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INTERVIEW
INTERVIEW
Mangelernährung in der hausärztlichen Praxis
Frühzeitig erkennen und (be)handeln
Wenn sich ein Patient mangelhaft ernährt, wird dies von Ärzten oftmals nicht erkannt. Einfache und standardisierte Screeningtests sind in der Praxis sehr hilfreich, denn mangelernährte Patienten sind ein relevantes Problem: Sowohl Mortalität als auch Morbidität steigen an, die Lebensqualität nimmt ab. Umso wichtiger ist es, eine adäquate Ernährungstherapie ohne Zeitverlust aufnehmen zu können. Wir sprachen darüber mit der Ernährungsberaterin Sylvia Huber.
Zur Person
Sylvia Huber, BSc Ernährung und Diätetik, Ernährungsberaterin SVDE, Praevcare GmbH
ARS MEDICI: Frau Huber, wie gross ist das Problem der Mangelernährung in der Schweiz? Sylvia Huber: Trotz eines Überflusses an Nahrungsmitteln ist die Mangelernährung tatsächlich ein immenses Problem. Studien zeigen, dass 20 bis 60 Prozent aller internistischen und chirurgischen Patienten im Spital mangelernährt sind. Eine eigene Erhebung mit einem Ernährungsscreening bei 362 Bewohnern in sechs Alters- und Pflegeheimen in der Ostschweiz zeigt, dass zwei Drittel einen Ernährungsmangel oder ein Risiko für Mangelernährung aufweisen. Weitere wissenschaftliche Daten zeigen ähnliche Resultate. Mangelernährung ist somit ein alltägliches und grosses Problem, und besonders zu beachten ist, dass die Wahrscheinlichkeit einer Mangelernährung mit zunehmendem Lebensalter und den damit einhergehenden Erkrankungen steigt.
ARS MEDICI: Was ist Mangelernährung überhaupt? Huber: Mangelernährung umfasst eine zu geringe Zufuhr von Nahrung und Nahrungsbestandteilen wie Eiweiss, Fett und Kohlenhydraten sowie Vitaminen und Mineralstoffen. Dies führt im weiteren Verlauf zu einer Abnahme der Körperfunktionen und erhöht sowohl die Morbidität als auch die Mortalität. Daten zeigen, dass sich die durchschnittliche Verweildauer im Spital durch Mangelernährung um 4,9 Tage verlängert, dies als Folge von Komplikationen wie Infektionen und/ oder einer schlechteren Wundheilung und so weiter. Die neuen ESPEN-Guidelines*, welche sich gerade im Druck befinden, bringen Klarheit betreffend Ernährungsstörungen und ernährungsbedingten Erkrankungen sowie in Bezug auf die grundlegende Definition der Unterernährung und ihrer entsprechenden Ursachen.
* ESPEN: European Society for Clinical Nutrition and Metabolism; Cederholm T et al.: ESPEN guidelines on definitions and terminology of clinical nutrition. Clinical Nutrition 2016, in press; http://dx.doi.org/ 10.1016/j.clnu.2016.09.004
ARS MEDICI: Wer ist davon am häufigsten betroffen? Huber: Prädestiniert sind Menschen mit chronischen Erkrankungen, wie beispielsweise einer zystischen Fibrose oder einer Tumorerkrankung, und ältere Menschen. Man kann aber nicht mit blossem Auge auf eine Mangelernährung schliessen! Auch übergewichtige Menschen können mangelernährt sein. Bereits ab dem 30. Lebensjahr nimmt der Muskelaufbau kontinuierlich ab. Dadurch verändert sich der Energiebedarf. Deshalb gilt es, insbesondere im Alter, weniger Kalorien zu sich zu nehmen und Nahrungsmittel mit einer hohen Qualität zu bevorzugen, wie zum Beispiel besonders eiweiss- beziehungsweise vitamin- und mineralstoffreiche Lebensmittel. Da ältere Menschen häufig Schluckbeschwerden oder Zahnprobleme haben, führt dies jedoch dazu, dass oft nur wenig bis gar kein Fleisch gegessen wird.
«Gewichtsverlust ist ein wichtiges Alarmsignal.»
ARS MEDICI: Wie kann man die Eiweisszufuhr verbessern? Huber: Die Nahrungsempfehlungen lauten, dass gesunde ältere Personen 1 bis 1,2 g Protein pro Kilogramm Körpergewicht zuführen sollen. In der Adoleszenz sind es 0,8 g pro Kilogramm Körpergewicht. Wichtig ist, dass die Proteinzufuhr nicht einmal am Tag erfolgt, sondern über mehrere Mahlzeiten verteilt. Optimalerweise werden zu jeder Hauptmahlzeit rund 25 bis 30 g hochwertiges Eiweiss verzehrt und zusätzlich proteinreiche Zwischenmahlzeiten wie Käsehäppchen oder Proteinshakes angeboten. Einen noch besseren Effekt hat die Eiweisszufuhr, wenn man sich vorher oder
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nachher bewegt. Dann ist der Körper darauf aus, Muskulatur aufzubauen. Die Spitex oder die private Betreuung sollte diesbezüglich geschult werden. Auch ist es sehr aufschlussreich, bei Hausbesuchen einmal in den Kühlschrank zu schauen. Dieser gibt gut Aufkunft darüber, wie es um die Ernährung steht. Genauso gehört es für mich bei der Abklärung dazu, eine Sozial- und Ernährungsanamnese durchzuführen. Dadurch kommt man möglichen Ursachen einer Mangelernährung auf die Schliche. Ist jemand beispielsweise einsam und isst deshalb wenig – Essen ist ein sozialer Faktor –, oder kann sich jemand nicht gut bewegen und dadurch die Nahrungsmittel nicht selbstständig einkaufen? In solchen Fällen muss dringend nach einer Betreuungslösung gesucht werden.
ARS MEDICI: Gibt es Schlüsselfragen oder einfache Screeningmethoden, die Hausärzten Hinweise auf eine mögliche Mangelernährung geben? Huber: Der Gewichtsverlust ist ein wichtiges Alarmsignal. Da gilt es nachzufragen. Ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust von mehr als 5 Prozent innerhalb von 3 Monaten oder vonmehr als 10 Prozent über 6 Monate ist ein klares Indiz und ein deutliches Zeichen für eine Mangelernährung. Als einfache Screeningmethode für ältere Personen dient der Fragebogen Mini Nutritional Assessment Short Form, abgekürzt MNA®-SF, mit insgesamt sechs Fragen. Dieser rund zweiminütige Test sollte bei allen geriatrischen Patienten durchgeführt werden. Für das allgemeine ambulante Setting in der Betreuung von Erwachsenen wird das Malnutrition Universal Screening Tool, abgekürzt MUST, von der ESPEN emp-
fohlen. MUST fragt nach dem Body-Mass-Index, einem möglichen Gewichtsverlust und nach akuten Erkrankungen. Über die generierte Punktezahl erfolgt die Einstufung. Ab einem Punkt ist der Verlauf zu beobachten, ab zwei Punkten sollte unverzüglich die Überweisung an eine Ernährungsberatung erfolgen. Diese Tests können übrigens auch mehrheitlich von medizinischen Praxisassistentinnen durchgeführt werden. Einzig ein paar wenige Detailangaben, wie zum Beispiel die kognitive Situation im MNA®-SF oder der Schweregrad einer Erkrankung, müssen noch vom Hausarzt ergänzt werden.
ARS MEDICI: Warum ist die Zusammenarbeit mit den Hausärzten in Bezug auf die Mangelernährung so wichtig? Huber: Im Grunde ist der gesamte Bereich der Mangelernährung ein interdisziplinäres Thema. Wir sollten so früh wie möglich mit der Abklärung und der Intervention beginnen. Die Ernährungsberaterin kann in diesem Bereich eine verbindende Funktion übernehmen – als Schnittstelle zwischen dem Hausarzt, weiteren Therapie- und Betreuungsbereichen, wie zum Beispiel Spitex, dem Alters- und Pflegeheim oder einem Home-Care-Service sowie den Angehörigen und dem Patienten.
«Ohne Beratung passiert es erfahrungsgemäss sehr schnell, dass ein Supplement probiert und voreilig abgelehnt wird.»
Gesetzlich anerkannte Ernährungsberater
Gesetzlich anerkannte Ernährungsberater und Ernährungsberaterinnen sind gemäss der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV Art. 46 und 50a) befugt, Leistungen nach der KrankenpflegeLeistungsverordnung (KLV, Art. 9b) zu erbringen. Gesetzlich anerkannte Ernährungsberater haben an einer anerkannten Schweizer Fachhochschule ein Bachelorstudium in Ernährung und Diätetik abgeschlossen und tragen den offiziellen akademischen Titel «BSc in Ernährung und Diätetik» oder bei altrechtlichem Abschluss «dipl. Ernährungsberater/in HF» (auf Stufe höhere Fachschule, konnte früher an einer der drei anerkannten Schulen in Zürich, Bern oder Genf erworben werden). Der Schweizerische Verband der Ernährungsberater/innen (SVDE) bürgt für die Gesetzeskonformität nach KVV Art. 50a und hat aus diesem Grund das privatrechtlich geschützte Label «Ernährungsberater/Ernährungsberaterin SVDE» geschaffen, welches exklusiv von seinen Mitgliedern getragen werden darf, um dadurch Transparenz und schnelle Wiedererkennung für Ärzte, Arbeitgeber, Behörden und Patienten zu schaffen. Auf der Homepage des SVDE (www.svde-asdd.ch) sind freiberuflich tätige Ernährungsberater/Ernährungsberaterinnen SVDE gelistet. Patienten können auch an anerkannte Ernährungsberater/ Ernährungsberaterinnen in Spitalambulatorien zugewiesen werden. Das notwendige offizielle Verordnungsformular zur Überweisung an einen Ernährungsberater/eine Ernährungsberaterin SVDE kann ebenfalls auf der Homepage heruntergeladen werden.
ARS MEDICI: Wann können Hausärzte in Bezug auf eine Ernährung selbst beraten, wann sollte die Überweisung an eine Ernährungsberaterin erfolgen? Huber: Empfehlungen zur gesunden und präventiven Ernährung, wie zum Beispiel «Essen Sie fünfmal am Tag Früchte und Gemüse», kann auch ein Hausarzt aussprechen. Fraglich bleibt allerdings, ob der Patient ohne vertiefte Beratung, die auch praktische Aspekte und seine individuellen Bedürfnisse berücksichtigt, diese Empfehlung in seinem Alltag umsetzen kann. Ernährungsberatungen bei Indikationen wie Stoffwechselund Nierenerkrankungen, Adipositas bei Erwachsenen oder Kindern und Jugendlichen, Fehl- und Mangelernährungszuständen, Nahrungsmittelallergien und Herz-KreislaufErkrankungen gehören in die Hand einer Fachperson, das heisst eines gesetzlich anerkannten Ernährungsberaters. Deshalb ist auch die Zusammenarbeit so wichtig und wertvoll. Ist die Mangelernährung aufgrund des Gewichtsverlustes deutlich, kann der Hausarzt ein offizielles Verordnungsformular des SVDE, des Berufsverbands der Ernährungsberater/innen, ausfüllen. Mangelernährung ist eine Falldiagnose und gehört zur Grundleistung. Die Behandlung wird also von den Krankenkassen übernommen.
ARS MEDICI: Welche Angaben benötigt die Ernährungsberaterin vom Hausarzt? Huber: Sie benötigt das vom Arzt unterschriebene offizielle Verordnungsformular des SVDE mit den relevanten Angaben zum Patienten, zu den Medikamenten, zur Diagnose, zu wichtigen Laborwerten wie zum Beispiel Albumin und
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LINKTIPPS
Antrag auf Kostengutsprache
Antragsdokumente Praevcare GmbH: http://www.praevcare.ch/dokumente
Bezugsquellen für Screeningtools
Mini Nutritional Assessment Short Form (MNA®-SF) Der MNA®-SF wird vom Nestlé Nutrition Institute in vielen Sprachen kostenlos zur Verfügung gestellt. Download unter: http://www.mna-elderly.com/mna_forms.html
Malnutrition Universal Screening Tool (MUST) Download verfügbar auf der Website der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin e.V. unter: http://www.dgem.de/screening
krankheitsspezifischen Markern, und, falls erforderlich, weiteren Bemerkungen. Liegt die Indikation für die Ernährungsberatung ausserhalb der Pflichtleistungen der Grundversicherung, kann der Patient auch ohne Verordnungsformular an eine qualifizierte Ernährungsfachstelle überwiesen werden.
ARS MEDICI: Könnte der Hausarzt nicht einfach nur Supple-
mente verordnen?
Huber: Ich empfehle dazu immer eine professionelle Beratung.
Nehmen wir beispielsweise gerade die Trinknahrungen, bei
denen welchen der Nutzen bei einer Mangelernährung wis-
senschaftlich klar gegeben ist: Diese schmecken vielen Pa-
tienten nicht. Ohne Beratung passiert es erfahrungsgemäss
sehr schnell, dass ein Supplement probiert und voreilig abge-
lehnt wird. Eine einfache Möglichkeit, um mehr Nährstoffe
aufzunehmen, ist dann verloren gegangen. In der Ernäh-
rungsberatung können wir die diversen Einnahme- und Zube-
reitungsmöglichkeiten besprechen und passende Geschmacks-
richtungen und Darreichungsformen für den Patienten
organisieren. Wir kümmern uns auch um die Kostengut-
spracheabklärung, bei der ebenfalls eine Unterschrift seitens
des Arztes und des Patienten erforderlich ist. Vollbilanzierte
orale Supplemente sowie Sondennahrung und parenterale
Ernährungssubstrate werden auf ärztliche Verordnung nach
Kostengutsprache von der Grundversicherung übernommen.
Die notwendigen Dokumente sind auf der Website der
Praevcare GmbH abrufbar.
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ARS MEDICI: Frau Huber, wir bedanken uns für das Gespräch!
Das Interview führte Annegret Czernotta.
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