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FORTBILDUNG
Schaden Kalziumsupplemente Herz und Gefässen?
Bei unzureichender Aufnahme von Kalzium aus der Nahrung werden Supplemente zum Erhalt der Knochengesundheit empfohlen. Ob die Kalziumsupplementation den Gefässen nützt oder schadet, wird kontrovers diskutiert. In einem aktualisierten Evidenzbericht kamen Experten jetzt zu dem Ergebnis, dass Kalzium aus der Nahrung oder aus Supplementen das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen nicht beeinflusst. Eine Kalziumaufnahme bis zur maximal verträglichen Tagesdosis von 2000 bis 2500 mg kann daher auch im Hinblick auf das kardiovaskuläre Risiko als unbedenklich gelten.
ESC E-Journal of Cardiology Practice
Kalzium ist das am häufigsten vorkommende Mineral im Körper. Etwa 99 Prozent davon befinden sich in den Knochen und in den Zähnen. Kalzium spielt aber auch eine Rolle bei der Gefässkontraktion und -dilatation sowie im Rahmen der Muskelfunktion, der Nerventransmission, der intrazellulären Signalübertragung und der Hormonsekretion (2). Für Personen, die nicht genügend Kalzium mit der Nahrung aufnehmen, werden Supplemente zur Prävention von Osteoporose und daraus resultierenden Frakturen empfohlen. Dabei ergibt sich die Frage, ob und in welcher Weise eine Kalziumsupplementation auch die Gefässgesundheit beeinflusst (1).
MERKSÄTZE
O Kalzium aus der Nahrung oder aus Supplementen hat keinen Einfluss auf das kardiovaskuläre Risiko.
O Die meisten Menschen nehmen ausreichend Kalzium mit der Nahrung zu sich.
O Eine Supplementation sollte nur das Defizit ausgleichen.
O Die Aufnahme von mehr als der empfohlenen Kalziummenge ist nicht mit besseren Ergebnissen bezüglich der kardiovaskulären Gesundheit oder der Knochengesundheit verbunden.
O Neben der Kalziumzufuhr ist auf eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung zu achten.
Die US Agency for Healthcare Research and Quality (AHRQ), Evidence-based Practice Health Center at Tufts University, veröffentlichte im Jahr 2009 einen Evidenzbericht zu den Effekten von Vitamin D und Kalzium bezüglich verschiedener gesundheitlicher Endpunkte. Dazu gehörte auch das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen. Seitdem wurde in manchen Studien ein kardiovaskulärer Nutzen im Zusammenhang mit Kalziumsupplementen beobachtet, in anderen zeigten sich schädigende Effekte. Aufgrund der widersprüchlichen Datenlage veranlasste die National Osteoporosis Foundation (NOF) eine Aktualisierung des Evidenzberichts im Hinblick auf kardiovaskuläre Erkrankungen und andere kardiovaskuläre Endpunkte. Anhand des aktualisierten Berichts erarbeitete ein Expertenteam der NOF und der American Society for Preventive Cardiology (ASPC) eine Leitlinie mit evidenzbasierten Empfehlungen zu Nutzen und Risiken einer Kalziumaufnahme aus der Nahrung oder aus Supplementen bei allgemein gesunden Erwachsenen (1).
Kalzium beeinflusst nicht das kardiovaskuläre Risiko
Die Experten gelangten zu dem Ergebnis, dass Kalzium – mit oder ohne Vitamin D – aus der Nahrung oder aus Supplementen weder in einem positiven noch in einem negativen Zusammenhang mit dem Risiko für kardiovaskuläre/zerebrovaskuläre Erkrankungen oder der kardiovaskulären Mortalität steht und auch die Gesamtsterblichkeit nicht beeinflusst. Eine Kalziumaufnahme bis zur maximal verträglichen Tagesdosis von 2000 bis 2500 mg (entsprechend der Definition der National Academy of Medicine) kann daher auch im Hinblick auf das kardiovaskuläre Risiko als unbedenklich gelten. Ergänzend weisen die Experten darauf hin, dass bis anhin kein biologischer Mechanismus bekannt ist, der auf eine Verbindung zwischen Kalzium und kardiovaskulären Erkrankungen schliessen lässt. Die Leitlinienexperten raten zu einer bevorzugten Kalziumaufnahme aus Lebensmitteln. Bei unzureichender Aufnahme aus der Nahrung können Supplemente zum Ausgleich des Defizits gegeben werden. Eine bereits begonnene Supplementation muss nicht aus Sicherheitsgründen abgebrochen werden (1).
Kalzium aus der Nahrung meist ausreichend
In einem Kommentar im Editorial weisen Karen Margolis vom HealthPartners Institute in Minneapolis (USA) und JoAnn Manson von der Harvard Medical School in Boston (USA) ebenfalls darauf hin, dass eine Kalziumsupplementation
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zwar nicht mit kardiovaskulären Risiken verbunden ist, die Aufnahme von Kalzium aus der Nahrung jedoch aus anderen Gründen bevorzugt werden sollte. So können Kalziumsupplemente das Risiko für Nierensteinbildung erhöhen, während Kalzium aus der Nahrung das Risiko für die Entwicklung von Nierensteinen senkt (2). Des Weiteren berichten die Kommentatoren über die Ergebnisse von Untersuchungen des US-amerikanischen Institute of Medicine (IOM) zum täglichen Bedarf an Kalzium und Vitamin D. Zum Erhalt der Knochengesundheit empfiehlt das IOM für Männer zwischen 19 und 50 Jahren eine tägliche Zufuhr von 1000 mg Kalzium. Frauen über 50 Jahre und Männer über 70 Jahre sollten täglich 1200 mg Kalzium zu sich nehmen. Eine höhere Kalziumzufuhr resultiert nicht in einer besseren Knochengesundheit oder anderen gesundheitlichen Vorteilen. Die durchschnittliche tägliche Kalziumaufnahme beträgt bei Erwachsenen in den USA 700–1000 mg/Tag. Diese Menge wird bereits durch den Verzehr von 2 bis 3 Portionen kalziumreicher Nahrungsmittel wie Milch, Joghurt, Käse, Tofu oder grünes Blattgemüse erreicht. Somit können die meisten Menschen genügend Kalzium mit der normalen Ernährung zu sich nehmen. Bei unzureichender Aufnahme werden Sup-
plemente empfohlen. In den allermeisten Fällen sind dazu jedoch nicht mehr als 500 mg Kalzium pro Tag erforderlich. Neben der Kalziumaufnahme ist auf eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung zu achten. In den USA werden 600 Internationale Einheiten (IE) für Erwachsene bis zu einem Alter von 70 Jahren und 800 IE für Personen ab 70 Jahren empfohlen (2). Die Schweizer Vereinigung gegen Osteoporose (SVGO) empfiehlt für eine optimale Knochengesundheit eine Kalziumzufuhr von 1000 mg pro Tag aus Ernährung und/oder Nahrungsergänzung in Kombination mit ≥ 800 IE Vitamin D. O
Petra Stölting
Quellen: 1. Kopecky SL et al.: Lack of evidence linking calcium with or without vitamin D supple-
mentation to cardiovascular disease in generally healthy adults: a clinical guideline from the National Osteoporosis Foundation and the American Society for Preventive Cardiology. Ann Int Med 2016; 165(12): 867–868. 2. Margolis KL, Manson JE: Calcium supplements and cardiovascular disease risk: What do clinicians and patients need to know? Ann Int Med 2016; 165(12): 884–885.
Interessenlage: 1) 3 der 9 Autoren der referierten Studie haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten. 2) Einer der beiden Kommentatoren hat Gelder von den National Institutes of Health (NIH)/National Heart, Lung, and Blood Institute (NHLBI) erhalten.
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