Transkript
BERICHT
Trauer, Angst und sozialer Rückzug im Alter
Steckt eine Depression dahinter, und was ist für die Behandlung wichtig?
Eine gewisse Schwermut und wachsende Ängste im Alter halten viele für «normal». Doch das sei völlig falsch, betonte Dr. med. Josef Hättenschwiler an einem Symposium an der Jahrestagung der Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie in Basel. Vielmehr gelte es, Depressionen zu erkennen und eine für den Patienten geeignete Therapie einzuleiten.
Renate Bonifer
Traurigkeit, übermässige Angst, sozialer Rückzug und nachlassende Lebensfreude halten viele für eine mehr oder weniger normale Begleiterscheinung des Alters. Dr. med. Josef Hättenschwiler, Zentrum für Angst- und Depressionsbehandlung Zürich, ist da ganz anderer Ansicht: «Das ist nicht normal, vielmehr sind Depression und Angststörungen die häufigsten psychischen Krankheiten im Alter», sagte er am Psychiatrie-Kongress in Basel. «Angst und Depression gehen häufig Hand in Hand», fügte er hinzu. Angststörungen gelten als Risikofaktor für das Entwickeln einer Depression. So finden sich bei rund 70 Prozent der Patienten mit einer Depression Angststörungen in der Anamnese, und bei rund der Hälfte
«Nicht behandelte Depressionen und
Angststörungen sind Hauptursache für die
sehr hohe Suizidrate der älteren Bevölke-
rung, insbesondere bei den Männern.»
der ambulanten depressiven Patienten liegt gleichzeitig eine Angststörung vor, im stationären Bereich sei das sogar bei fast allen so, sagte Hättenschwiler. Eine spezielle «Altersdepression» gebe es aber nicht, sondern eine Depression äussere sich in jedem Alter mit ganz ähnlichen Symptomen. Die Prävalen-
zen manifester Angststörungen und Depressionen seien ebenfalls kaum vom Alter beeinflusst. Sie liegen ab einem Alter von 65 Jahren nach Angaben aus der Literatur bei 14 Prozent für die Angststörungen (wobei Frauen davon gut doppelt so häufig betroffen sind wie Männer) und bei 9 Prozent für die Depression. Was jedoch im Alter sehr viel häufiger vorkomme, sei eine subsyndromale Symptomatik von Angst und Depression, nämlich bei 18 Prozent der älteren gegenüber nur 8 Prozent der jüngeren Bevölkerung, erläuterte der Referent. Er betonte die grosse Bedeutung einer adäquaten Behandlung, denn «nicht behandelte Depressionen und Angststörungen sind die Hauptursache für die sehr hohe Suizidrate der älteren Bevölkerung, insbesondere bei den Männern».
Organische Ursachen
nicht ausblenden
Bei typischer Depressionssymptomatik werden potenzielle organische Ursachen häufig übersehen. «Man darf das Somatische nicht ausblenden, auch wir als Psychiater und Psychologen dürfen das nicht», forderte Hättenschwiler. Er betonte, dass jeder Patient mit der Diagnose «Depression» zuerst einmal gründlich von einem Arzt klinisch abgeklärt werden müsse. Das werde jedoch in der Schweiz zu selten gemacht.
Als eindrückliches Beispiel schilderte Hättenschwiler den Fall eines 63-Jährigen, der zunächst als depressiv diagnostiziert worden war. Die klinische Untersuchung mit dem Erfassen diverser Blutwerte führte schliesslich auf die richtige Spur: Der Mann litt unter einem Hirntumor, den man glücklicherweise chirurgisch entfernen konnte – mit durchschlagendem Erfolg und prompter Heilung der Depression. Besonders bei später Erstmanifestation einer Depression sollte man an die Möglichkeit einer somatischen Erkrankung denken, empfahl Hättenschwiler. Sie könnte allerdings auch Zeichen einer beginnenden Demenz sein.
Komorbiditäten sind die Regel Körperliche Erkrankungen sind im Alter häufig. Sie verschlechtern die Prognose bezüglich der Depression. Umgekehrt gilt das Gleiche: Depressive
Kasten:
ABCB1-Test
Der ABCB1-Test gibt Auskunft darüber, ob eine bestimmte genetische Variante vorliegt, welche die Passage von Antidepressiva durch die BlutHirn-Schranke hemmt. Sie bestimmt, wie gut Antidepressiva bei einem bestimmten Patienten überhaupt in das Gehirn gelangen können. Dies ist je nach Genvariante unterschiedlich. Mit dem Test kann im Voraus abgeklärt werden, wie wahrscheinlich das Ansprechen auf Antidepressiva und welche Dosis sinnvoll ist beziehungsweise ob am Ende ausser Nebenwirkungen nicht viel zu erwarten sein dürfte. Unnötige Medikationen könnten so vermieden und die Behandlung mit Antidepressiva individuell angepasst werden (Test bei Viollier verfügbar).
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BERICHT
Tabelle 1:
Antidepressiva bei Komorbiditäten gemäss Nebenwirkungsprofil auswählen
Komorbidität orthostatische Hypotonie Hypertonie Herz-Kreislauf-Erkrankungen extrapyramidale Symptome epileptische Krampfanfälle Status nach Hirninsult Morbus Parkinson Demenz Gewichtszunahme
Diabetes Schlafstörungen
sexuelle Dysfunktion
Geeignete Antidepressiva SSRI, Moclobemid, Venlafaxin, Duloxetin, Agomelatin SSRI, Mirtazapin, Agomelatin SSRI, Mianserin, Mirtazapin, Moclobemid Mirtazapin, Reboxetin, Agomelatin Mocolobemid, Citalopram, Sertralin SSRI, Reboxetin, Mirtazapin SSRI SSRI, Moclobemid, Trazodon Moclobemid, Venlafaxin, Reboxetin, Trazodon, Duloxetin, Bupropion, Agomelatin SSRI, Agomelatin Mirtazapin, Mianserin, Trazodon, Agomelatin, Trimipramin Mirtazapin, Mianserin, Moclobemid, Duloxetin, Bupropion, Trazodon, Agomelatin
nach Holsboer-Trachsler E, Holsboer F: Antidepressiva. Handbuch der Psychopharmakotherapie 2012.
Tabelle 2:
Integrative Therapie bei depressiven Episoden im Alter
Somatische Begleittherapie
immer wichtig
Psychotherapie
immer begleitende Gespräche als «Basis-Psychotherapie» spezifische Psychotherapie nach Bedarf
Medikamente
bei mittelschwerer bis schwerer Depression bei leichter Depression, falls Psychotherapie nichts bringt, anamnestisch schwerere Episoden und/oder ein gutes früheres Ansprechen bekannt sind oder auf Wunsch des Patienten
chronobiologische Verfahren
Schlafentzug, Lichttherapie gute Wirksamkeit, wird noch zu selten gemacht
Stimulationsverfahren
Elektrokrampftherapie (EKT), transkranielle Magnetstimulation (rTMS), Vagusnervstimulation (VNS), EKT kann jederzeit in Erwägung gezogen werden, Evidenz für rTMS und VNS ist niedriger als für die EKT
Milieu- und soziotherapeutische Tagesklinik, Spitex, psychiatrische Spitex Massnahmen
nach: J. Hättenschwiler am SGPP-Kongress in Basel
Patienten haben schlechtere Karten, wenn es um die Prognose somatischer Erkrankungen geht.
Zu den somatischen Risikofaktoren für Depressionen zählen zerebrovaskuläre Erkrankungen (vor allem Schlaganfälle),
kardiologische und onkologische Krankheiten, Diabetes, Hypothyroidismus, Vitamin-B12-Mangel und Mangelernährung sowie neurologische Erkrankungen wie Demenz oder Parkinson. Nicht zuletzt können auch Medikamentenwechselwirkungen gefährlich werden. Wie bei der Diagnose ist es auch bei der Behandlung wichtig, somatische Faktoren nicht ausser Acht zu lassen. Die somatische Begleittherapie sei genauso wichtig wie Massnahmen, die direkt auf Depression und Angst einwirken sollen, betonte der Referent.
«Man darf das Somatische nicht
ausblenden.»
Welche Therapie?
Die therapeutischen Optionen sind im Prinzip die gleichen wie für jüngere Patienten. Je nachdem wird zunächst eine alleinige Psychotherapie (leichte Depression) oder Psychotherapie und/ oder Pharmakotherapie (mittelschwere bis schwere Depression) empfohlen. In allen Fällen ist die Wirksamkeit schon bald zu überprüfen. Falls sich trotz adäquater Dosierung eines Antidepressivums nach 2 bis 4 Wochen keine rechte Wirkung einstellen will, wird der ABCB1-Gentest empfohlen, um den Antidepressivametabolismus des Patienten abzuklären (Kasten). Gerade im Alter spielt das Nebenwirkungsprofil von Psychopharmaka eine entscheidende Rolle bei der Auswahl des richtigen Medikaments für den jeweiligen Patienten; in Tabelle 1 sind einige Vorschläge zusammengefasst. Doch es müssen nicht immer Medikamente sein. Hättenschwiler betonte ausdrücklich, dass chronobiologische Verfahren (Schlafentzug, Lichttherapie) gerade bei Depressionen im Alter sehr gut und wirksam seien, leider aber noch viel zu selten eingesetzt würden. Ebenso nannte der Referent die Elektrokrampftherapie (EKT) als Option, falls andere Massnahmen nichts gebracht haben. Dies dürfte manchen Zuhörer erstaunt haben. Drohen hier nicht Risiken für die Kognition? Nein, meinte Hättenschwiler, und präsentierte eine neuere Studie* mit 240 Patienten, von denen 172 die Studie beendeten. Demnach ist die EKT bei über 60-jährigen Patienten gut wirksam und
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in Kombination mit Antidepressiva einer rein medikamentösen Behandlung überlegen. Für die über 70-Jährigen seien die Resultate sogar noch besser ausgefallen. Bezüglich der Kognition habe man nach der EKT keine Verschlechterung im folgenden halben Jahr feststellen können. In Tabelle 2 sind alle Bausteine einer integrativen Therapie bei depressiven Episoden im Alter zusammengefasst.
Und die Benzodiazepine?
Um das Für und Wider der Benzodiaze-
pine wird immer wieder gestritten. Sie
seien prinzipiell auch im höheren Alter
sicher und wirksam, dürften aber wirk-
lich nur niedrig dosiert und so kurz wie
möglich gegeben werden, sagte Hätten-
schwiler. Dies kann zum Beispiel in Kri-
sensituationen oder auch als Begleit-
therapie bis zum Einsetzen der Anti-
depressivawirkung sinnvoll sein. Da
der Metabolismus im Alter langsamer
abläuft, kommt es eher zu Neben-
wirkungen, Stürzen oder kognitiven
Störungen. Eine Langzeittherapie mit
Benzodiazepinen sei, wenn überhaupt,
nur bei einer echten Therapieresistenz
denkbar. Der Referent empfahl generell
kurz wirksame Substanzen ohne akti-
ven Metaboliten, zum Beispiel Loraze-
pam oder Oxazepam, und wies darauf
hin, dass der Entzug sehr langsam und
vorsichtig erfolgen müsse.
O
Renate Bonifer
Quelle: «Depression, Angst und körperliche Komorbiditäten im Alter», Vortrag von Josef Hättenschwiler am Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) an der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP) in Basel am 18. August 2016.
* Kellner CH et al.: Right unilateral ultrabrief pulse ECT in geriatric depression: phase 1 of the PRIDE Study. Am J Psych 2016; epub ahead of print July 15, 2016. Kellner CH et al.: A novel strategy for continuation ECT in geriatric depression: phase 2 of the PRIDE Study. Am J Psych 2016; epub ahead of print July 15, 2016.