Transkript
FORTBILDUNG
Überarbeitete EULAR-Leitlinie zur Fibromyalgie
Therapeutisch stehen nicht medikamentöse Massnahmen an erster Stelle, vor allem körperliche Aktivität
Zuletzt hatte die European League Against Rheumatism
(EULAR) im Jahr 2005 Empfehlungen zum Management der
Fibromyalgie formuliert. Damals beruhten die meisten
Empfehlungen auf Expertenmeinung. Seitdem gab es zahl-
reiche Publikationen zur Fibromyalgie. Daher veröffent-
lichte die EULAR kürzlich aktualisierte Empfehlungen, die
nun evidenzbasiert sind.
Annals of the Rheumatic Diseases
Mit einer Prävalenz von 2 Prozent in der Allgemeinbevölkerung ist die Fibromyalgie ein häufiges Krankheitsbild. Doch stellen Diagnose und Therapie der Fibromyalgie für Patienten und Ärzte nach wie vor eine Herausforderung dar. Es dauert oft länger als 2 Jahre, bis die Diagnose gestellt ist; im Schnitt werden bis dahin 3,7 Konsultationen bei verschiedenen Ärzten wahrgenommen. Schmerz ist das dominierende Symptom bei Fibromyalgie, doch kommen oft (aber nicht immer) weitere Symptome hinzu wie Fatigue, nicht erholsamer Schlaf sowie affektive und kognitive Störungen. Diese Symptome haben einen wichtigen Einfluss auf die Lebensqualität und unterstreichen die Tatsache, dass es sich um ein komplexes und heterogenes Krankheitsbild handelt. Die Empfehlungen, die die EULAR im Jahr 2005 veröffentlichte, basierten hauptsächlich auf Expertenmeinung. Seither gab es zahlreiche Studien, die sich mit medikamentösen und nicht medikamentösen Interventionen befassten. Darüber hinaus wurden systematische Übersichtsarbeiten zu fast allen häufig eingesetzten Managementstrategien publiziert. Daher setzte sich eine multidisziplinäre EULAR-Arbeitsgruppe mit
MERKSÄTZE
O Nicht medikamentöse Interventionen sollten bei der Therapie der Fibromyalgie am Anfang stehen, vor allem aerobe Übungen und Krafttraining.
O Führt dies nicht zum Erfolg, sollten weitere Therapien auf die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen abgestimmt werden (z.B. psychologische Verfahren, Pharmakotherapie, multimodales Rehabilitationsprogramm).
Vertretern aus zwölf Ländern zum Ziel, nun evidenzbasierte Empfehlungen zum Einsatz individueller medikamentöser und nicht medikamentöser Therapieansätze zu formulieren.
Übergeordnete Prinzipien
und spezifische Empfehlungen der EULAR
Zunächst führten die Experten eine umfangreiche Literaturrecherche durch. Aus der Fülle der Veröffentlichungen wählten sie 107 Reviews (und/oder Metaanalysen) aus. Die einzige auf Metaanalysen beruhende starke Empfehlung («stark dafür») in der aktualisierten Leitlinie ist körperliche Aktivität. Basierend auf Expertenmeinung, werden folgende Schritte empfohlen (die auf einer gemeinsamen Entscheidungsfindung mit dem Patienten beruhen sollen): O Die initiale Therapie sollte die Patientenedukation umfas-
sen und sich auf nicht medikamentöse Therapien konzentrieren. O Spricht der Patient darauf nicht an, sollten weitere Therapien (für die auf der Basis von Metaanalysen eine schwache Empfehlung ausgesprochen wurde) auf die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen abgestimmt werden. Zu diesen Therapiestrategien zählen: – psychologische Therapien (bei affektiven Störungen und nicht hilfreichen Coping-Strategien) – Pharmakotherapie (bei schweren Schmerzen oder Schlafstörungen) und/oder – multimodales Rehabilitationsprogramm. Diese Empfehlungen sind durch qualitativ hochwertige Reviews und Metaanalysen untermauert. Die Effektgrösse der meisten Therapien ist jedoch relativ moderat. Insgesamt formulierten die EULAR-Experten nun zwei übergeordnete Prinzipien, die bei der Betreuung von Fibromyalgiepatienten berücksichtigt werden sollten, sowie zehn spezifische Empfehlungen, die in der Tabelle zusammengefasst sind. Im Folgenden sollen die einzelnen Empfehlungen näher erläutert werden.
Aerobe Übungen und Krafttraining
20 Reviews umfassten bis zu 34 Studien. Die umfangreichste Übersichtsarbeit, ein Cochrane-Review, untersuchte 47 verschiedene Trainingsinterventionen. Aerobe Übungen waren mit einer deutlichen Besserung von Schmerz und Funktion assoziiert. Ein Übersichtsartikel, der 5 Studien auswertete, kam zum Schluss, dass Krafttraining im Vergleich zur Kontrollgruppe zu einer signifikanten Besserung von Schmerz und Funktion führte. Die Evidenzlage reicht jedoch nicht aus, um zu beurteilen, ob aerobe Übungen im Vergleich zu
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Tabelle:
Aktuelle EULAR-Empfehlungen zum Management der Fibromyalgie
Empfehlung
Evidenz- Grad level
Stärke der Empfehlung
Übereinstimmung (%)*
Übergeordnete Prinzipien Eine optimale Behandlung verlangt eine frühe Diagnosestellung. Ein umfassendes Verständnis der Fibromyalgie (FM) erfordert eine umfassende Bewertung von Schmerzen, Funktion und psychosozialem Kontext. Die FM sollte als komplexes und heterogenes Krankheitsbild aufgefasst werden, bei dem eine veränderte Schmerzverarbeitung und weitere sekundäre Merkmale vorliegen. Im Allgemeinen sollte das Management der FM abgestuft erfolgen.
Die Behandlung der FM sollte darauf abzielen, die gesundheitsbezogene Lebensqualität zu verbessern, wobei Nutzen und Risiken der Therapie gegeneinander abgewogen werden müssen. Dies erfordert häufig einen multidisziplinären Ansatz mit einer Kombination aus nicht medikamentösen und medikamentösen Behandlungsmodalitäten. Sie sollen in einer gemeinsamen Entscheidung mit dem Patienten auf dessen individuelle Schmerzintensität, Funktion und assoziierte Besonderheiten (wie Depression), Fatigue, Schlafstörungen sowie Präferenzen und Begleiterkrankungen abgestimmt werden. Die Initialtherapie sollte sich auf nicht medikamentöse Interventionen konzentrieren.
Spezifische Empfehlungen Nicht medikamentöse Behandlung
O aerobe Übungen und Krafttraining
O kognitive Verhaltenstherapie
O multimodale Therapie
O definierte physikalische Therapien: Akupunktur oder Hydrotherapie
O meditative Bewegungstherapien (Qigong, Yoga, Tai Chi) und MBSR (mindfulness-based stress reduction)
IV
IV
Ia Ia Ia Ia Ia
D 100 D 100
A
stark dafür
100
A schwach dafür 100
A schwach dafür 93
A schwach dafür 93
A schwach dafür 71–73
Medikamentöse Behandlung O Amitriptylin (niedrig dosiert) O Duloxetin oder Milnacipran O Tramadol O Pregabalin O Cyclobenzaprin
Ia A schwach dafür 100 Ia A schwach dafür 100 Ib A schwach dafür 100 Ia A schwach dafür 94 Ia A schwach dafür 75
* Prozentsatz der Arbeitsgruppe, der auf einer numerischen Skala von 0 bis 10 zur Bewertung der Übereinstimmung einen Score von Ն 7 angab.
Krafttraining effektiver sind oder umgekehrt. Übungen im Wasser und an Land scheinen gleich effektiv zu sein. Empfehlung der EULAR-Arbeitsgruppe: stark dafür (100% Übereinstimmung).
Kognitive Verhaltenstherapie 5 Reviews umfassten bis zu 30 Studien. Eine qualitativ hochwertige Übersichtsarbeit schloss 23 Studien mit mehr als 2000 Teilnehmern ein, wobei allerdings berichtet wurde, dass die Qualität der einzelnen Studien eher gering gewesen sei. Die kognitive Verhaltenstherapie führte im Vergleich zu verschiedenen Kontrollgruppen zu einer Reduktion von Schmerzen und Behinderung, und die Ergebnisse wurden langfristig aufrechterhalten. Empfehlung der EULAR-Arbeitsgruppe: schwach dafür (100% Übereinstimmung).
Multimodale Therapie 2 Reviews mit bis zu 27 Studien untersuchten den zusätzlichen Nutzen einer kombinierten im Vergleich zu einer individuellen Therapie. In einer Metaanalyse mit 9 Studien und 1119 Teilnehmern führte die multimodale Therapie (gegenüber Entspannungsübungen, Edukation, Standardbehandlung oder Eintrag in die Warteliste) zu einer Reduktion von Schmerz und Fatigue. Allerdings hielten die Effekte nur kurzfristig an. Empfehlung der EULAR-Arbeitsgruppe: schwach dafür (93% Übereinstimmung).
Akupunktur und Hydrotherapie 8 Reviews umfassen bis zu 16 Studien. Eine qualitativ hochwertige Übersichtsarbeit stellte fest, dass Akupunktur, die zusätzlich zur Standardtherapie erfolgte, zu einer Schmerz-
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linderung von 30 Prozent führte. Die Elektroakupunktur war ebenfalls mit einer Schmerzlinderung und einer Besserung der Fatigue assoziiert. Allerdings ist zum Wirkmechanismus der Akupunktur wenig bekannt, und die Evidenzlage zum Einsatz von echter versus Scheinakupunktur ist weniger konsistent. 4 Übersichtsarbeiten zur Hydrotherapie schlossen bis zu 21 Studien ein. Eine qualitativ hochwertige Übersichtsarbeit berücksichtigte 10 Studien und verglich eine etwa vierstündige Hydrotherapie mit verschiedenen Komparatoren. Am Ende der Therapie wurde eine signifikante Besserung der Schmerzen festgestellt, die über einen längeren Zeitraum (Median: 14 Wochen) aufrechterhalten wurde. Empfehlung der EULAR-Arbeitsgruppe für Akupunktur und Hydrotherapie: jeweils schwach dafür (93% Übereinstimmung).
Meditative Bewegungstherapien und MBSR
6 Übersichtsarbeiten, die bis zu 8 Studien umfassten, widmeten sich den meditativen Bewegungstherapien (Qigong, Yoga, Tai-Chi oder eine Kombination daraus). Die Evidenzlage reichte jedoch für individuelle Empfehlungen nicht aus. Ein Review berücksichtigte 7 Studien mit 362 Teilnehmern, die in eine der folgenden Behandlungsgruppen randomisiert wurden: Tai Chi, Yoga, Qigong oder Körperwahrnehmung. Die Therapien erstreckten sich über 12 bis 24 Stunden, und sie wurden mit verschiedenen Kontrollinterventionen (darunter Standardbehandlung und verschiedene aktive Therapien) verglichen. Am Ende der Therapiephase wurden Verbesserungen von Schlaf und Fatigue registriert, die teilweise länger anhielten. Empfehlung der EULAR-Arbeitsgruppe: schwach dafür (71% Übereinstimmung). 6 Reviews zur MBSR (mindfulness-based stress reduction) schlossen bis zu 13 Studien ein. Eine aktuelle Übersichtsarbeit, eine Metaanalyse von 6 Studien, ergab, dass MBSR im Vergleich zur Standardbehandlung und zu aktiven Kontrollinterventionen unmittelbar nach der Behandlung zu einer Schmerzlinderung führt. Empfehlung der EULAR-Arbeitsgruppe: schwach dafür (73% Übereinstimmung).
Amitriptylin
5 Reviews mit bis zu 13 Studien untersuchten Amitriptylin in der Fibromyalgiebehandlung. Eine qualitativ hochwertige Übersichtsarbeit berichtete, dass Amitriptylin in einer Tagesdosis von 25 mg nach 6- bis 8-wöchiger Therapie (nicht jedoch nach 12-wöchiger Behandlung) zu einer Besserung von Schmerz, Schlaf und Fatigue führte. 50 mg Amitriptylin pro Tag zeigten keine Wirksamkeit. Empfehlung der EULARArbeitsgruppe: schwach dafür, in niedriger Dosierung (100% Übereinstimmung).
Duloxetin oder Milnacipran
Es wurden 8 Reviews identifiziert, die Daten zu Duloxetin präsentierten. Die grösste Übersichtsarbeit mit 2249 Patienten berichtete, dass Duloxetin kurzfristig (≤ 12 Wochen) und langfristig (≤ 28 Wochen) zu einer effektiveren Schmerzlinderung als Plazebo führte. Jedoch bewirkten Dosen von 20 bis 30 mg täglich keinen signifikanten Effekt, und Dosen zwischen 60 und 120 mg pro Tag zeigten keinen Unterschied. Ein älterer Review berichtete über kleinere Effekte auf die Parameter Schlaf und Behinderung, nicht jedoch auf Fatigue.
Zu Milnacipran konnten 7 systematische Übersichtsarbeiten identifiziert werden, davon schloss eine neuere Arbeit 5 Studien ein. Am Ende der Therapie wiesen mit Milnacipran behandelte Patienten häufiger eine 30-prozentige Schmerzlinderung auf, hinsichtlich Fatigue und Behinderung wurde jedoch nur ein geringer Nutzen beobachtet, und auf den Schlaf hatte Milnacipran keinen Effekt. Empfehlung der EULAR-Arbeitsgruppe zu Duloxetin und Milnacipran: schwach dafür (100% Übereinstimmung).
Tramadol Zu Tramadol existieren 2 Übersichtsarbeiten. Tramadol ist ein schwaches Opioid mit milder SNRI-(Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer-)Aktivität. In einer Studie wurden Tramadol und Paracetamol untersucht. Patienten im aktiven Behandlungsarm wiesen häufiger eine Schmerzlinderung von 30 Prozent auf. Empfehlung der EULARArbeitsgruppe: schwach dafür (100% Übereinstimmung).
Pregabalin 9 Übersichtsarbeiten zu Pregabalin schlossen bis zu 7 Studien ein. Ein kürzlich publizierter Cochrane-Review berichtete, dass Patienten im aktiven Behandlungsarm häufiger eine 30prozentige Schmerzlinderung erreichten. Ausserdem wurde ein geringer Effekt auf den Parameter Schlaf und ein sehr geringer Effekt auf Fatigue beobachtet, jedoch kein Effekt auf den Parameter Behinderung. Empfehlung der EULAR-Arbeitsgruppe: schwach dafür (94% Übereinstimmung).
Cyclobenzaprin Eine systematische Übersichtsarbeit, die 5 Studien mit 312 Patienten einschloss, berichtete, dass 85 Prozent der Patienten, die Cyclobenzaprin einnahmen, Nebenwirkungen aufwiesen und nur 71 Prozent die Studie beendeten. Diese Patienten berichteten häufiger, dass sie eine Besserung spürten. Nur 2 Studien berichteten über eine «Intention-to-treat»Analyse. Der Parameter Schlaf, nicht jedoch der Schmerz, zeigte im Vergleich zu Beginn der Studie eine signifikante, sehr geringe Besserung. Patienten aus der Plazebogruppe wiesen eine ähnliche Besserung auf. Empfehlung der EULARArbeitsgruppe: schwach dafür (75% Übereinstimmung).
Was die EULAR-Guideline nicht empfiehlt Die Leitlinienautoren sprachen für bestimmte Medikamentengruppen wie nicht steroidale Antirheumatika (NSAR), Monoaminooxidase-(MAO-)Inhibitoren und selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) mangels Wirksamkeit keine Empfehlung aus. Hinsichtlich bestimmter Therapien sprachen sich die Autoren sogar «stark dagegen» aus. Dazu zählten Wachstumshormon, Natriumoxybat, starke Opioide und Kortikosteroide, weil sie keine Wirksamkeit zeigten, aber mit einem hohen Nebenwirkungsrisiko behaftet waren. O
Andrea Wülker
Quelle: Macfarlane GJ et al.: EULAR revised recommendations for the management of fibromyalgia. Ann Rheum Dis 2016, published online 4 July, doi:10.1136/annrheumdis2016-209724.
Interessenlage: Ein Teil der Autoren der referierten Leitlinie hat von verschiedenen Pharmaunternehmen Honorare oder Forschungsgelder erhalten.
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