Transkript
STUDIE REFERIERT
Immer mehr Demenzerkrankungen?
Inzidenzentwicklung spricht dagegen
Bei den Teilnehmern der Framingham Heart Study ist die Inzidenz der Demenzerkrankungen in den letzten 30 Jahren trotz zunehmender Lebenserwartung deutlich zurückgegangen. Zudem erkranken die Patienten heute durchschnittlich fünf Jahre später als im Jahr 1977. Diese positiven Entwicklungen wurden allerdings hauptsächlich bei Personen mit hohem Bildungsstand beobachtet.
New England Journal of Medicine
Demenzerkrankungen sind weltweit die Hauptursache von Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit älterer Menschen. Aufgrund der steigenden Lebenserwartung rechneten Experten auch mit einer starken Zunahme der Erkrankungshäufigkeit. Aus neueren Schätzungen geht jedoch hervor, dass die altersspezifische Inzidenz in Ländern mit hohem Einkommen sogar rückläufig sein könnte. Claudia Satizabal von der Boston University School of Medicine (USA) und ihre Arbeitsgruppe untersuchten nun die Inzidenz von Demenzerkrankungen im Verlauf von 30 Jahren bei den Teilnehmern der Framingham Heart Study. Im Rahmen dieser Kohortenstudie wird seit 1975 neben der körperlichen Gesundheit auch der kognitive Status der untersuchten Personen dokumentiert. Das Forscherteam schloss 5205 Personen ab einem Alter von 60 Jahren in die Untersuchung ein. Zunächst bestimmten die Wissenschaftler die kumulierte
MERKSÄTZE
O Die Häufigkeit von Demenzerkrankungen hat in den letzten 30 Jahren abgenommen.
O Das durchschnittliche Erkrankungsalter ist von 80 Jahren auf 85 Jahre angestiegen.
O Die Inzidenz vaskulärer Demenzen verringerte sich schneller und ausgeprägter als die der Alzheimer-Demenz.
alters- und geschlechtsbereinigte 5-Jahres-Inzidenz der Demenz in vier Zeitabschnitten (1977 bis 1983; 1986 bis 1991; 1992 bis 1998; 2004 bis 2008). Des Weiteren untersuchten sie die Einflüsse des Apolipoprotein-E-(APOE)epsilon-4-Status und des Bildungsstandes sowie die Auswirkungen vaskulärer Risikofaktoren und kardiovaskulärer Erkrankungen auf die zeitliche Entwicklung der Demenzinzidenz. In jeder Zeitperiode standen die Daten von 2000 bis 2500 Teilnehmern zur Verfügung. Das durchschnittliche Alter lag im ersten Zeitabschnitt bei 69 Jahren (Bereich 60–89) und im vierten Zeitabschnitt bei 72 Jahren (Bereich 60–101). Die durchschnittlichen Ausgangsergebnisse des Mini-Mental-Status-Tests (MMST) waren in allen vier Zeitabschnitten vergleichbar.
Demenzinzidenzen
sanken kontinuierlich
Im Verlauf der 30 Jahre beobachteten die Forscher einen Trend zu einem höheren Bildungsniveau. Gleichzeitig ging die Prävalenz der meisten vaskulären Risikofaktoren zurück – nur die Häufigkeit von Adipositas und Diabeteserkrankungen nahm zu. Die Prävalenz von Schlaganfällen und anderen kardiovaskulären Erkrankungen war im Verlauf der 30 Jahre ebenfalls rückläufig. Die Verbesserung der kardiovaskulären Gesundheit zeigte sich jedoch nur bei Teilnehmern mit einem HighSchool-Abschluss. Insgesamt fanden die Forscher 371 Demenzerkrankungen. Das durchschnittliche Alter zum Zeitpunkt der Diagnose stieg von 80 Jahren im ersten Zeit-
abschnitt bis zu einem Alter von 85 Jahren im vierten Zeitintervall an (p < 0,001 für den Trend). Während des ersten Zeitabschnitts betrug die kumulative 5-Jahres-HazardRatio (HR) für eine Demenz 3,6 pro 100 Personen. Während der zweiten Periode lag das HR bei 2,8 pro 100 Personen, in der dritten Periode bei 2,2 und in der vierten bei 2,0 pro 100 Personen. Im Vergleich zum ersten Zeitabschnitt hatte die Inzidenz im zweiten Zeitabschnitt somit um 22 Prozent, im dritten um 38 Prozent und im vierten um 44 Prozent abgenommen. Der Rückgang der Demenzinzidenz wurde jedoch nur bei Personen mit einem Highschool-Abschluss beobachtet (HR 0,77; 95%-Konfidenzintervall [KI] 0,67–0,88). Die Inzidenz der Alzheimer-Demenz verringerte sich langsamer und weniger ausgeprägt (von 2,0% auf 1,4%) als die der vaskulären Demenz (von 0,8% auf 0,4%). Das Alter, das Geschlecht oder der APOE-epsilon-4-Status der Teilnehmer beeinflusste die zeitlichen Trends der Demenzinzidenz nicht. Ein rechnerischer Abgleich vaskulärer Risikofaktoren oder eine Berücksichtigung der Schlaganfälle und anderer kardiovaskulärer Erkrankungen veränderten die Ergebnisse ebenfalls nicht signifikant (1). Ursachen sind unklar In der Framingham Heart Study war der Rückgang der Demenzerkrankungen und die Verbesserung der kardiovaskulären Gesundheit nur bei Personen mit einem High-school-Abschluss zu beobachten. Somit könnte das zunehmende Bildungsniveau zu der Verschiebung des Erkrankungsbeginns um fünf Jahre beigetragen haben. Des Weiteren vermuten die Autoren, dass die frühzeitigere Diagnose und die effektivere Behandlung von Schlaganfällen und Herzerkrankungen an der rückläufigen Entwicklung der Demenzinzidenz beteiligt sein könnten. Dies gilt vor allem für die vaskuläre Demenz. Die Prävalenz der meisten vaskulären Risikofaktoren ist zwar im Verlauf der 30 Jahre zurückgegangen, und das Demenzrisiko im Zusammenhang mit Schlaganfall, Vorhofflimmern oder Herzinsuffizienz hat sich ebenfalls verringert. Im rechnerischen Modell konnte jedoch keiner dieser Trends vollständig den Rückgang der Demenzinzidenz erklären. ARS MEDICI 22 I 2016 1047 STUDIE REFERIERT Als Einschränkung ihrer Studie werten die Wissenschaftler daher, dass andere mutmassliche Risikofaktoren für die Entwicklung einer Demenz – wie die Ernährung und die körperliche Bewegung – nicht als mögliche Erklärungen des zeitlichen Verlaufs der Demenzinzidenz untersucht werden konnten (1). Wird der Trend anhalten? In einem Kommentar weisen David Jones von der Harvard Medical School in Boston (USA) und seine Arbeits- gruppe darauf hin, dass nicht zum ers- ten Mal eine unerwartete Umkehrung in der langfristigen zeitlichen Entwick- lung einer chronischen Erkrankung be- obachtet wird. Auch die Raten korona- rer Herzerkrankungen haben sich trotz gegenteiliger Prognosen verringert. Da die Häufigkeit chronischer Erkran- kungen von komplexen Zusammen- hängen vieler Faktoren beeinflusst wird, kann nicht prognostiziert werden, ob ein Trend anhält oder sich wieder umkehrt. So könnte die Zunahme an Adipositas und Diabeteserkrankungen die Anzahl koronarer Herzerkrankun- gen wieder ansteigen lassen. Da koro- nare Herzerkrankungen und Demenz gemeinsame Risikofaktoren aufweisen, könnte dies auch die Demenz betreffen. Die rückläufige Demenzinzidenz zeigt jedoch zumindest, dass die Erkrankungs- häufigkeit beeinflussbar ist. Daher ist es nach Ansicht der Kommentatoren von grosser Bedeutung, die Ursachen für den Rückgang der Demenzinzidenz zu ermitteln, um gezielt in entsprechende Verhaltensänderungen, Medikationen und andere gesundheitliche Interventio- nen investieren zu können (2). O Petra Stölting Quellen: 1. Satizabal CL et al.: Incidence of dementia over three decades in the Framingham Heart Study. N Engl J Med 2016; 374 (6): 523–532. 2. Jones DS, Greene JA: Is dementia in decline? Historical trends and future trajectories. N Engl J Med 2016; 374(6): 507–509. Interessenkonflikte: Die referierte Studie wurde vom National Heart, Lung, and Blood Institute Framingham Heart Study, dem National Institute on Aging und dem National Institute of Neurological Disorders and Stroke finanziert. Zu potenziellen Interessenkonflikten der Autoren und Kommentatoren sind keine Angaben vorhanden. 1048 ARS MEDICI 22 I 2016