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Autonome Neuropathie bei Diabetes mellitus
An einem Symposium im Rahmen der Fortbildungsveranstaltung «Innere Medizin fachübergreifend – Diabetologie grenzenlos» wurden wichtige Aspekte der diabetischen autonomen Neuropathie dargestellt. Diabetesbedingte Schäden des autonomen Nervensystems werden in der Regel lange Zeit nicht erkannt, können aber massive Beschwerden verursachen.
Claudia Borchard-Tuch
Nervenschäden gehören zu den schwersten Folgen hoher Blutzuckerspiegel. Mit zunehmender Dauer einer diabetischen Erkrankung und schlechter Einstellung erhöht sich das Risiko. Schäden an peripheren Nerven gehen oft mit starken Schmerzen und Missempfindungen an Füssen und Beinen einher. Eine schwere Komplikation ist das diabetische Fusssyndrom. Schäden an parasympathischen oder sympathischen Nerven sind weit weniger bekannt als die periphere oder sensomotorische Neuropathie. Die autonome Neuropathie (ANP) kann fast jedes Organ betreffen. Zunächst beginnt sie mit eher unspezifischen Symptomen (z.B. Ruhetachykardie, Obstipation oder Diarrhö). Welche schweren Folgen eine ANP auf das Herz-Kreislauf-System, den Gastrointestinalbe-
MERKSÄTZE
O Die diabetische autonome Neuropathie geht mit schweren Schäden an parasympathischen und sympathischen Nerven einher und kann prinzipiell jedes Organ betreffen.
O Die kardiale autonome diabetische Neuropathie ist mit höchsten Gefahren für den Patienten verbunden, betroffen sind häufig aber auch Gastrointestinalbereich und Urogenitaltrakt.
reich und den Urogenitaltrakt hat, wurde durch die Vorträge der Experten deutlich.
Herz-Kreislauf-System
Die kardiale autonome diabetische Neuropathie (KADN) ist mit höchsten Gefahren für den Betroffenen verbunden. «Die 5-Jahres-Sterblichkeit liegt bei über 50 Prozent», erklärte Dr. Kornelia Konz, Wiesbaden. «Zurzeit gibt es noch kein geeignetes Screeningverfahren zur Frühdiagnose.» Dabei ist das Herz besonders häufig und früh betroffen. Bereits im prädiabetischen Stadium können Nerven im kardiovaskulären System geschädigt werden. Zu Anfang sind oft dünne, nicht myelinisierte Nervenfasern betroffen. Die Symptomatik ist unspezifisch. Zusätzlich zu einer Ruhetachykardie können die zirkadiane Rhythmik von Herzfrequenz und Blutdruck gestört und die Herzfrequenzvariablität eingeschränkt sein. Oftmals bemerkt dies der Betroffene kaum. Schreitet die KADN fort, sind auch sympathische Nervenfasern betroffen. Dann treten Schwindel und orthostatische Hypotonie auf, was den Betroffenen erheblich belastet. Die Gefahr eines Kreislaufkollapses, von Herzrhythmusstörungen und myokardialer Ischämie erhöht sich. Es kann zu einem plötzlichen Herztod kommen. Im EKG zeigen sich eine verlängerte QT-Zeit und eine hohe Ruhefrequenz, vor allem in der Nacht.
Bei KADN sind Hypoglykämien besonders gefährlich. Sie können kardiale Arrhythmien auslösen und zum Herzinfarkt führen. Über die Hälfte der Hypoglykämien tritt nachts auf und wird nicht bemerkt. Grundlagen der Therapie sind eine gute Einstellung sowie Verzicht auf Alkohol und Nikotin. Bei Orthostase können Kompressionsstrümpfe getragen werden. Mässiges körperliches Training ist zu empfehlen, sollte aber entsprechend ärztlicher Beratung erfolgen.
Gastrointestinalbereich
Höchst unterschiedlich kann sich eine ANP im Bereich des Gastrointestinaltrakts zeigen. So kann es zu Obstipation, Diarrhö, Blähungen oder Übelkeit kommen. «Wenn Diabetespatienten über solche Beschwerden klagen, muss dies abgeklärt werden», sagte Dr. Felix Gundling, München. Zöliakie, ein chronisch entzündlicher Darm, maligne Erkrankungen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen sollten ausgeschlossen werden. Oft besteht eine Gastroparese, bei welcher die Magenentleerung verzögert ist, ohne dass eine mechanische Obstruktion besteht. Feste Nahrung verbleibt bei dem Patienten manchmal doppelt so lange im Magen wie bei Gesunden. Typische Symptome sind ein frühes Gefühl der Sättigung, Würgen und Erbrechen sowie Übelkeit und Schmerzen im Oberbauch. Insbesondere bei Diabetestherapie besteht die Gefahr einer postprandialen Hypoglykämie, da die Kohlenhydrate nur langsam aus der Nahrung absorbiert werden. Laut Studienergebnissen stehen mehr als 29 Prozent der Gastroparesen in Zusammenhang mit einem Diabetes. Besteht ein Diabetes über zehn Jahre, sind bei Typ 1 5,2 Prozent und bei Typ II 1 Prozent der Patienten betroffen. Bei
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einer Gastroparese kommt es zu einer signifikanten Erhöhung der Mortalität. Zunächst sollte der Patient mit einer Diät beginnen, bestehend aus vielen kleinen Mahlzeiten, die arm an Fetten und Ballaststoffen sind. Pürierte Kost eignet sich besser als feste Nahrung. Auf Alkohol, Nikotin und kohlensäurehaltige Getränke sollte verzichtet werden. Eine gute Einstellung des Diabetes ist von hoher Bedeutung. Eine zeitlich begrenzte Therapie mit Prokinetika (Metoclopramid, Domperidon) oder dem Serotonin-(5HT4-)RezeptorAgonisten Prucolaprid kann durchgeführt werden. Es wird aber immer mehr die symptomatische Therapie mit Antiemetika und Analgetika bevorzugt. Bei schweren Verlaufsformen kann ein «Magenschrittmacher» implantiert werden, welcher eine gastrale Elektrostimulation ermöglicht. Vielfältig und von geringer Spezifität sind auch die Symptome einer Refluxerkrankung als Folge einer diabetischen ANP. Sie äussert sich mit Sodbrennen, Heiserkeit, Hals- und Kehlkopfentzündung, Dysphagie oder Schmerzen in der Brust. Die Zähne werden durch die Säure beschädigt. Leidet der Patient unter diesen Beschwerden, muss eine Gastroskopie durchgeführt werden. Bei Übergewicht sollte das Gewicht reduziert werden. Auf späte Mahlzeiten sollte verzichtet werden. Bei starken Beschwerden sind Protonenpumpeninhibitoren indiziert. Motilitätsstörungen in Dünnund Dickdarm können sich als Obstipation oder Diarrhö äussern. Hier wird symptomatisch behandelt.
Urogenitalsystem
Eine autonome Neuropathie kann eine Vielzahl von Beschwerden im Urogeni-
taltrakt verursachen. «Je länger der Diabetes andauert, desto häufiger treten diese Probleme auf», erklärte Prof. Dr. David Schilling, München. Speicher- und Entleerungsstörungen stehen oft nebeneinander. Nach etwa zehnjähriger Krankheitsdauer kommt es bei diabetischen Männern oftmals zu einer erektilen Dysfunktion (ED), welche die Betroffenen sehr belastet. PDE-(Phosphodiesterase-)5-Hemmer sind die Therapie der Wahl. Wegen der langen Halbwertszeit ist Tadalafil zu empfehlen. In einer Dosierung von 5 mg täglich ist es zur Therapie der benignen Prostatahyperplasie (BPH) zugelassen. Die Autoinjektion von Alprostadil in den Schwellkörper birgt die Gefahr einer Dauererektion. Nur sehr selten werden Schwellkörperprothesen implantiert. Während es bei Männern häufig zu Dysurie, Harndrang, retrograder Ejakulation und ED kommt, leiden Frauen unter neurogenen Blasenfunktionsstörungen, hyperaktiver Blase, Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, klitoraler Dysfunktion und vaginaler Hyposensitivität. Die obstruktive Prostatahyperplasie bei Männern und die Beckenbodeninsuffizienz bei Frauen verstärken die Problematik. Die Blasendysfunktion kann voranschreiten. Nach einer anfänglichen Überempfindlichkeit und Hyperkontraktilität geht die Blase mit ständigem Harndrang und Dranginkontinenz in einen atonen Zustand über, die sogenannte diabetische Zystopathie. In ihrer Spätform sind Hyperkapazität und Hypokontraktilität charakteristisch. Die Patienten empfinden nicht mehr, dass ihre Blase gefüllt ist, und auch keinen Harndrang. Der Urin geht unvollständig ab.
Es gibt kaum therapeutische Möglichkeiten zur Behandlung einer atonen Blase. Daher müsse verhindert werden, dass sie entstehe, so Schilling. Die Behandlung einer Blasendysfunktion beginnt mit allgemeinen Massnahmen. Abends sollte weniger getrunken werden, um den nächtlichen Harndrang zu verringern. Auf Alkohol sollte verzichtet und das Körpergewicht sollte verringert werden. Auch Beckenbodentraining ist empfehlenswert. Anticholinergika gehören zu den wichtigsten Medikamenten zur Behandlung einer Hyperaktivität der Detrusormuskulatur. Von Nachteil sind zahlreiche, teilweise recht unangenehme Nebenwirkungen wie Mundtrockenheit, Schläfrigkeit, Schwindel und Verstopfung. Trospiumchlorid hat die geringsten Wirkungen auf das Zentralnervensystem. Imipramin und Duloxetin, die den Detrusor entspannen und den Sphinktertonus erhöhen, werden wegen der zentralen Nebenwirkungen nur selten verwendet. Die geringste Zahl von Studienabbrüchen hatte Tolterodin. Für Männer mit BPH sei Tamsulosin besonders geeignet, so Schilling. Jedoch könne eine retrograde Ejakulation auftreten. Patienten mit diabetischer Zystopathie bekommen laut Schilling gelegentlich noch Parasympathomimetika wie Bethanechol; jedoch sei der Erfolg gering. Bei komplett atoner Blase sei eine Entleerung mithilfe von Einmalkathetern oft die einzig mögliche Therapie. O
Claudia Borchard-Tuch
Quelle: «Autonome Neuropathie bei Diabetes mellitus», Symposium im Rahmen der Fortbildungsveranstaltung «Innere Medizin fachübergreifend – Diabetologie grenzenlos», München, 18. Februar 2016.
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