellung (systolischer Wert < 140 mmHg) einer intensivierten Einstellung (systolischer Wert < 120 mmHg) gegenübergestellt und dabei einen Vorteil für die intensivierte Option gefunden. Dadurch konnte das relative Risiko für eines der Ereignisse, die im primären Endpunkt zusammengefasst wurden (Myokardinfarkt, akutes Koronarsyndrom, Schlaganfall, Herzinsuffizienz sowie kardiovaskulär bedingter Tod), um 25 Prozent gesenkt werden. Blutdruckeinstellung: Ist tiefer wirklich besser? Bei dieser Studie gelte es jedoch zu bedenken, dass die dabei verwendete automatisierte Blutdruckmessung niedri- des Blutdrucks und dem Eintreten kardiovaskulärer Ereignisse verfolgt; dabei wurde der Blutdruck wie üblich nach fünf Minuten Ruhe im Sitzen gemessen. Die Auswertung der Studie zeigte eine J-Kurve für den zusammengesetzten primären Endpunkt aus kardiovaskulärem Tod, Myokardinfarkt und Schlaganfall sowohl beim systolischen als auch beim diastolischen Wert. Damit bestätigte sie ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko bei einem Blutdruck ≥ 140/80 mmgHg sowie bei Blutdruckwerten ≤120/70 mmHg. Bei Patienten älter als 75 Jahre galten erhöhte Risiken ab Werten von ≥ 150 mmHg systolisch respektive ≤ 60 mmHg diastolisch. Die Autoren halten fest, dass nach Jahrzehnten von Studien zur Hypertonie mit der CLARIFY-Studie der Nutzen einer Senkung unter 140 mmHg bestätigt werden konnte, der Wert einer Senkung unter 130 mmHg jedoch fraglich bleibe. Das Fazit von Bassetti: Bei der Beurteilung von Blutdruckwerten ist es wichtig, die Messmethode zu bedenken. Die Werte bei einer automatisierten Erhebung können um 5 bis 16 mmHg niedriger ausfallen als bei einer herkömmlichen; sie ähneln möglicherweise eher den Werten einer 24-Stunden-Messung. Auch nach der SPRINT-Studie gelten die bestehenden Empfehlungen zur Blutdrucksenkung weiter, allerdings müsse man die potenziellen Auswirkungen zu niedriger Werte (J-Kurve) bei der Blutdruckeinstellung ebenfalls berücksichtigen. Wie weiter bei therapieresistenter Hypertonie? Zur Frage, was bei therapieresistentem Bluthochdruck zu tun sei, zitierte Bassetti die PATHWAY-Studie und deren positive Resultate unter Einsatz von Spironolacton als viertem Medikament (3). Allerdings gelte es, immer zuvor zu verifizieren, ob tatsächlich ein resistenter Hochdruck oder nicht vielmehr eine schlechte Compliance vorliege. Ist Letzteres ausgeschlossen und die Suche nach Ursachen einer sekundären Hypertonie erfolgt, konnten mit der Gabe von 25 bis 50 mg Spironolacton oftmals Erfolge erzielt werden. Die Autoren diskutierten als Erklärung die These, dass Natriumretention eine häufige Ursache resistenter Hypertonien sei. Bassetti betonte in seinem Fazit, dass für Patienten, deren Blutdruck mit RAAS-Blocker, Kalziumantagonist plus Diuretikum ungenügend eingestellt sei, Spironolacton vor Beta- und Alpha-1Blockern eingesetzt werden sollte, sofern die geschätzte GFR ≥ 45 ml/min betrage. Zudem sollten Kreatinin und Kalzium überprüft werden. 102 ARS MEDICI 3 I 2017 BERICHT Kasten: Folgen inadäquater körperlicher Untersuchungen O 76 Prozent verpasste oder verzögerte Diagnosen O 42 Prozent ohne oder verzögerte Behandlung O 27 Prozent falsche Diagnosen O 25 Prozent unnötige diagnostische Kosten O 18 Prozent überflüssige Behandlungen O 17 Prozent überflüssige Strahlen-/ Kontrastmittelexposition O 4 Prozent behandlungsbedingte Kompli- kationen Quelle: nach Verghese (5) Wann nach venösen Thromboembolien ein Screening einleiten? Das angemessene Vorgehen nach dem Auftreten einer venösen Thromboembolie (VTE) ohne erkennbare Ursache ist noch immer Gegenstand von Diskussionen, denn im Jahr nach einem solchen Ereignis liegt die Inzidenz bislang nicht diagnostizierter Karzinome Gefahr falschpositiver Befunde und damit einhergehender weiterer Untersuchungen. Der Experte empfahl kein erweitertes Screening (Abdomen-/ Becken-CT), insbesondere nicht bei einer ersten idiopathischen Embolie. Hingegen sollte das Screening folgende Massnahmen umfassen: Anamnese, körperliche Untersuchung, Basislabor, Thoraxröntgen sowie die alters- und geschlechtsspezifischen Massnahmen inklusive des Screenings auf kolorektale Karzinome. Ein umfangreicheres Screening sollte für Patienten mit hohem Risiko in Betracht gezogen werden, wie etwa Raucher, Patienten mit vorheriger VTE ohne erkennbare Ursache oder Alter ≥ 60 Jahre. An die körperliche Untersuchung denken Seit Langem hält die Technik mehr und mehr Einzug in die ärztliche Arbeit und bietet hervorragende diagnostische Möglichkeiten, wenn man etwa an die moderne Bildgebung denkt. Aber sie frisst auch Zeit. So zeigen Daten aus Amerika, dass Assistenzärzte in der inneren Medizin nur mehr 12 Prozent ihrer Zeit mit Patienten verbringen, Die mangelnde Durchführung körperlicher Untersuchungen ist eine wichtige Ursache medizinischer Fehler. zwischen 6 und 15 Prozent. Hilft ein Screening, diese früher zu entdecken? Und wie umfangreich sollte gesucht werden? Dieser Frage widmeten sich Robin et al. in einer in «Lancet Oncology» publizierten Studie (4). Sie verglichen bei 394 Patienten mit nicht provozierter VTE limitiertes Screening (n = 197; Anamnese, körperliche Untersuchung, Routinelabor, Thoraxröntgen und alters- sowie geschlechtsspezifische Abklärungen wie PSA bei Männern oder Mammografie bei Frauen > 50 Jahre) mit limitiertem Screening plus PET-CT hinsichtlich einer Krebsdiagnose zum Zeitpunkt der VTE oder im 2-jährigen Follow-up. Die Ergebnisse dieser und früherer Untersuchungen brachten Bassetti zu folgendem Fazit: Ein PET-CT-Screening ist in diesem Setting nicht zu empfehlen. Es konnte kein Überlebensvorteil gezeigt werden, und es bestehe die
aber mehr als dreimal so viel mit dem Computer (40%). Das sei zwar in der eigenen Abteilung noch nicht ganz so ausgeprägt, aber diese Tendenzen finde man auch in der Schweiz, merkte Bassetti an. Gleichzeitig hat eine im «American Journal of Medicine» publizierte Untersuchung die mangelnde Durchführung körperlicher Untersuchungen als wichtige Ursache medizinischer Fehler erkannt, «und das sollten wir uns wieder einmal in Erinnerung rufen – und vor allem auch den jungen Kollegen vorleben», so mahnte der Experte (siehe Kasten) (5). Übersehene Befunde waren in fast zwei Drittel der Fälle darauf zurückzuführen, dass gar keine körperliche Untersuchung erfolgt war, nur in 14 respektive 11 Prozent der Fälle wurde etwas fehlinterpretiert oder übersehen. Zu den am häufigsten übersehenen Befunden zählten in der Studie abdominelle Organvergrösserungen,
Hautbefunde, neurologische Verände-
rungen, Herzgeräusche, Hernien, Wun-
den und Ulzerationen.
Das Fazit Bassettis zu diesem Thema
war eindrücklich: Die sorgfältige kör-
perliche Untersuchung kostet wenig
und hilft doch, die Mehrheit übersehe-
ner Befunde zu vermeiden – allein,
indem man sie durchführt! Und dabei
sollte die Haut auch an den Stellen in-
spiziert werden, an denen sie üblicher-
weise bedeckt ist.
O
Christine Mücke
Quelle: Hauptvortrag «4 Studien, welche die klinische Praxis verändern», 6. SGAIM Great Update, 2. Dezember 2016 in Interlaken.
Referenzen: 1. The SPRINT Research Group: A randomized trial of
intensive versus standard blood-pressure control. N Engl J Med 2015; 373: 2103–2116. 2. Vidal Petiot E et al.: Cardiovascular event rates and mortality according to achieved systolic and diastolic blood pressure in patients with stable coronary artery disease: an international cohort study. Lancet 2016; 388: 2142–2152. 3. Williams B et al.: Spironolactone versus placebo, bisoprolol, and doxazosin to determine the optimal treatment for drug-resistant hypertension (PATHWAY-2): a randomised, double-blind, crossover trial. Lancet 2015; 386: 2059–2068. 4. Robin P et al.: Limited screening with versus without (18)F-fluorodeoxyglucose PET/CT for occult malignancy in unprovoked venous thromboembolism: an open-label randomised controlled trial. Lancet Oncol 2016; 17: 193–199. 5. Verghese A et al.: Inadequacies of physical examinations as a cause of medical errors and adverse events: A collection of vignettes. Am J Med 2015; 128(12): 1322–1324.
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