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BERICHT
«Ein Leuchtturm in einem Meer von Unsicherheit»
Was bedeutet gute Pflege bei Demenz?
Demenz macht Angst. Den Patienten, vor allem in der Anfangsphase der Er- eine völlig angebrachte Frage, sagte
krankung, wie den Angehörigen, welche die Erkrankung irgendwann akzeptieren müssen. Auch für professionell Pflegende ist der Umgang mit demen-
Vögeli. In der Praxis scheint sich das Problem einer frühen Diagnose indes eher nicht
ten Personen nicht einfach. An einem von «palliative aargau» und den Aar- zu stellen. «Es vergeht relativ viel Zeit
gauer Landeskirchen organisierten Symposium gaben Referentinnen und Referenten aus unterschiedlichen Blickwinkeln Rat, was gute Pflege bei De-
von der ersten Unsicherheit bis zur Diagnose», sagte Dr. med. Roland Kunz, ärztlicher Leiter und Chefarzt Geriatrie
menz ausmacht.
und Palliative Care am Spital Affoltern.
Selbst wenn Angehörige ausgewiesene
Renate Bonifer
Fachleute sind, kann sich die Diagnose verzögern. So berichtete Dr. med. René
Kuhn, Chefarzt Geriatrie am Pflege-
«Sie haben Alzheimer-Demenz.» Nach gen. Auch biete eine frühzeitige Dia- zentrum Reusspark, Niederwil, dass es
dieser Diagnose sollte man erst einmal gnose den Betroffenen die Chance, ihre acht (!) Jahre dauerte, bis eine Angehö-
30 Sekunden lang nichts weiter sagen, Angelegenheiten noch selbst zu regeln rige endlich die korrekte Diagnose
riet Dr. med. Irene Bopp-Kistler, Lei- und ihre Wünsche für das weitere Vor- «Demenz» erhielt. Alle Beteiligten aus-
tende Ärztin der Memory-Klinik am gehen zu äussern. Für Bopp-Kistler be- ser ihm wollten das Offensichtliche
Stadtspiel Waid in Zürich. Sie lässt be- ginnt mit der Diagnose auch die pallia- über Jahre hinweg nicht wahrhaben. Die
wusst Zeit verstreichen, um Patienten
und Angehörigen Zeit zu geben, die
Diagnose wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Damit vermeidet sie einen ebenso weitverbreiteten wie gut gemein-
Es vergeht relativ viel Zeit von der ersten Unsicherheit bis zur Diagnose.
ten Fehler vieler Ärztinnen und Ärzte,
bei jeglicher Diagnose sofort die mögli-
chen Massnahmen herunterzubeten.
tive Betreuung. Zu Beginn bedeute das Diagnose kam zu spät für die Patientin,
vor allem, die Betroffenen ernst zu neh- war aber im Nachhinein doch hilfreich
Wann ist die Diagnose Demenz
men und mit ihnen ihren individuellen für die Angehörigen, um verstehen und
zumutbar?
Weg zu gehen.
verzeihen zu können, was in all den
Hausärzte sagten ihr oft, so Bopp-Kist- Es gibt jedoch auch eine Kehrseite Jahren zuvor geschehen war.
ler, dass man die Diagnose Demenz in der frühen Demenzdiagnose, auf die
einem frühen Stadium eigentlich weder Samuel Vögeli, Pflegefachmann und Pflegerische Hürden
den Patienten noch den Angehörigen Projektleiter der Alzheimervereinigung Angst sei die grösste Hürde bei der De-
zumuten müsse, weil man ja letztlich Aargau, hinwies. Die Diagnose De- menzpflege, sagte Samuel Vögeli. Aber
doch nichts tun könne. Das sieht die menz stigmatisiere den Betroffenen und auch Mitleid, Ekel, (Fremd-)Scham, die
Geriaterin völlig anders. Indem man führe mitunter zu fragwürdigen Ver- Last der Verantwortung, eigene Vor-
gewissen Symptomen endlich einen haltensweisen von Angehörigen und stellungen von Würde und nicht zuletzt
Namen gebe, entlaste man Patienten Pflegenden. Als Beispiel nannte er die die Angst, selbst einmal an Demenz zu
wie Angehörige. So komme es wegen Klage eines Demenzpatienten, dass sich erkranken, können Pflegende bei der
des demenzbedingten Verlusts der Em- nach der Diagnose niemand mehr mit Betreuung Demenzkranker behindern.
pathie fast immer schon zu Konflikten ihm streiten wolle, weil das offenbar in Das trifft nicht nur für Angehörige zu,
in der Beziehung, bevor eine Demenz- allen Lehrbüchern stehe. Übrigens sei sondern auch für professionell Pfle-
diagnose gestellt wird. Mit dem Be- auch das Gebot, einen Demenzpatien- gende. Selbstreflexion sei darum wich-
wusstsein, dass es sich um eine Krank- ten nie nach dem «Warum?» zu fragen tig, betonte Vögeli und zitierte in diesem
heit handelt, sind derartige Konflikte (weil ihn das überfordere), nicht in Stein Zusammenhang den englischen Psycho-
für die Angehörigen besser zu bewälti- gemeisselt, sondern je nach Situation logen Tom Kitwood: «Betreuende von
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Menschen mit Demenz sind mit ihren und Könnens wie zum Beispiel Lieder, gehörige vergleichen den Patienten hin-
eigenen Ängsten vor Alter, Verlust von Gedichte, Sprichwörter, Gebete und gegen bewusst oder unbewusst stets
Autonomie, Attraktivität und Würde, Psalmverse, die dementen Patienten mit der früheren Persönlichkeit, die
vor Hilfsbedürftigkeit und Tod kon- häufig nach wie vor leicht über die Lip- noch im Vollbesitz all ihrer Fähigkeiten
frontiert. Wenn diese Ängste nicht be- pen gehen, oder auch körperliche Fä- war. Dass ihr Urteil zur Lebensqualität
wusst gemacht und reflektiert werden, higkeiten wie Tanzen oder rhythmische ihres dementen Familienmitglieds in der
werden sie meist auf das Gegenüber Übungen. Zu guter Letzt trägt auch die Regel eher negativ ausfällt, verwundert
projiziert. Dadurch können die Bedürf- Vergewisserung des eigenen Körpers darum nicht.
nisse und Kompetenzen der Person mit und dessen Wohlbefinden dazu bei, Letztlich sei es die beste Strategie, die
Demenz nicht adäquat wahrgenom- Angst und Unsicherheit einzudämmen. Krankheit zu akzeptieren und die Er-
men werden.»
Beispiele hierfür sind eine wohltuende, wartungen der Realität anzunähern, so
Kunz. Dafür brauche es eine gute Ab-
klärung, zum Beispiel in einer Memory
Die Diagnose kann Patienten und Angehörige auch entlasten.
Clinic: Was kann der Patient noch, was
nicht? Die Antwort auf diese Frage sei
der Schlüssel für eine bessere Lebens-
Auch auf die Frage, was Angehörige eingrenzende Lagerung, Bäder und ba- qualität bei Demenz – sowohl für den
selbst tun können und was die profes- sale Stimuli (den Körper spürbar ma- Betroffenen als auch seine Familie.
sionell Pflegenden, gibt es keine allge- chen durch z.B. Streicheln oder Kon- Bei fortgeschrittener Demenz ist die
mein gültigen, sondern nur individuelle takt mit taktil angenehmen Materia- Frage nach der Lebensqualität schwie-
Antworten. So berichtete Irene Bopp- lien).
riger zu beantworten. Mitunter wür-
Kistler, dass eine Ehefrau das morgend- Wichtig sei es auch, in der Kommuni- den um diese Frage fast «Glaubens-
liche Duschen ihres dementen Ehe- kation Selbstbezug zu vermeiden, riet kriege» geführt, sagte Kunz. Befragt
manns als eine «neue Form der Zärt- Held. Als Beispiel nannte er das Anzie- man die Pflegenden in einem Heim und
lichkeit» empfand, während bei einem hen. So könne der freundliche und gut die Angehörigen zur Lebensqualität
anderen Paar diese Form der körperli- gemeinte Satz «ich ziehe Ihnen jetzt den der Patienten, so zeige sich, dass die
chen Nähe derart schambehaftet war, roten Pullover an» einen Dementen Angehörigen diese schlechter ein-
dass die Spitex die bessere Lösung für überfordern und zu einer Abwehrreak- schätzten als die Pflegenden. Ein Grund
alle Beteiligten war.
tion führen, während einfache Tatsa- hierfür könnte sein, dass die Pflegenden
chen ohne Selbstbezug eher akzeptiert den Patienten erst seit Eintritt in das
Gewissheiten schaffen
würden («Das ist der rote Pullover.») Heim kennen und ihn nicht, wie die
Eine fortgeschrittene Demenz gehe mit Einen weiteren wichtigen Aspekt erläu- Angehörigen, mit der früheren Persön-
einem Gefühl der Depersonalisierung terte Samuel Vögeli. Demente Personen lichkeit vergleichen können. Ein weite-
einher, sagte Dr. med. Christoph Held, sind der sie umgebenden Atmosphäre rer Grund für die unterschiedliche Ein-
FMH Psychiatrie, Geriatrischer Dienst mehr oder weniger schutzlos ausgelie- schätzung könnte auch die Überzeu-
der Stadt Zürich. Unsicherheit und fert. Die Pflege dementer Personen sei gung der Pflegenden sein, gute Arbeit
Angst sind die Folge. Dabei können die keine Technik, sondern es gehe um zu leisten, folglich müsse es den Patien-
Betroffenen nicht sagen, wovor sie Wahrnehmen, Intuition und das För- ten auch gut gehen.
eigentlich Angst haben. Die Angst sei dern einer guten Atmosphäre, betonte
vielmehr «in ihnen», erläuterte Held. der Pflegefachmann: «Palliative Care Was fördert die Lebensqualität
Fragen wie «Wovor fürchten Sie sich ist immer auch Atmosphärenpflege.» bei Demenz?
denn?» seien darum nicht hilfreich,
Für die Praxis wichtig ist die Frage nach
ebensowenig wie der Versuch, den Be- Was bedeutet Lebensqualität
Massnahmen, welche die Lebensquali-
troffenen die Angst ausreden zu wol- bei Demenz?
tät fördern können. Dazu gehört die
len. Vielmehr müsse man das verän- Eine Einschränkung der Lebensqualität Steigerung des Selbstwertgefühls (be-
derte Selbsterleben eines dementen könne man kurz gesagt als Differenz stimmte Tätigkeiten übernehmen, ge-
Menschen erkennen und vor allem zwischen den persönlichen Erwartun- braucht werden), das Fördern positiver
akzeptieren.
gen und der Realität definieren, erläu- Emotionen (eine gute Atmosphäre mit
Der Pflegende soll für den Patienten ein
«Leuchtturm in einem Meer von Unsi-
cherheit sein», forderte Held. Das kann Palliative Care ist immer auch Atmosphärenpflege.
durch das Schaffen äusserer Gewisshei-
ten gelingen. Hierzu gehören vertraute
Gesichter und Stimmen, gewohnte terte Roland Kunz. Die Lebensqualität Humor, Freude, Zufriedenheit), das
Kleidung, Frisur, Gegenstände und wird somit umso schlechter empfun- Gefühl der Zugehörigkeit zu einer
Möbel für den Patienten sowie immer den, je weiter sich die Schere zwischen Gruppe, Lust und Genuss (Cave: Was
wiederkehrende Abläufe, Rituale und Erwartungen und Realität öffnet. Da auch immer man unternimmt, es sollte
Gewohnheiten. Eine weitere, wichtige vielen Demenzpatienten die Krank- dem Patienten individuell wirklich
Möglichkeit der Selbstvergewisserung heitseinsicht fehle, könnten sie sich Freude bereiten ...) sowie das Vermeiden
ist das Abrufen vorhandenen Wissens darum trotzdem sehr wohl fühlen. An- negativer Emotionen und von Zwängen.
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Buchtipps
I Bopp-Kistler, Irene: Demenz. Fakten, Geschichten, Perspektiven. Rüffer & Rub 2016, ISBN: 978-3-907-62590-3.
I Boss, Pauline: Da und doch so fern. Vom liebevollen Umgang mit Demenzkranken. Verlag Rüffer & Rub 2014. ISBN 978-3-907625-74-3.
I Camp, Cameron J.: Tatort Demenz – Menschen mit Demenz verstehen. Hogrefe 2015, ISBN: 978-3-456-85570-7.
I Held, Christoph: Was ist «gute» Demenzpflege? Verlag Hans Huber 2013, ISBN 978-3-45685262-1.
I Kojer Marina; Schmidl, Martina (Hrsg.): Demenz und palliative Geriatrie in der Praxis. Springer 2015, ISBN 978-3-709-11850-4.
I Newerla, Andrea: Verwirrte pflegen, verwirrte Pflege? Lit-Verlag (Berlin, Münster, Wien, Zürich, London) 2012, ISBN 978-3-643-11757-1.
I Sonntag, Jan: Demenz und Atmosphäre. Musiktherapie als ästhetische Arbeit. Mabuse 2013, ISBN: 978-3-863-21153-0.
I Wissmann, Peter: Nebelwelten. Abwege und Selbstbetrug in der Demenz-Szene. Mabuse 2015, ISBN: 978-3-863-21235-3.
Ein ganz wesentlicher Punkt für die Lebensqualität ist die Abwesenheit von Schmerzen. Man weiss mittlerweile, dass «Verhaltensstörungen» wie Agitation und aggressives Verhalten bei Dementen häufig auf Schmerzen zurückzuführen sind, die der Patient nicht
oder psychotische Symptome mindern die Lebensqualität. Sie sind bei dementen Patienten nicht selten. Roland Kunz empfiehlt bei Bedarf den gezielten palliativen Einsatz von Psychopharmaka, jedoch nur in engen Grenzen: so viel wie nötig, aber so wenig wie möglich und nicht länger als unbedingt nötig.
Agitation und aggressives Verhalten können durch Schmerzen verursacht sein.
mehr adäquat kommunizieren kann, berichtete Roland Kunz. So hatte man in einer 2011 publizierten Studie eine Gruppe von dementen Patienten mit Analgetika behandelt, die andere nicht. In der Analgetikagruppe kam es in der Folge zu einer statistisch signifkanten Reduktion der Agitation und des aggressiven Verhaltens. Auch neuropsychiatrische Symptome wie Persönlichkeitsstörungen, ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus, Angst, Depression, psychomotorische Unruhe
Sterben mit Demenz Abgesehen von dem Symptom «Desorientiertheit» unterscheiden sich die Symptome in der Sterbephase eines Menschen mit oder ohne Demenz nicht. Dies ergab eine retrospektive Umfrage unter Angehörigen, die 2014 im «Deutschen Ärzteblatt» publiziert wurde, berichtete Roland Kunz. Die palliative Betreuung in der Sterbephase unterscheidet sich darum nicht von der Situation bei Menschen ohne Demenz. O
Renate Bonifer
Quelle: Palliative Care Fachtagung: Sterben mit Demenz – wie bleiben wir in Kontakt? Aarau, 7. April 2016.
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