Transkript
FORTBILDUNG
Morbus Basedow durch Stress
Tatsache oder Legende?
Ist Stress ein Trigger für Morbus Basedow? Zu dieser
These liefern Studien kontroverse Daten. Welche Belege es
für die «Stresshypothese» gibt und was dagegen spricht,
soll in folgendem Beitrag erörtert werden.
Michael Weissel
Die erste Beschreibung einer Schilddrüsenüberfunktion (1808 durch Perry) lässt die Vermutung einer Auslösung durch Stress aufkommen: Die junge Patientin Elizabeth S. entwickelt einige Wochen nach einem Sturz aus dem Rollstuhl eine sehr gut geschilderte Hyperthyreose. Perry weist allerdings darauf hin, dass bei dem Unfall nicht viel passiert sei. Die Aufregung rund um den Auslöser der Hyperthyreose scheint ihm also etwas übertrieben. Carl von Basedow publizierte 1840 die Krankengeschichte eines Patienten, der nach monatelangen, geschäftlichen Misserfolgen eine eindrucksvolle Hyperthyreose mit Exophthalmus entwickelte. Besonders treffend wird das Symptom der Thermophobie in diesem Fall beschrieben: «... wobei er sich leidenschaftlich gern der kalten Zugluft aussetzte und eine angenehme Abkühlung darin fand, die Brustbekleidung gegen kalten Regen, Wind und Schneegestöber zu öffnen …». Der ausgiebige Stress, gemeinsam mit Brechdurchfall, schien für Basedow die Symptomatik auszulösen. In der 2. Ausgabe des Lehrbuchs «Thyroid and its Diseases» (1948) von J.H. Means, Boston, wird von einem vorher gesunden und psychisch unauffälligen Patienten berichtet, der nach einem relativ harmlosen Autounfall innerhalb von drei Wochen das Vollbild einer Hyperthyreose mit Struma und Exophthalmus entwickelte. Diese drei Fälle sollen nur als pars pro toto dafür stehen, dass es in der früheren Literatur viele, grösstenteils überzeugende Fallbeschreibungen der Hyperthyreose nach einem akuten Stressereignis gibt – zumeist mit Exophthalmus, also einem Morbus Basedow. Relativ rezent wurde von einer 18-jährigen Frau berichtet, die nach wiederkehrendem Stress zweimal ein Rezidiv des Morbus Basedow durchmachte (11).
MERKSATZ
O Stress kann bei manchen Menschen an der Entstehung eines M. Basedow beteiligt sein.
Basedow im Krieg
Aber auch chronischer Stress, wie ihn Holocaust-Überlebende beziehungsweise Kriegsopfer durchlebten, scheint mit einer signifikant erhöhten Inzidenz von Hyperthyreose einherzugehen (13). In der englischen Literatur wird interessanterweise vom «Kriegs-Basedow» (sic!) gesprochen – vermutlich, weil die ersten Berichte aus beiden Weltkriegen stammten –, mit allerdings mangelhafter Dokumentation. Gut dokumentiert ist dagegen der Jugoslawienkrieg (7). Dort kam es in einer besonders umkämpften Region zu einer 5- bis 6-fach erhöhten Häufigkeit von Morbus Basedow. Die Studie zeigt allerdings einen gravierenden Nachteil: Die Jodsalzprophylaxe wurde in dieser Zeit von 10 mg auf 20 mg/kg Vollsalz erhöht. Solche Massnahmen können vorübergehend die Häufigkeit einer autoimmun bedingten Schilddrüsenerkrankung erhöhen. In den 1990er-Jahren wollte man mit Fall-Kontroll-Studien die Bedeutung von Stress bei der Entstehung des Morbus Basedow evaluieren. Dazu wurden betroffenen Patienten Fragebögen vorgelegt, in denen sie nach belastenden Lebensereignissen («stressful life events») innerhalb eines bestimmten Zeitraums vor der Diagnosestellung befragt wurden. Diese Ereignisse mussten sie als positiv oder negativ einstufen, und sie mussten und auf einer willkürlichen Skala beurteilen, als wie schwerwiegend sie diese empfanden. Bei sechs von sieben Studien zeigte sich eine signifikante Korrelation zum Morbus Basedow, vor allem mit den negativ empfundenen «stressful life events» (4, 6, 8, 9, 14, 15). Bei der einen Studie, die keine Signifikanz zeigte (5), war der ausgewertete Zeitraum vor der Diagnose mit 6 Monaten eventuell zu kurz für eine signifikante Korrelation, bei den anderen 6 Studien lag dieser bei 12 Monaten. Besonders bemerkenswert ist die Studie von Yoshiuchi et al. (15), da sie die Korrelation zwischen Morbus Basedow und Stress bei Frauen erheben konnte. Zusätzlich fanden die Autoren heraus, dass der Nikotinkonsum einen fast gleichwertigen Risikoparameter darstellte (Tabelle). Bei Männern (immerhin 46 Patienten) konnten sie keine signifikante Korrelation vorweisen. Der Grund dafür könnte sein, dass Männer mit einer anderen CSF-(Zerebrospinalflüssigkeits-) Ausschüttung auf Stress reagieren als Frauen. Eine weitere Studie von Matos Santos (6) (Abbildung 1) zeigt bei einem allerdings relativ kleinen Patientengut, dass nur negativ empfundene «stressful life events» bei Morbus Basedow signifikant häufiger sind. Für positive Ereignisse liess sich keine signifikante Korrelation feststellen. Die Autoren konnten zudem zeigen, dass die negativen «Stressful-life-event»-Parameter bei
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FORTBILDUNG
Tabelle:
Risiko für Frauen (n = 182), einen M. Basedow zu entwickeln, in Abhängigkeit von Stress und Rauchen
Patientinnen Kontrollen Odds- 95%-Konfi- p-Wert (n) Ratio denzintervall
«Life-Event»Scores
151–179 14
≥ 180
31
Zigaretten/ Tag 1–10
25
11–20
29
21–40
8
nach (15)
6
7,5 1,7–32
p < 0,01 8 7,7 2,2–27 p < 0,01 11 3,7 1,3–11 p < 0,05 15 3,5 1,2–10 p < 0,05 3 5,1 1,0–27 p < 0,01 160 140 120 100 p < 0,001 80 60 40 n.s. 20 0 M. Basedow Toxische Struma Kontrolle (n = 31) (n = 31) (n = 31) I positive Ereignisse I negative Ereignisse I neutrale Ereignisse So überzeugend diese Fall-Kontroll-Studien auch sein mögen, es gibt starke Gegenargumente: O Die Wirkung eines stressreichen Ereignisses kann bei Indi- viduen verschieden sein. O Die Wertigkeit des Ausfüllens eines Fragebogens kann bei einem emotionalen Zusammenhang begrenzt sein. O Das Datum des Krankheitsbeginns ist schwierig zu defi- nieren. Eine milde, bereits bestehende Hyperthyreose zum Zeitpunkt des Stressereignisses ist möglich. Bei der ersten Beschreibung einer Hyperthyreose durch Perry könnte zum Beispiel die beobachtete Überreaktion von Elizabeth S. auf den eher harmlosen Unfall darauf hinweisen, dass zum Zeitpunkt des «auslösenden Stresses» bereits eine Schilddrüsenüberfunktion bestand. Der durch Stress bedingte Morbus Basedow scheint gewisse klinische Eigenheiten zu zeigen: So sind Rezidive häufiger (3) und Patienten öfter depressiv (3), wobei eine längere Gabe von Bromazepam die Rezidivinzidenz zu mindern scheint (1). Eine 131-Jod-Therapie löst häufiger und früher eine Hypothyreose aus (10). Das Ausmass des Stresses korreliert mit dem klinischen, aber nicht mit dem biochemischen Schweregrad des Morbus Basedow (12). Wo ordnet man die Rolle des Stresses bei der Pathogenese des Morbus Basedow in Anbetracht der manchmal eindrucksvollen klinischen Beobachtung eines fast zwingenden Zusammenhangs ein? Brix et al. haben 2001 in einer Zwillingsstudie den Beweis erbracht, dass die Entstehung eines Morbus Basedow in 79 Prozent der Fälle genetischen Faktoren zugeordnet werden kann (12). Für die restlichen Faktoren werden heute Östrogene und Umweltfaktoren verantwortlich gemacht (vgl. Abbildung 2). Bei diesen Umweltfaktoren wird Stress als einer von mehreren Faktoren angeführt. Abbildung 1: Stressreiche Ereignisse bei Hyperthyreose (6) Genetisch Umwelt TSH-R, TG, HLA, CTLA4, PTPN22, CD40, FCRL3, IL2RA, FOXP3 Weibliches Geschlecht weibliches Geschlecht, «parity», X-ChromosomInaktivierung? Rauchen, Alkohol, Selen (?), Vitamin D (?), Jod, Stress, Infektion, Medikamente Betroffene Gene bzw. Abkürzungen: TSH-R: TSH-Rezeptoren; TG: Thyreoglobulin; immunregulatorische Gene: HLA-Klasse II, CTLA4, PTPN22; CD40: Kostimulator antigenrepräsentierender Zellen; FCRL3 «Fc receptor-like 3 gene»; IL2RA und FOXP3: in die Immuntoleranz involvierte Gene Abbildung 2: Multifaktorielle Ätiologie der autoimmunen Erkrankungen der Schilddrüse Patienten mit Morbus Basedow signifikant häufiger sind als bei Patienten mit toxisch multinodulärer Struma beziehungsweise als in der Kontrollgruppe. Es scheint also eine stressinduzierte Auslösung des Autoimmunprozesses stattzufinden, der zum Morbus Basedow führt. Wann löst Stress einen Morbus Basedow aus? Beim natürlichen Verlauf der Entstehung der Erkrankung werden vier Stadien der autoimmun bedingten Hyperthyreose beschrieben: O Stadium 1: normales TSH (tyreoidastimulierendes Hor- mon, fT4 (freies Thyroxin), neg. TPO (Thyreoperoxidase) O Stadium 2: normales TSH, fT4, schwach pos. TPO O Stadium 3: supprimiertes TSH, normales fT4, pos. TPO O Stadium 4: supprimiertes TSH, erhöhtes fT4, pos. TPO, pos. TRAK (TSH-Rezeptor-Antikörper). Bei genetisch prädisponierten Personen (die Vielzahl der betroffenen Gene sind in Abbildung 2 angeführt), die sich im Stadium 2 befinden, kann Stress offensichtlich den Übergang zur Hyperthyreose triggern oder zumindest beschleunigen (2). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Stress bei manchen Patienten ursächlich an der Entstehung eines Morbus Basedow beteiligt sein kann. Die ihm früher zugeordnete, fast ausschliesslich ätiologische Bedeutung ist aber heute nicht mehr haltbar, obwohl es in Einzelfällen manchmal so erscheinen mag. O Univ. Prof. Dr. med. Michael Weissel Praxis für Innere Medizin (Schwerpunkt Schilddrüse) A-1080 Wien Interessenkonflikte: Der Autor hat keine deklariert. Literatur unter www.arsmedici.ch Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 15/2016. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. ARS MEDICI 23 I 2016 1097 FORTBILDUNG Literatur: 1. Benvenga S: Benzodiazepine and remission of Graves’ disease. Thyroid 1996; 6: 659–660. 2. Effraimidis G, Wiersinga W: Mechanisms in endocrinology: autoimmune thyroid disease: old and new players. Europ J Endocrinol 2014; 170: R241–R252. 3. Fukao A et al.: The relationship of psychological factors to the prognosis of hyper- thyroidism in antithyroid drug-treated patients with Graves’ disease. Clin Endocrinol (Oxf) 2003; 58: 550–555. 4. Kung AW: Life events, daily stresses and coping in patients with Graves’ disease. Clin Endocrinol (Oxf) 1995; 42: 303–308. 5. Martin du Pan RC: [Triggering role of emotional stress and childbirth. 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