Transkript
STUDIE REFERIERT
Drohen Erblindung und Amputation?
Neues Tool zur besseren Abschätzung diabetesbedingter Risiken
Mithilfe eines neuen internetbasierten Algorithmus kann jetzt das individuelle 10-Jahres-Risiko eines Diabetespatienten für Erblindung und Amputation der unteren Extremitäten ermittelt werden. Die Risikoberechnung basiert auf individuellen Variablen, die routinemässig beim Hausarzt erfasst werden und vielen Patienten bekannt sind. Das neue Instrument kann daher nicht nur von Ärzten, sondern auch von den Betroffenen selbst genutzt werden.
British Medical Journal
Diabetes mellitus ist mit einem erhöhten Risiko für makrovaskuläre Komplikationen wie koronare Herzerkrankung oder Schlaganfall verbunden. Zu den gefürchtetsten mikrovaskulären Komplikationen gehören Nierenversagen, Erblindung und Amputationen. Mit einer intensiven Kontrolle von Risikofaktoren wie dem HbA1c-Wert und dem systolischen Blutdruck kann die Inzidenz mikrovaskulärer Komplikationen bei Diabetes Typ 1 und 2 gesenkt werden (1). Ärzte und Patienten benötigen jedoch präzise Informationen, um eine auf das individuelle Risiko abgestimmte gezielte Behandlungsstrategie entwickeln zu können. Zur Abschätzung des absoluten Risikos für kardiovaskuläre Erkrankungen stehen bereits spezielle Rechner wie
QRISK2 zur Verfügung. Mit ähnlichen Instrumenten kann auch das Risiko für Schlaganfälle und Nierenversagen bei Diabetespatienten ermittelt werden. Julia Hippisley-Cox von der Nottingham University (Grossbritannien) und ihr Team entwickelten nun ein neues Instrument, mit dem das 10-JahresRisiko für Erblindung und Amputation der unteren Extremitäten bei Diabetespatienten zwischen 25 und 84 Jahren ermittelt werden kann. Die Risikoberechnung sollte – wie bei QRISK2 – mithilfe leicht zugänglicher Patientencharakteristika möglich sein, die routinemässig in der Hausarztpraxis erfasst werden. Zur Überprüfung der prognostischen Genauigkeit validierten die Wissenschaftler den Risikorechner anhand externer Patientendaten.
MERKSÄTZE
O Mit dem Algorithmus kann das absolute Risiko eines Diabetespatienten für Erblindung und Beinamputation anhand individueller Variablen ermittelt werden.
O Der Risikorechner kann von Ärzten und Patienten genutzt werden.
O Der Algorithmus ermöglicht eine bessere Risikostratifizierung und eine gezieltere Versorgung von Diabetespatienten.
O Anhand des Rechners kann Patienten demonstriert werden, wie sie durch das eigene Verhalten ihr Risiko für Erblindung und Beinamputation beeinflussen können.
Erarbeitung und Validierung
der Risikoberechnungen
Die Experten erarbeiteten ihre Risikogleichungen im Rahmen einer prospektiven Kohortenstudie unter Nutzung der Datenbank UK QResearch. Hier werden seit 1989 kontinuierlich anonymisierte klinische und demografische Patientendaten aus mehr als 1000 Hausarztpraxen (> 20 Mio. Patienten) registriert. Die Daten der Studienpatienten stammten aus dem Zeitraum von 1998 bis 2014. Als Endpunkte für die Aufnahme in die Studienkohorte definierten die Forscher eine Amputation oberund unterhalb des Knies sowie die Erblindung eines oder beider Augen und schwere visuelle Beeinträchtigungen. Die Risikoberechnungen erfolgten für Frauen und Männer getrennt. Die Experten schlossen 763 Arztpraxen aus UK QResearch mit insgesamt
454 575 Patienten in ihre Studie ein. In dieser Kohorte kam es während des Beobachtungszeitraums zu 4822 Beinamputationen und zu 8063 Erblindungen. Nach der Erstellung des Risikorechners erfolgte eine erste Validierung anhand der Patientendaten aus 254 anderen QResearch-Praxen (142 419 Patienten). Für die externe Validierung des Risikorechners zogen die Experten Patientendaten aus 357 Arztpraxen (206 050 Patienten) heran, die in der britischen Datenbank Clinical Practice Research Datalink (CPRD) registriert worden waren.
Amputationen
Im finalen Rechenmodell zur Abschätzung des Amputationsrisikos bei Frauen wurden das Alter, der systolische Blutdruck, der HbA1c-Wert, der soziale Status, die Diabetesdauer, der Raucherstatus und die Ethnie berücksichtigt. Des Weiteren wird abgefragt, ob eine rheumatoide Arthritis, eine Herzinsuffizienz, eine periphere vaskuläre Erkrankung oder eine chronische Nierenerkrankung vorliegt. Das Rechenmodell für Männer beinhaltete zusätzlich Fragen nach dem Diabetestyp und dem Auftreten von Vorhofflimmern. Der Body-Mass-Index (BMI) und der Gesamtcholesterin/«High-density»-Lipoprotein (HDL)-Cholesterin-Quotient waren bei Männern und Frauen nicht signifikant mit dem Amputationsrisiko assoziiert. Im Rahmen der Rechenmodellentwicklung zeigte sich bei Frauen im Vergleich zu Männern eine ausgeprägtere Verbindung zwischen Rauchen und Amputationsrisiko. In der Gruppe der starken Raucher war das Amputationsrisiko im Vergleich zu Nichtrauchern bei Frauen um das 1,9-Fache und bei Männern um das 1,3-Fache erhöht. Eine periphere vaskuläre Erkrankung war mit dem höchsten Amputationsrisiko assoziiert. Bei Frauen war es vierfach und bei Männern dreifach erhöht. Das zweithöchste Amputationsrisiko ermittelten die Forscher bei Diabetespatienten mit einer chronischen Nierenerkrankung: Bei Frauen lag ein 2,7-fach und bei Männern ein 2,3-fach erhöhtes Risiko vor.
Erblindung
Im Rechenmodell zur Einschätzung des Erblindungsrisikos wurden für Frauen
ARS MEDICI 21 I 2016
993
STUDIE REFERIERT
UK Postcode) genutzt werden. Zudem sollte eine Validierung anhand lokaler Patientendaten vorgenommen werden, da in anderen Ländern möglicherweise andere Komplikationsraten auftreten oder eine andere Verteilung der Risikofaktoren vorliegen könnte.
Abbildung: Internetbasierter Risikorechner mit Beispielberechnung für eine 50-jährige Frau
und Männer das Alter, der Gesamtcholesterin/HDL-Cholesterin-Quotient, der systolische Blutdruck, der HbA1cWert, der Sozialstatus, die Diabetesdauer und der Diabetestyp sowie das Vorliegen chronischer Nierenerkrankungen, einer proliferativen Retinopathie oder einer Makulopathie berücksichtigt. Der BMI oder der Raucherstatus war nicht signifikant mit dem Erblindungsrisiko assoziiert. Eine proliferative Retinopathie oder eine Makulopathie erwies sich als bedeutendster Risikofaktor für die Erblindung – hier bestand im Vergleich zu Personen ohne diese Erkrankung bei Frauen ein 2,7-fach und bei Männern ein 2,9-fach erhöhtes Risiko.
Internetbasierter Risikorechner
Die Risikogleichungen wurden in einem internetbasierten Risikorechner zusammengefasst, der unter qdiabetes. org/amputation-blindness/index.php zur Verfügung steht (Abbildung). Mithilfe des Risikorechners können das Erblindungs- und das Beinamputationsrisiko über einen Zeitraum von einem Jahr bis zu zehn Jahren ermittelt werden.
Diskussion
Nach Kenntnis der Autoren handelt es sich bei ihrem Risikorechner um das erste Instrument zur Abschätzung des 10-Jahres-Riskos für Beinamputationen und Erblindung bei erwachsenen Patienten mit Diabetes Typ 1 oder 2. Ihrer Ansicht nach trägt das neue Tool zu einem besseren (Selbst-)Management
der Erkrankung bei. Studien zufolge überschätzen viele Diabetespatienten ihr Amputations- und Erblindungsrisiko. Dies könnte zwar zu einer besseren Therapietreue führen, fördert jedoch eher Ängste oder Depressionen. Eine präzise Information zum persönlichen Komplikationsrisiko kann Betroffenen dagegen helfen, informierte Entscheidungen im Hinblick auf ihre individuelle Behandlung zu treffen. Ärzten und Gesundheitsdiensten ermöglicht der Risikorechner eine bessere Risikostratifizierung von Diabetespatienten und damit eine individuell angepasste Betreuung sowie eine gezieltere Verwendung finanzieller Ressourcen. So könnten Patienten mit hohem Erblindungsrisiko von einem engmaschigen Retinopathiescreening und einer frühzeitigen Behandlung profitieren. Bei Patienten mit erhöhtem Amputationsrisiko wäre wiederum ein spezielles Präventionsprogramm von Nutzen. Eine bessere Information zum absoluten Risiko für Amputation und Erblindung könnte zudem eine gezielte intensivere Behandlung individueller modifizierbarer Risikofaktoren, wie eine Senkung des HbA1c-Werts und eine striktere Blutdruckkontrolle, veranlassen. Abschliessend weisen die Autoren darauf hin, dass die Algorithmen anhand britischer Patientendatenbanken entwickelt wurden. Allerdings kann der Risikorechner auch in anderen Ländern unter Verwendung lokal relevanter Angaben zum sozialen Status (anstatt
Kommentar
Azeem Majeed vom Imperial College
in London (Grossbritannien) und Ma-
riam Molokhia vom Kings College in
London weisen im Editorial darauf hin,
dass ältere Studien zur Risikovorher-
sage bei Diabetespatienten auf einem
wesentlich geringeren Datenumfang
basierten (2). So umfasste die UK Pro-
spective Diabetes Study (UKPDS) nur
5100 Patienten, bei denen 116 Erblin-
dungen und 45 Amputationen beob-
achtet wurden.
Im Gegensatz dazu wurden die neuen
Vorhersagemodelle anhand einer gros-
sen Population entwickelt, in der es zu
annähernd 5000 Erblindungen und
mehr als 8000 Beinamputationen kam.
Die in diesen Modellen berücksichtig-
ten Risikofaktoren (Alter, Ethnie, Blut-
druck, sozialer Status, HbA1c-Wert, Raucherstatus) entsprechen zwar den
erwarteten, die Quantifizierung jedes
einzelnen Risikofaktors ist nach An-
sicht der Kommentatoren jedoch von
grosser Bedeutung.
Diabetespatienten können sich nun
über ihr persönliches Risiko für diese
Komplikationen informieren. Des Wei-
teren kann ihnen anhand des Rechners
aber auch aufgezeigt werden, wie sie
durch Änderungen ihres Lebensstils –
etwa durch Beendigen des Rauchens
oder durch eine bessere glykämische
Kontrolle – ihr Risiko selbst beeinflus-
sen können. So kann eine patientenzen-
triertere Versorgung von Diabetikern
erreicht werden.
O
Petra Stölting
Quellen: 1. Hippisley-Cox J, Couplan C: Development and valida-
tion of risk prediction equations to estimate future risk of blindness and lower limb amputation in patients with diabetes: cohort study. BMJ 2015; 351: h5441 und Kommentar dazu: 2. Majeed A, Mokokhia M: Identifying people with diabetes at high risk of blindness and amputation. BMJ 2015; 351: h5643.
Interessenlage: Beide Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
994
ARS MEDICI 21 I 2016