Transkript
STUDIE REFERIERT
Update zur Altersmedizin
Überblick über aktuelle geriatrische Studien
In neuen Studien zur Altersmedizin konnten Nahrungsergänzungsmittel oder Bewegungsprogramme den kognitiven Abbau nicht verhindern. In anderen Untersuchungen zeigte sich, dass nicht bei allen älteren Diabetespatienten eine intensive glykämische Kontrolle erforderlich ist oder dass neue Antikoagulanzien bei Senioren mit einem erhöhten Risiko für gastrointestinale Blutungen verbunden sein können.
Annals of Internal Medicine
In einem Übersichtsbeitrag präsentiert David B. Reuben von der Abteilung für Geriatrie der Universität Kalifornien (USA) eine Auswahl von Studien zur Altersmedizin aus dem Jahr 2015. Die Arbeiten befassen sich mit Strategien zur Prävention des kognitiven Abbaus, den Risiken bei der Behandlung häufiger Erkrankungen, den Vor- und Nachteilen chirurgischer Eingriffe sowie mit dem Nutzen und den Risiken häufig angewendeter Medikamente.
Kognitive Funktionsfähigkeit Der Erhalt der kognitiven Funktion ist für ältere Menschen von grosser Bedeutung. Die Rolle von Ernährung und körperlicher Aktivität wird in diesem Zusammenhang kontrovers diskutiert.
MERKSÄTZE
O Eine Nahrungsergänzung mit DHA, EPA und Antioxidanzien kann den Verlust der kognitiven Funktion nicht aufhalten.
O Bewegungsprogramme können den kognitiven Abbau ebenfalls nicht verhindern.
O Bei älteren Diabetespatienten mit normaler Nierenfunktion und HbA1cWerten ≤ 6,9 Prozent ist keine intensive glykämische Kontrolle erforderlich.
O Zur Antikoagulation sollten ältere Patienten Warfarin, Apixaban oder Edoxaban erhalten.
O Bei einer restlichen Lebenserwartung von bis zu 1 Jahr können Statine abgesetzt werden.
Ernährung: In der randomisierten, kontrollierten Age-Related Eye Disease Study 2 (AREDS2) wurde der Nutzen von Omega-3-Fettsäuren und Antioxidanzien bei Patienten mit hohem Risiko für die Entwicklung einer fortgeschrittenen altersbedingten Makuladegeneration bezüglich der kognitiven Leistungsfähigkeit über einen Zeitraum von 5 Jahren untersucht. In Rahmen der Studie erhielten 3741 Patienten mit einem durchschnittlichen Alter von 73 Jahren entweder Plazebo oder Docosahexaensäure (DHA) plus Eicosapentaensäure (EPA) oder Lutein plus Zeaxanthin oder die Kombination aus DHA, EPA, Lutein und Zeaxanthin. Des Weiteren erhielten die Teilnehmer verschiedene Kombinationen aus Vitamin A, Vitamin E, Betakarotin und Zink. Die jährliche Veränderung der kognitiven Leistungsfähigkeit (Sprachkompetenz, exekutive Funktionen, Gedächtnis, Verarbeitungsgeschwindigkeit, verzögerter Abruf) war in allen 4 Gruppen vergleichbar. Auch bei Patienten, die hohe oder niedrige Zinkdosierungen oder die Betakarotin oder kein Betakarotin erhalten hatten, zeigten sich keine signifikanten Unterschiede. Die Wissenschaftler kamen daher zu dem Ergebnis, dass die untersuchten Substanzen den Abbau der kognitiven Leistung nicht aufhalten können und deshalb zu diesem Zweck nicht empfohlen werden sollten (1). Körperliche Aktivität: Die randomisierte Studie LIFE (Lifestyle Interventions and Independence for Elders) untersuchte den Einfluss eines Bewegungsprogramms mittlerer Intensität im Vergleich zu Gesundheitsschulungen auf die kognitive Leistungsfähigkeit über einen Zeitraum von 24 Mo-
naten. An der Studie nahmen 1635 Patienten im Alter von 70 bis 89 Jahren teil, die ein Risiko für eine eingeschränkte Mobilität, jedoch keine Demenz und keine bedeutsamen kognitiven Defizite aufwiesen. Die Teilnahme an dem Bewegungsprogramm reduzierte erwartungsgemäss das Risiko für Mobilitätseinschränkungen. Im Hinblick auf die kognitiven Fähigkeiten stellten die Wissenschaftler jedoch keinen Unterschied zwischen den Gruppen fest. Somit sollte ein Bewegungsprogramm nicht explizit gegen den kognitiven Abbau angeboten werden (2).
Diabetes
Bei der Behandlung älterer Patienten mit Diabetes Typ 2 stellt sich die Frage, ob eine intensive glykämische Kontrolle erforderlich ist oder ob ein weniger aggressives Management ausreicht. In einer schwedischen registerbasierten Beobachtungsstudie wurde bei 435 369 Diabetespatienten im Vergleich zu 2 117 483 Kontrollpersonen in einem Zeitraum von 4,6 Jahren insgesamt ein um 15 Prozent höheres Sterblichkeitsrisiko beobachtet. Das Mortalitätsrisiko war jedoch nicht bei allen Diabetespatienten gleich hoch. Das Risiko für die Gesamtsterblichkeit und den kardiovaskulären Tod nahm mit jüngerem Lebensalter, einer schlechteren glykämischen Kontrolle und der Schwere renaler Komplikationen zu. Bei Patienten ab 75 Jahren mit HbA1cWerten unter 6,9 Prozent war das Risiko für die Gesamtsterblichkeit und für einen kardiovaskulären Tod geringer als das der Kontrollpersonen. Die Hazard Ratios (HR) betrugen 0,95 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,94– 0,96) und 0,79 (95%-KI: 0,78–0,81). Bei Patienten ab 75 Jahren mit normalen Albuminserumspiegeln und HbA1cWerten von 6,9 Prozent oder darunter betrug die HR für die Gesamtmortalität 0,76 (95%-KI: 0,75–0,78). Diabetespatienten ab 65 Jahren mit einer geschätzten glomerulären Filtrationsrate von mehr als 60 ml/min/1,73 m³ wiesen im Vergleich zur Kontrollgruppe ebenfalls eine geringere Gesamtsterblichkeit auf. Aus diesen Ergebnissen geht hervor, dass bei älteren Diabetespatienten mit normaler Nierenfunktion keine intensive glykämische Kontrolle erforderlich ist. Dies gilt vor allem bei nur geringfügig erhöhten HbA1c-Spiegeln (3).
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ARS MEDICI 19 I 2016
STUDIE REFERIERT
Kniearthrose
und lumbale Spinalkanalstenose
In zwei weiteren Studien untersuchten Wissenschaftler den Nutzen eines operativen Eingriffs im Vergleich zu nicht chirurgischen Massnahmen bei Kniearthrosen und lumbalen Spinalkanalstenosen. Kniearthrose: Im Rahmen einer Studie mit 100 Patienten erhielten 50 von ihnen ein künstliches Kniegelenk und wurden anschliessend über 12 Wochen mit nicht chirurgischen Massnahmen wie Sport, Schulungen, Ernährungsberatung, Schuheinlagen und Schmerzmedikamenten versorgt. Die anderen 50 Teilnehmer wurden 12 Wochen lang nur mit den nicht chirurgischen Massnahmen therapiert. Als primären Endpunkt definierten die Wissenschaftler die durchschnittliche Veränderung gegenüber Baseline auf vier Subskalen des Knee Injury and Osteoarthritis Outcome Score zur Evaluierung von Schmerzen, Symptomen, Alltagsaktivitäten und der Lebensqualität. In beiden Gruppen wurden bezüglich der meisten Skalenwerte bedeutsame Verbesserungen erzielt. Bei den Patienten, die einen Gelenkersatz erhalten hatten, zeigte sich zwar eine ausgeprägtere Verbesserung als unter der nicht chirurgischen Behandlung. Allerdings kam es bei den operierten Personen auch häufiger zu schweren Komplikationen wie tiefen Venenthrombosen oder Gelenkversteifungen. Die Autoren der Studie raten daher zu einer individuellen Abwägung von Nutzen und Risiken (4). Lumbale Spinalkanalstenose: In einer randomisierten kontrollierten Studie wurden 169 Patienten in einem Alter ab 50 Jahren mit einer lumbalen Spinalkanalstenose einer chirurgischen Dekompression oder einer zweimal wöchentlichen physiotherapeutischen Behandlung zugeordnet. Primärer Endpunkt war die körperliche Funktionsfähigkeit entsprechend dem Gesundheitsfragebogen SF-36 (Short Form 36 Health Survey Questionnaire). Nach 24 Monaten unterschied sich die körperliche Funktionsfähigkeit nicht signifikant zwischen beiden Gruppen. Bei etwa einem Viertel der operierten Patienten (33 von 132) kam es zu Komplikationen wie Wundinfektionen. Trotz der vergleichbaren Ergebnisse bezüglich der Funktionsfähigkeit ent-
schieden sich 57 Prozent der zunächst nicht operierten Patienten innerhalb des Studienzeitraums von 2 Jahren doch noch für einen chirurgischen Eingriff (5).
Antikoagulanzien
Viele ältere Patienten benötigen eine antikoagulative Behandlung zur Schlaganfallprävention infolge von Vorhofflimmern. Neue orale Antikoagulanzien (NOAK) weisen eine mindestens ebenso gute Wirksamkeit auf wie Warfarin (in der Schweiz nicht zugelassen; hier wird das ähnliche Phenprocoumon [Marcoumar®] angewendet), sind jedoch mit einem geringeren Risiko für intrazerebrale Blutungen verbunden. Zudem sind bei den neueren Substanzen keine Dosisanpassung und auch keine Überwachung der Serumspiegel erforderlich. Allerdings wurde in Studien ein erhöhtes Risiko für gastrointestinale Blutungen beobachtet. In einer retrospektiven Kohortenstudie wurden anhand einer Auswertung der Daten von 92 826 Patienten aus der Allgemeinbevölkerung die Raten gastrointestinaler Blutungen unter Dabigatran (Pradaxa®) oder Rivaroxaban (Xarelto®) im Vergleich zu Warfarin untersucht. Bei Patienten unter 65 Jahren kam es unter NOAK zu weniger Ereignissen. Ab einem Alter von 65 Jahren nahm das Risiko für gastrointestinale Blutungen jedoch zu. Bei 76-jährigen Patienten mit Vorhofflimmern zeigte sich unter Dabigatran im Vergleich zu Warfarin ein deutlich höheres Risiko für gastrointestinale Blutungen (HR: 2,49, 95%-KI: 1,61–3,83). Unter Rivaroxaban wurde bei 76-jährigen Patienten mit (HR: 2,91; 95%-KI: 1,65–4,81) und ohne Vorhofflimmern (HR: 4,58; 95%-KI: 2,40–8,72) ebenfalls ein erhöhtes gastrointestinales Risiko im Vergleich zu Warfarin beobachtet. Die Autoren der Kohortenstudie kommen daher zu dem Schluss, dass ältere Patienten eher mit Warfarin, Apixaban (Eliquis®) oder Edoxaban (Lixiana®) behandelt werden sollten (6).
Statine
bei begrenzter Lebenserwartung
Ältere Patienten nehmen häufig über viele Jahre Medikamente ein. Bei Patienten mit begrenzter Lebenserwartung übertreffen die Risiken eines Medikaments jedoch manchmal den Nutzen. Dies könnte auch für Statine gelten.
In einer multizentrischen Studie wurden 381 Patienten mit einer Lebenserwartung von 1 Monat bis zu 1 Jahr randomisiert einer Weiterführung oder einer Beendigung der Statinbehandlung zugeordnet. Als Endpunkte definierten die Wissenschaftler den Tod innerhalb von 60 Tagen und den Gesamtscore auf dem Fragebogen McGill Quality of Life sowie die Werte auf Unterskalen zu körperlichen oder psychologischen Symptomen und zum Wohlbefinden. Der Anteil der Patienten, die innerhalb von 60 Tagen starben, unterschied sich nicht signifikant zwischen beiden Gruppen (23,8% vs. 20,3%). Die Lebensqualität war jedoch bei Patienten, die ihre Statine abgesetzt hatten, besser als bei Patienten, die sie weiterhin einnahmen. Somit können Statine bei Patienten mit einer Lebenserwartung von weniger als einem Jahr abgesetzt werden, ohne dass ein erhöhtes Mortalitätsrisiko befürchtet werden muss (7). O
Petra Stölting
Quelle: Reuben DB: Update in geriatric medicine: evidence published in 2015. Ann Intern Med 2016; 164: W27– W31, doi:10.7326/M16-0216.
Originalpublikationen der vorgestellten Studien: 1. Chew EY et al.; Age-Related Eye Disease Study 2
(AREDS2) Research Group: Effect of omega-3 fatty acids, lutein/zeaxanthin, or other nutrient supplementation on cognitive function: the AREDS2 randomized clinical trial. JAMA 2015; 314: 791–801. 2. Sink KM et al.; LIFE Study Investigators: Effect of a 24-month physical activity intervention vs health education on cognitive outcomes in sedentary older adults: the LIFE randomized trial. JAMA 2015; 314: 781–790. 3. Tancredi M et al.: Excess mortality among persons with type 2 diabetes. N Engl J Med 2015; 373: 1720– 1732. 4. Skou ST et al.: A randomized, controlled trial of total knee replacement. N Engl J Med 2015; 373: 1597– 1606. 5. Delitto A et al.: Surgery versus nonsurgical treatment of lumbar spinal stenosis [Letter]. Ann Intern Med 2015; 163: 397–398. 6. Abraham NS et al.: Comparative risk of gastrointestinal bleeding with dabigatran, rivaroxaban, and warfarin: population based cohort study. BMJ 2015; 350: h1857. 7. Kutner JS et al.: Safety and benefit of discontinuing statin therapy in the setting of advanced, life-limiting illness: a randomized clinical trial. JAMA Intern Med 2015; 175: 691–700.
Interessenlage: Der Autor der referierten Übersichtsarbeit erklärt, dass keine Interessenkonflikte vorliegen.
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