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STUDIE REFERIERT
Strengere Blutdruckkontrolle bei über 75-Jährigen?
Weitere Ergebnisse des Systolic Blood Pressure Intervention Trial (SPRINT)
In einer Subgruppenanalyse der SPRINT-Studie zeigte sich, dass eine intensive Blutdruckkontrolle mit einem systolischen Zielwert von weniger als 120 mmHg im Vergleich zur Standardkontrolle mit Blutdruckzielen unter 140 mmHg auch bei Personen ab 75 Jahren mit signifikant weniger kardiovaskulären Ereignissen und einer signifikant geringeren Gesamtsterblichkeit verbunden ist.
JAMA
In den USA leiden 75 Prozent der über 75-jährigen Personen an Bluthochdruck. In dieser Altersgruppe sind kardiovaskuläre Ereignisse die Hauptursache von Behinderung, Morbidität und Mortalität. Zum optimalen systolischen Blutdruck bei älteren Patienten werden in Richtlinien unterschiedliche Empfehlungen gegeben. Die Verfasser europäischer Guidelines empfehlen den Beginn einer blutdrucksenkenden Therapie für Personen im Alter über 80 Jahre bei Werten über 160 mmHg. In einer aktuellen US-amerikanischen Richtlinie wird dagegen für Personen ab 60 Jahren ein Zielwert von 150 mmHg genannt, und manche Experten empfehlen wiederum ein Blutdruckziel von 140 mmHg. In einer Untergruppenanalyse des Systolic Blood Pressure Intervention Trial
MERKSÄTZE
O Bei älteren Hypertoniepatienten können das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und die Gesamtsterblichkeit mit einem Blutdruckziel < 120 mmHg deutlich gesenkt werden.
O Von der intensiven Blutdrucksenkung profitieren auch gebrechliche Personen und Patienten mit verminderter Gehgeschwindigkeit.
O Diese Ergebnisse sind möglicherweise nicht auf Heimbewohner und Diabetespatienten oder auf Patienten mit vorherigen Schlaganfällen oder symptomatischer Herzinsuffizienz übertragbar.
(SPRINT) untersuchten Jeff Williamson vom Medical Center Boulevard in Winston-Salem (USA) und seine Arbeitsgruppe nun die Effekte einer intensiven Blutdruckkontrolle (< 120 mmHg) im Vergleich zur Standardkontrolle (< 140 mmHg) bei eigenständig lebenden Personen ab 75 Jahren, die unter Bluthochdruck, jedoch nicht an Diabetes litten. Ergänzend evaluierten die Wissenschaftler in einer explorativen Analyse die therapeutischen Effekte bei gebrechlichen Patienten und bei Personen mit verminderter Gehgeschwindigkeit. Als primären kombinierten Endpunkt definierten die Forscher einen nicht tödlichen Herzinfarkt, ein akutes Koronarsyndrom ohne Herzinfarkt, einen nicht tödlichen Schlaganfall, eine nicht tödliche akute dekompensierte Herzinsuffizienz und den kardiovaskulären Tod. Zu den sekundären Endpunkten gehörte die Gesamtsterblichkeit. Die Rekrutierung der Patienten begann im Oktober 2010 und endete im August 2015.
Ergebnisse
An der SPRINT-Studie nahmen 2636 Hypertoniepatienten mit einem medianen Alter von 79,9 Jahren und einem durchschnittlichen systolischen Blutdruck von 141,6 mmHg teil. Der Frauenanteil lag bei 37,9 Prozent. Insgesamt wurden 815 Patienten (30,9%) als gebrechlich und 1456 Personen (55,2%) als weniger fit klassifiziert. 1317 Patienten wurden einer intensiven Blutdrucksenkung und 1319 der Standardkontrolle zugeordnet. Nach Beendi-
gung der Studie konnten die vollständigen Daten von 2510 Teilnehmern (95,2%) ausgewertet werden. Während eines medianen Beobachtungszeitraums von 3,14 Jahren erreichten die intensiv behandelten Patienten einen durchschnittlichen systolischen Blutdruck von 123,4 mmHg, die Patienten in der Standardgruppe erzielten einen Wert von 134,8 mmHg. In der intensiv behandelten Gruppe beobachteten die Forscher eine signifikant geringere Rate der primären Endpunktereignisse und der Gesamtsterblichkeit als in der Standardgruppe. In der intensiv behandelten Gruppe traten 102 kardiovaskuläre Ereignisse (2,59% pro Jahr) und in der Standardgruppe 148 Ereignisse (3,85% pro Jahr) ein. Die Hazard Ratio (HR) betrug 0,66 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,51–0,85). In der intensiv behandelten Gruppe kam es zu 73 Todesfällen, und in der Standardgruppe starben 107 Personen (HR: 0,67; 95%-KI: 0,49–0,91). Nach 3,14 Jahren betrug die geschätzte NNT (number needed to treat) für den primären Endpunkt 27 (95%-KI: 19–61) und für die Gesamtsterblichkeit 41 (95%-KI: 27–145). Die Raten schwerer unerwünschter Ereignisse unterschieden sich mit 48,4 Prozent in der intensiv behandelten Gruppe und 48,3 Prozent in der Standardgruppe (HR: 0,99; 95%-KI: 0,89–1,11) nicht signifikant. Die Hypotonieraten betrugen in der intensiv behandelten Gruppe 2,4 Prozent und in der Standardgruppe 1,4 Prozent (HR: 1,71; 95%-KI: 0,97–3,09). Zu Synkopen kam es bei 3,0 Prozent der intensiv behandelten und bei 2,4 Prozent der standardmässig behandelten Teilnehmer (HR: 1,23; 95%-KI: 0,76–2,00). Die Raten der Elektrolytstörungen lagen bei 4,0 Prozent und bei 2,7 Prozent (HR: 1,51; 95%-KI: 0,99–2,33). Akute Nierenschädigungen wurden bei 5,5 Prozent und bei 4,0 Prozent (HR: 1,41; 95%-KI: 0,98–2,04) der Teilnehmer beobachtet. Zu Stürzen mit Verletzungen kam es in der intensiv behandelten Gruppe bei 4,9 Prozent und in der Standardgruppe bei 5,5 Prozent (HR: 0,9; 95%-KI: 0,65–1,29).
Diskussion
In der Subgruppenanalyse der SPRINTStudie reduzierte ein Behandlungsziel von 120 mmHg oder darunter die Rate
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ARS MEDICI 19 I 2016
STUDIE REFERIERT
Heftige Kritik an Studiendesign und Schlussfolgerungen
Der frühere Präsident der European Society of Hypertension und an zahlreichen internationalen Hypertoniestudien beteiligte Kardiologe Prof. Sverre Erik Kjeldsen, Universität Oslo, kritisierte sowohl Studiendesign als auch Schlussfolgerungen der SPRINTStudie am Kongress der European Cardiology Society (ESC) in Rom: Es wäre geradezu fahrlässig, wegen dieser Studie die Blutdruckzielwerte nach unten zu setzen.
In der SPRINT-Studie wurde der Blutdruck – anders als bei anderen Studien – mit automatisierten Messgeräten erfasst, während der Proband alleine in einem abgeschlossenen Raum sass. Dies führt bekanntermassen zu niedrigeren Werten als die Selbstmessung oder gar die übliche Messung in der Praxis inklusive «Weisskitteleffekt». Kjeldsen schätzt, dass der systolische Blutdruck in der SPRINT-Studie um mindestens 10 bis 20 Prozent niedriger gemessen wurde als üblich. Er berichtete, dass in einer kürzlich publizierten Studie der systolische Druck bei Messung in der Arztpraxis um 16 mmHg und der zu Hause selbst gemessene Wert immer noch um 7 mmHg über demjenigen lag, den die unbeobachtete Messung lieferte. Hat man in SPRINT also nur einmal mehr gezeigt, dass der Blutdruck unter 140 mmHg liegen sollte – nichts Neues und aktueller Stand aller gängigen Richtlinien?
Kjeldsen glaubt, dass die SPRINT-Resultate, neben der fraglichen Messmethode, vor allem auf einen geringeren Diuretikagebrauch in der mit geringerer Intensität behandelten Gruppe zurückzuführen seien. Die Diuretika modulieren neben dem Blutdruck den Endpunkt Herzinsuffizienz, der das Gesamtergebnis der Studie massgeblich beeinflusst hat. So habe allein die Inzidenz von Herzinsuffizienzdekompensationen die Hälfte des Unterschieds zwischen den Therapiegruppen bewirkt, sagte Kjeldsen.
Kritik äusserte er auch an der Kommunikation der Studienresultate. Die amerikanischen NIH (National Institutes of Health) hätten «einfach verkündet, die Senkung des Blutdrucks unter 120 mmHg rettet Leben, bevor die wissenschaftliche Community die Chance hatte, die Studienergebnisse zu prüfen. Jetzt glauben die Leute, das gelte für die normale Blutdruckmessung – damit kann man Menschen umbringen», sagte er gemäss einem Bericht des Internetportals Medscape.
Dass längst nicht alle Kardiologen davon überzeugt sind, aufgrund der SPRINT-Studie
die Blutdruckziele zu senken, zeigte die Abstimmung im Konferenzssaal am Ende der
Session: Die Mehrheit war dagegen.
RBO O
Quelle: SPRINT-Studie im Kreuzfeuer: Experte zweifelt Methodik an – und erteilt Senkung der Blutdruckziele eine klare Absage. Medscape, 30. August 2016.
daten von SPRINT geht zwar hervor,
dass es unter der intensiven Behand-
lung zu keiner signifikanten Zunahme
unerwünschter Wirkungen kam. Dabei
muss jedoch beachtet werden, dass
Studienteilnehmer nicht unbedingt
repräsentativ für Patienten aus der
Allgemeinbevölkerung sind, bei denen
oft mehr Komorbiditäten vorliegen
und die daher auch mehr Medikamente
einnehmen.
Für den klinischen Alltag empfehlen die
Kommentatoren deshalb ein abgestuf-
tes Vorgehen mit einem ersten Blut-
druckziel von 140 mmHg. Bei guter
Verträglichkeit kann dann unter vor-
sichtiger Titration ein Zielwert unter
130 mmHg angestrebt werden.
Die Wahl der Antihypertensiva bleibt
Arzt und Patienten überlassen, weil der
Nutzen vor allem vom Ausmass der
Blutdrucksenkung und weniger von
den Wirkstoffen abhängt. Als Medika-
mente der ersten Wahl empfiehlt der
Kommentator Diuretika, Kalziumant-
agonisten, Angiotensinrezeptorantago-
nisten und ACE-(«angiotensin-conver-
ting enzyme»-)Hemmer. Für Patienten
mit koronarer Herzerkrankung, Arrhyth-
mien und Herzinsuffizienz sind Beta-
rezeptorantagonisten als First-line-
Medikamente geeignet. Werden mehrere
Wirkstoffe für die Erreichung des Ziel-
werts benötigt, können Kombinations-
präparate von Nutzen sein. Im Rahmen
der Behandlung sollte auf die Ver-
meidung orthostatischer Hypotonien
geachtet werden.
O
der kardiovaskulären Ereignisse um 33 Prozent (von 3,85% auf 2,59% pro Jahr) und die der Gesamtsterblichkeit um 32 Prozent (von 2,63% auf 1,78% pro Jahr). Der Nutzen der intensiven Blutdruckkontrolle zeigte sich zudem auch konsistent bei gebrechlichen Personen und bei Patienten mit verminderter Gehgeschwindigkeit. Als Limitierung ihrer Studie erachten die Autoren, dass Heimbewohner und Diabetespatienten sowie Personen mit vorherigem Schlaganfall oder symptomatischer Herzinsuffizienz nicht berücksichtigt wurden. Die Ergebnisse bezüglich der Blutdruckziele sind daher möglicherweise nicht auf diese Personen übertragbar. Andere chronische Erkrankungen wurden jedoch nicht aus der Studie ausgeschlossen.
Kommentar
Aram V. Chobanian von der Boston University School of Medicine (Massachusetts, USA) kommentiert die Ergebnisse der Subgruppenanalyse im Editorial. Er hält SPRINT für eine bedeutende Studie. Die beträchtliche Reduzierung von kardiovaskulären Ereignissen und Todesfällen bei den über 75-jährigen Teilnehmern erfordert seiner Ansicht nach möglicherweise eine Änderung der Blutdruckziele für diese Altersgruppe. Viele Ärzte haben Bedenken, den systolischen Blutdruck älterer Patienten unter 160 mmHg zu senken, weil sie potenzielle Nebenwirkungen befürchten und weil der bisherigen Medikation noch ein oder mehrere Antihypertensiva hinzugefügt werden. Aus den Sicherheits-
Petra Stölting
Quelle: Williamson JD et al.: Intensive vs standard blood pressure control and cardiovascular disease outcomes in adults aged ≥ 75 years: a randomized clinical trial. JAMA 2016; 315(24): 2673–2682 und Editorial Chobanian AV: SPRINT results in older patients: how low to go? JAMA 2016; 315(24): 2669–2670.
Interessenkonflikte: 3 der 25 Autoren der SPRINT-Forschungsgruppe haben Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
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