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FORTBILDUNG
Eiweissversorgung und Muskelgesundheit im Alter
Wenn es mit der üblichen Ernährung nicht mehr klappt
Der Appetitmangel im Alter ist Hauptursache für mannigfache Muskelprobleme, trägt aber auch massgeblich zur generell erhöhten Morbidität und Mortalität bei. Oft lässt sich im Alter mit der normalen Ernährung eine für den Muskelstoffwechsel adäquate Eiweissversorgung nicht mehr sicherstellen. Dann sind spezifische Nahrungssupplemente sinnvoll.
Nutrients
Eine adäquate Eiweissversorgung über die Ernährung ist zur Erhaltung der Muskelmasse essenziell. Ältere Menschen haben ein hohes Risiko für eine ungenügende Proteinaufnahme. Allgemein werden als empfohlene tägliche Zufuhr (recommended daily allowance, RDA) 0,8 g/kg Körpergewicht (KG) angegeben. Diese Menge reicht jedoch im Alter oft nicht aus. Verschiedene Faktoren tragen zu einer prekären Eiweissversorgung im Alter bei: Appetitmangel, Unter- oder Fehlernährung, körperliche Inaktivität mit anaboler Resistenz und Krankheiten mit chronischen Entzündungsvorgängen. Aus der Kombination von geringer Eiweisszufuhr, gestörter Proteinhomöostase in den Muskeln und erhöhtem Proteinbedarf ergeben sich ein Verlust der mageren Körpermasse und eine Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit, die in Behinderung sowie höhere Morbidität und Mortalität münden.
MERKSÄTZE
O Das Altern an sich scheint den Eiweissabbau nicht zu verstärken, weshalb im Zusammenhang mit der Verhütung einer Sarkopenie die Förderung der Muskeleiweisssynthese sinnvoll ist.
O Eine Kombination von Ausdauer- und Krafttraining zusammen mit einer Eiweissversorgung, welche die empfohlene tägliche Zufuhr übertrifft, scheint die günstigste Wirkung zu entfalten.
O Die essenziellen Aminosäuren, insbesondere Leucin, sind der hauptsächliche Stimulus für die Eiweisssynthese.
O Die Zufuhr von β-Hydroxy-β-Methylbutyrat (HMB), einem Aminosäuremetaboliten von Leucin, kann die Proteinsynthese steigern sowie Muskelkraft und Körperzusammensetzung bei Senioren verbessern.
Förderung der Muskeleiweisssynthese als Ziel
Signifikante Verluste oder Verbesserungen bei der Muskelmasse resultieren primär aus anhaltenden Veränderungen der Eiweisssyntheseraten in den Muskeln oder der Eiweissabbauraten oder von beidem. Ausserdem ist der Muskelproteinmetabolismus in hohem Mass von der adäquaten Aufnahme von Eiweissen und Aminosäuren abhängig. Die Muskeleiweisssyntheseraten werden überwiegend durch anabole Stimuli wie körperliche Aktivität und Nahrungsaufnahme bestimmt. Das Altern an sich scheint den Eiweissabbau nicht zu verstärken, weshalb im Zusammenhang mit der Verhütung eines Muskelschwunds im Alter (Sarkopenie) die Förderung der Muskeleiweisssynthese ein sinnvolles Ziel ist. Die essenziellen Aminosäuren sind der hauptsächliche Stimulus für die Eiweisssynthese. Insbesondere Leucin wird als wichtigster ernährungsbasierter Regulator des Muskeleiweissanabolismus betrachtet. Zwar besteht im Alter eine gewisse Resistenz gegenüber diesem anabolen Stimulus, diese kann aber durch höhere Dosen von essenziellen Aminosäuren überwunden werden. Wichtig ist auch der Hinweis, dass vor allem eine mangelnde körperliche Aktivität die anabole Resistenz fördert. Zudem beeinflussen auch Rauchen oder Alkoholmissbrauch den Eiweissstoffwechsel ungünstig.
Wie viel Eiweiss braucht der alte Mensch?
Gegenüber der allgemeinen Empfehlung zu einer täglichen Eiweisszufuhr von 0,8 g/kg KG haben in den letzten Jahren verschiedene Konsenserklärungen und Stellungnahmen im Hinblick auf die Muskelgesundheit eine höhere Proteinaufnahme befürwortet. So wurden 1,0 bis 1,2 g/kg KG zur Erhaltung gesunder alternder Muskeln empfohlen, während bei älteren Patienten mit akuten oder chronischen Krankheiten eine Zufuhr von 1,2 bis 1,5 g/kg KG notwendig ist. Alte Menschen mit schwerer Erkrankung oder Unterernährung brauchen sogar bis zu 2,0 g/kg KG Eiweiss pro Tag. Epidemiologische Studien deuten darauf hin, dass eine niedrige Eiweissaufnahme mit dem Beginn und dem Fortschreiten der Sarkopenie assoziiert ist. Ein ähnlicher Zusammenhang besteht zwischen geringer Kalorien-, Eiweiss- und Leucinaufnahme und reduzierter Muskelmasse bei Patienten mit Hüftfrakturen.
Welches ist die beste Eiweissquelle?
Die Geschwindigkeit der intestinalen Absorption von Nahrungseiweissen beeinflusst die postprandiale Eiweisssynthese, den Abbau und die Eiweisseinlagerung. Bei jüngeren Men-
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schen führen langsam verdauliche Eisweisse (z.B. Casein) zu einer stärkeren Eiweissspeicherung als rascher verdaute (z.B. Molke). Bei alten Menschen wurde jedoch ein entgegengesetztes Muster beobachtet. Gewisse Autoren befürworten daher im Alter «schnelle» Eiweisse. Älteren Menschen sollte man empfehlen, grössere Mengen von essenziellen Aminosäuren (Eiweisse hoher Qualität) zu verzehren, also mageres Fleisch, Milchprodukte und andere leucinreiche Nahrungskomponenten wie Sojabohnen, Erdnüsse, Schwarzaugenbohnen oder Linsen. Allerdings muss auch erklärt werden, dass pflanzliche Quellen eine geringere muskelaufbauende Wirkung haben als Eiweisse tierischen Ursprungs. Dies beruht auf einem in der Regel geringeren Gehalt an essenziellen Aminosäuren wie Lysin, Methionin oder Leucin und einer geringeren Verdaulichkeit. Daher müssten grössere Mengen an pflanzlichen Eiweissen aufgenommen werden, um dieselbe anabole Antwort zu erzielen. In einer Studie erwies sich, dass Aminosäuren aus Sojaeiweiss im Gegensatz zu solchen aus Molkeneiweiss vorwiegend der Verbrennung und nicht der Muskeleiweisssynthese zugeführt wurden. Fleisch ist eine ausgezeichnete Quelle für Proteine hoher Qualität, und die Aufnahme essenzieller Aminosäuren ist aus Fleisch am höchsten. Auch andere im Fleisch enthaltene Substanzen wie Kreatin, Carnitin, Eisen und Cobalamin haben einen signifikanten Einfluss auf den menschlichen Eiweissmetabolismus. Daher sollten wöchentlich 4 bis 5 Fleischmahlzeiten empfohlen werden (2-mal mageres weisses Fleisch, < 2-mal mageres rotes Fleisch, < 2-mal verarbeitetes Fleisch). Auch die physikalischen Eigenschaften der Eiweissquellen haben einen wichtigen Effekt. So bewirkt die Aufnahme von flüssigen Aminosäureprodukten eine grössere postprandiale Aminosäurenkonzentration als solche in fester Form. Zwischen gehacktem Fleisch und Steak liess sich hingegen kein Unterschied in den postprandialen Eiweisssyntheseraten nachweisen. Wann ist der beste Zeitpunkt für die Eiweissaufnahme? Die meisten Forscher sind sich einig, dass eine über den Tag mit jeder Mahlzeit verteilte Eiweissaufnahme eine anhaltende anabole Antwort hervorruft. Dies entspricht adäquaten Portionen von 25 bis 35 g Protein. In anderen Studien ergaben sich Hinweise, dass sich die tägliche Eiweisszufuhr an den Essgewohnheiten älterer Menschen und den spezifischen Essgelegenheiten, insbesondere dem Frühstück, orientieren sollte. Definitive Aussagen lassen sich anhand der derzeitigen Daten jedoch nicht treffen. Die Kombination von körperlicher Belastung und Eiweissaufnahme hat einen positiven und synergistischen Effekt auf die Proteinsynthese in den Muskeln. Einige Daten weisen darauf hin, dass eine Kombination von Ausdauer- und Krafttraining zusammen mit einer Eiweissversorgung, welche die RDA übertrifft, die günstigste Wirkung entfaltet. Einige Studien haben gezeigt, dass Krafttraining die Eiweisssynthese vorübergehend hemmt. Dieser Effekt bildet sich nach Trainingsende zurück, und nach 60 Minuten lässt sich die höchste Eiweisssyntheserate beobachten. Allerdings ist die Empfindlichkeit des Muskels gegenüber der Eiweisszufuhr noch während 24 Stunden nach Trainingsende gesteigert. Daher sind wiederholte Proteinaufnahmen nach Trainingseinheiten für eine optimale Muskelantwort ein gut gangbarer Weg. Für ältere Personen bieten Eiweissportionen zum Früh- stück, Mittag- und Abendessen wahrscheinlich die notwendigen Aminosäurenvorläufer und eine gewisse Flexibilität, um die Synergie zwischen Eiweisszufuhr und Training auch unabhängig vom Trainingszeitpunkt auszunützen. Welchen Stellenwert haben Proteinsupplemente? Der Appetitmangel ist zweifellos der Hauptgrund für eine gesamthafte und auch selektive Mangelernährung im Alter. In den Anfangsstadien führt die altersbedingte Anorexie vor allem zu einem selektiven Mangel, insbesondere an Proteinen und Vitaminen. Dies steht in einem direkten Zusammenhang mit der Entwicklung einer Sarkopenie und auch mit einer erhöhten Morbidität und Mortalität. Eine Nahrungsergänzung behandelt die Anorexie im Alter nicht direkt, sondern wirkt nur auf ihre Folgen wie Gewichtsverlust und Eiweissmangelernährung. Gewisse Studien haben positive Effekte einer Energiesupplementation bei mangelernährten Senioren gezeigt. Allerdings wurden sehr heterogene Supplementationsprotokolle eingesetzt, sodass die Übertragung der Resultate auf die Standardpflege schwierig erscheint. Schlüssige Evidenz gibt es bis jetzt nur für die Eiweisssupplementation. Zwar gilt Leucin als Hauptregulator des Muskeleiweissstoffwechsels, Supplementationsstudien haben jedoch widersprüchliche Resultate gebracht. Generell wird jedoch davon ausgegangen, dass eine Leucinanreicherung bei älteren Menschen einen potenziell positiven Effekt auf den Muskelstoffwechsel hat und dass es für diese Wirkung eine minimale Dosis braucht. Kürzlich konnte nachgewiesen werden, dass die Zufuhr von β-Hydroxy-β-Methylbutyrat (HMB), eines Aminosäuremetaboliten von Leucin, die Proteinsynthese steigert und die Muskelkraft sowie die Körperzusammensetzung bei älteren Erwachsenen verbessert. HMB aktiviert den mTOR-(«mammalian target of rapamycin»-)Signalweg im Muskel. Da nur ein Bruchteil des zugeführten Leucins auf dem Stoffwechselweg zu HMB umgewandelt wird, bietet sich die direkte Supplementation als aussichtsreiche Alternative an, um pharmakologische Wirkspiegel zu erreichen. HMB entfaltet seine Wirkung durch protektive, antikatabole Mechanismen, die direkt auf die Eiweisssynthese einwirken. HMB stabilisiert auch die Muskelzellmembran und moduliert den Eiweissabbau. Die tägliche Zufuhr von 2 g HMB zusammen mit Arginin und Lysin bewirkte in einer Studie über 12 Wochen eine Verbesserung von körperlicher Leistungsfähigkeit, Muskelkraft, fettfreier Masse und Eiweisssynthese bei körperlich inaktiven älteren Frauen. Eine andere Studie bei hospitalisierten, mangelernährten alten Menschen konnte nachweisen, dass durch eine Supplementation mit hohem Eiweiss- und HMB-Gehalt die Mortalität nach Krankenhausentlassung gesenkt sowie der Ernährungszustand verbessert wurde. Ähnlich wie Leucin erscheint HMB auch als aussichtsreich, wenn suboptimale Mengen von Eiweiss aufgenommen werden, und ist ein vielversprechender Kandidat für Ernährungsinterventionen gegen Sarkopenie. O Halid Bas Quelle: Landi F et al.: Protein intake and muscle health in old age: from biological plausibility to clinical evidence. Nutrients 2016; 8: 295. Interessenlage: Die Mehrheit der Autoren sind Partner des SPRINTT-Konsortiums, das teilweise durch die Europäische Föderation Pharmazeutischer Industrien finanziert wird. ARS MEDICI 19 I 2016 851