Transkript
FORTBILDUNG
Aktuelle MS-Therapie – eine Übersicht
Bis anhin ist die Multiple Sklerose nicht heilbar, sie kann aber medikamentös kontrolliert werden. In einer Übersichtsarbeit haben norwegische Wissenschaftler den aktuellen Wissensstand zu den Immunmodulatoren zusammengestellt, die derzeit in Europa zur Behandlung der schubförmig remittierenden Multiplen Sklerose zugelassen sind. Des Weiteren geben die Forscher Hinweise zu den wichtigsten Behandlungsstrategien.
European Journal of Neurology
Die Multiple Sklerose (MS) gehört zu den häufigsten Ursachen von Behinderungen bei jungen Menschen. Bei Patienten mit schubförmig remittierender MS (RRMS) wird gelegentlich ein «gutartiger» Krankheitsverlauf mit wenigen Einschränkungen beobachtet. In den meisten Fällen nimmt der Grad der Behinderung jedoch mit der Zeit zu. Bei manchen Patienten entwickelt sich auch eine sekundär-progrediente MS (SPMS). Bis anhin ist keine Heilung der Erkrankung möglich. Derzeit stehen jedoch immunmodulierende Medikamente mit antientzündlichen Eigenschaften zur Krankheitskontrolle zur Verfügung. In Phase-III-Studien verringerten diese Substanzen bei RRMS die jährliche Schubrate, verlangsamten die Behinderungsprogression und reduzierten die im Magnetresonanztomogramm (MRT) sichtbaren Läsionen im Gehirn. Als Behandlungsziel wird eine Remission angestrebt.
MERKSÄTZE
O Bei den meisten RRMS-Patienten wird mit First-Line-Medikamenten begonnen und bei fortschreitender Erkrankung zu stärker wirksamen Second-Line-Medikamenten gewechselt.
O Bei aktiveren MS-Formen wird sofort mit Second-LineMedikamenten begonnen.
O Alle zugelassenen Immunmodulatoren verringern die Schubrate, verlangsamen die Behinderungsprogression und reduzieren die im MRT sichtbaren Läsionen im Gehirn.
First-Line-Medikamente
Interferon beta: Bei Interferon beta handelt es sich um ein natürliches Polypeptid, das vorwiegend in den Fibroblasten produziert wird. Der antientzündliche Effekt resultiert vermutlich unter anderem aus der Hemmung der Proliferation der T-Lymphozyten und einer Hemmung der Migration von Entzündungszellen durch die Blut-Hirn-Schranke. Rekombinantes Interferon beta steht als Interferon beta-1a (Avonex®, Rebif®) oder Interferon beta-1b (Betaferon®) zur Verfügung. Interferon beta-1b wird in einer Dosis von 250 µg subkutan jeden zweiten Tag appliziert. Interferon beta-1a wird in einer Dosis von 30 µg einmal wöchentlich intramuskulär oder subkutan in einer Dosierung von 22 µg oder 44 µg dreimal in der Woche injiziert. Mittlerweile wurde auch Peginterferon beta-1a (Plegridy®) als Injektionslösung in Dosierungen von 63 µg, 94 µg und 125 µ/ml zur Behandlung der RRMS zugelassen. Das Medikament wird alle zwei Wochen subkutan appliziert (Quelle für Peginterferon beta-1a: Pharmawiki). Interferon beta kann eine Bildung neutralisierender Antikörper (NAB) induzieren. Diese entwickeln sich meist innerhalb von 6 bis 18 Monaten nach Behandlungsbeginn und sind mit einer Verminderung der Medikamentenwirksamkeit verbunden. Bei stabiler MS wird bei einer Entwicklung von NAB ein Wechsel zu einem nicht interferonhaltigen First-Line-Medikament empfohlen. Bei Schubaktivität sollte ein Wechsel zu einem Second-Line-Medikament vorgenommen werden. Glatirameracetat: Glatirameracetat (Copaxone®) besteht aus einem Gemisch synthetischer Proteine, die dem basischen Myelinprotein (MBP) ähneln. Der Wirkmechanismus ist noch nicht vollständig geklärt. Glatirameracetat wird einmal täglich subkutan in einer Dosierung von 20 mg injiziert. Bei klinisch isolierten Syndromen (CIS) mit stummen MRTLäsionen verlängerte Glatirameracetat signifikant die Zeit bis zu einem zweiten Schub und senkte zudem das Risiko für neue Gehirnläsionen. Als schwere Nebenwirkungen wurden Lymphadenopathien und persistierende Lipoathrophien beobachtet. Teriflunomid: Der Immunmodulator Teriflunomid (Aubagio®) reduziert die Anzahl zirkulierender Lymphozyten. Das Medikament wird in Tablettenform in einer Dosierung von 14 mg täglich appliziert. Bei CIS war Teriflunomid mit einer signifikanten Verlängerung der Zeit bis zum zweiten Schub und einer Reduzierung der Läsionen im Gehirn verbunden. Während der Behandlung mit Teriflunomid muss die Leberfunktion überwacht werden. Überschreiten die Lebertransaminasewerte im Serum das Dreifache des Normalwerts, sollte das Medikament
922
ARS MEDICI 20 I 2016
FORTBILDUNG
< Nebenwirkungen > >
< Schubaktivität > < Nebenwirkungen > < Risikostratifizierung >
>
First-Line-Therapie
Dimethylfumarat Teriflunomid Interferon beta Glatirameracetat Fingolimod*
> >
Schubaktivität
Second-Line-Therapie
Natalizumab Alemtuzumab**
Risikostratifizierung
Schubaktivität
Experimentelle Therapie
«Off-label»-/experimentelle Behandlung
Risikostratifizierung
Autologe hämatopoetische Stammzelltransplantation
*Fingolimod ist anders als in den Ländern der Europäischen Union (EU) in der Schweiz als First-Line-Medikament zur Behandlung der RRMS zugelassen. **Alemtuzumab ist in der EU und in der Schweiz auch als First-Line-Medikament zugelassen.
Abbildung: Behandlungsalgorithmus für behandlungsnaive Patienten mit schubförmig remittierender Multipler Sklerose (RRMS) (modifiziert nach Torkildsen et al., 2015)
abgesetzt werden. Eine Überwachung der weissen Blutkörperchen und der Plättchenzahl wird ebenfalls empfohlen. Dimethylfumarat: Bei Dimethylfumarat (Tecfidera®) handelt es sich um einen Immunmodulator mit entzündungshemmenden Eigenschaften, dessen Wirkmechanismus nur teilweise bekannt ist. Das Medikament wird zweimal täglich oral als Kapsel in einer Dosierung von 240 mg eingenommen. Dimethylfumarat kann mit einer Reduzierung der weissen Blutzellen und einer Erhöhung der Lebertransaminasewerte im Serum verbunden sein. Die Behandlung sollte beendet werden, wenn die Lebertransaminasewerte das Dreifache des Normalwerts übersteigen. In Einzelfällen wurde eine durch das John-Cunningham-Virus (JCV) verursachte progressive multifokale Leukoenzephalopathie (PML) beobachtet. Bei persistierender schwerer Lymphopenie (< 500 Zellen/mm³) besteht vermutlich ein erhöhtes Risiko für PML, sodass Dimethylfumarat bei JVC-positiven Patienten mit persistierender Lymphopenie abgesetzt werden sollte. Fingolimod: Der Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulator Fingolimod (Gilenya®) hemmt den Übertritt autoreaktiver Lymphozyten aus den Lymphknoten in das ZNS. Das Medikament wird einmal täglich oral in einer Dosierung von 0,5 mg appliziert. In der Schweiz ist Fingolimod als FirstLine-Medikament, in den anderen Ländern Europas als Second-Line-Medikament zur Behandlung der RRMS zugelassen. In einer Studie reduzierte Fingolimod im Vergleich zu intramuskulärem Interferon beta-1a (30 µg 1-mal wöchentlich) die annualisierte Rezidivrate (annualized relapse rate, ARR) um 52 Prozent und verminderte die gadoliniumanreichernden Läsionen im Gehirn um mehr als 50 Prozent. Fingolimod kann zu einer vorübergehenden Bradykardie und einem atrioventrikulären Block führen. Bei Behandlungsbeginn ist daher eine entsprechende Überwachung erforderlich. Bei Patienten mit Herzrhythmusstörungen oder bei Einnahme von bradykardieinduzierenden Medikamenten sollte Fingolimod nicht angewendet werden. In seltenen Fällen wurden erhöhte Leberenzymwerte und Makulaödeme beobachtet. Zudem ereignete sich ein Todesfall aufgrund einer primären Varizella-Zoster-(VZ-)Infektion. Bei negativem VZ-Nachweis sollte daher vor Behandlungsbeginn eine Impfung vorgenommen werden. Im Juni 2016 informierte Novartis über vereinzelte PML-Erkrankungen im Zusammenhang mit Fingolimod. Second-Line-Medikamente Natalizumab: Der gegen Alpha-4-Integrin gerichtete monoklonale Antikörper Natalizumab (Tysabri®) verhindert die Anhaftung aktivierter Leukozyten an das entzündete Endothel und unterbindet die Migration von Entzündungszellen in das ZNS. Natalizumab wird alle vier Wochen als intravenöse Infusion in einer Dosierung von 300 mg zugeführt. Im Zusammenhang mit Natalizumab besteht ein erhöhtes PML-Risiko. Vor Behandlungsbeginn sollte deshalb ein entsprechendes Screening vorgenommen werden. JVC-positive Patienten, die länger als zwei Jahre mit Natalizumab behandelt wurden, sollten auf ein anderes Second-Line-Medikament umgestellt werden. Zudem können sich unter Natalizumab innerhalb der ersten zwölf Behandlungsmonate NAB bilden, welche die Wirksamkeit reduzieren und das Risiko für infusionsbedingte unerwünschte Ereignisse erhöhen. Alemtuzumab: Bei Alemtuzumab (Lemtrada®) handelt es sich um einen rekombinanten humanen monoklonalen Antikörper, der an das Glykoprotein CD52 auf der Oberfläche der T- und B-Lymphozyten bindet und diese so zerstört. Alemtuzumab wird in zwei Zyklen appliziert. Die erste Behandlung erfolgt als intravenöse Infusion von 12 mg/Tag über fünf aufeinanderfolgende Tage (Gesamtdosis: 60 mg). Zwölf Monate später erhält der Patient an drei aufeinanderfolgenden Tagen ebenfalls 12 mg/Tag (Gesamtdosis: 36 mg). Bei Bedarf können nach jeweils einem Jahr weitere Behandlungszyklen durchgeführt werden. Die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) und auch das Schweizerische Heilmittelinstitut Swissmedic haben Alemtuzumab bei aktiver RRMS als First-Line-Medikament zugelassen. Aufgrund des erhöhten Risikos für sekundäre Autoimmunitäten raten Experten jedoch zu einer Anwendung als Second-LineMedikament. Auch die Swissmedic empfiehlt, Alemtuzumab erst dann einzusetzen, wenn Patienten unzureichend auf Therapien mit anderen MS-Medikamenten angesprochen haben. ARS MEDICI 20 I 2016 923 FORTBILDUNG Unter Alemtuzumab können sich NAB entwickeln. Zudem besteht ein erhöhtes Risiko für Autoimmunerkrankungen, die meist innerhalb von 32 Monaten nach Behandlungsbeginn auftreten. Dazu gehören Schilddrüsenerkrankungen, eine immunthrombozytopenische Purpura oder in seltenen Fällen auch Nephropathien. Mitoxantron: Das synthetische Anthrazendionderivat Mitoxantron (Novantron®) wird meist zur Behandlung maligner Erkrankungen angewendet. Das stark immunsuppressive Medikament hemmt die Proliferation von T-Lymphozyten, B-Lymphozyten, Makrophagen und anderen antigenpräsentierenden Zellen und induziert deren Apoptose. In Studien wurde unter Mitoxantron bei hoch aktiver RRMS eine Reduzierung der ARR um 60 bis 70 Prozent im Vergleich zu Plazebo beobachtet. Zu den schweren Nebenwirkungen gehören erhöhte Leberenzymwerte und akute Promyelozytenleukämien. Die Behandlung induziert eine transiente Leukopenie, deren Höhepunkt nach zehn Tagen erreicht ist. Aufgrund der potenziellen Kardiotoxizität wurde die kumulierte Gesamtdosis auf 120 bis 140 mg/m² der Körperoberfläche begrenzt. Mitoxantron wirkt teratogen und ist daher in der Schwangerschaft absolut kontraindiziert. Third-Line-Medikamente Daclizumab: Daclizumab (Zinbryta®, in der Schweiz noch nicht zugelassen) wurde 2016 in den USA und in Europa als Mittel der dritten Wahl für die Behandlung der RRMS zugelassen. Der monoklonale Antikörper bindet an CD52 und reduziert die Anzahl aktivierter T-Zellen. Die Injektionslösung wird einmal pro Monat subkutan injiziert. Bei der Behandlung kann es zu einer Erhöhung der Leberwerte im Serum kommen. In seltenen Fällen wurden schwere Leberschäden, Autoimmunhepatitis und weitere immunvermittelte Erkrankungen beobachtet (Quelle für Daclizumab: Pharmawiki). Behandlungsstrategien Für die meisten Patienten ist zu Beginn ein First-Line-Medikament geeignet. Orale Medikamente werden häufig bevorzugt. Bei Unverträglichkeit kann auf ein anderes orales oder auf ein injizierbares Medikament gewechselt werden. Da die injizierbaren Präparate schon einige Zeit länger angewendet werden, sind mehr Daten zu ihrer langfristigen Sicherheit verfügbar. Bei einem Schub und/oder einer Behinderungsprogression mit/ohne neue Läsionen im MRT erfolgt ein Wechsel zu den stärker wirksamen Second-Line-Medikamenten Natalizumab, Fingolimod oder Alemtuzumab. Mitoxantron wird aufgrund des hohen Risikos für schwere Nebenwirkungen nur noch für ausgewählte MS-Patienten empfohlen. Bei rasch progredienter schwerer RRMS sollte sofort mit Second-Line-Medikamenten begonnen werden. Diese Erkrankungsform ist durch zwei oder mehr Schübe mit Behinderungsprogression innerhalb eines Jahres sowie durch gadoliniumanreichernde Läsionen im Gehirn oder eine signifikante Zunahme der T2-Läsionen im Vergleich zum letzten MRT-Scan gekennzeichnet. Bei einer kleinen Gruppe von Patienten, die nicht auf SecondLine-Medikamente ansprechen, können «Off-label»-Substanzen wie Rituximab (MabThera®) oder Ofatumumab (Arzerra®) oder eine experimentelle Therapie mit autologen hämatopoetischen Stammzellen in Betracht gezogen werden. Diese Optionen wurden noch nicht in Phase-III-Studien untersucht, erwiesen sich jedoch in Phase-II-Studien als vielversprechend. O Petra Stölting Quelle: Torkildsen Ø et al.: Disease-modifying treatments for multiple sclerosis – a review of approved medications. Eur J Neurol 2015; 23 (Suppl. 1): 18–27. Interessenkonflikte: Alle drei Autoren der referierten Studie haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten. 924 ARS MEDICI 20 I 2016