Transkript
BERICHT
«Diabetologie grenzenlos»
Münchner Symposium betont Individualisierung und interdisziplinären Ansatz der Diabetestherapie
Auf einer Pressekonferenz im Rahmen der Fortbildungsveranstaltung «Innere Medizin fachübergreifend – Diabetologie grenzenlos» wurden aktuelle Aspekte des Diabetes mellitus dargestellt.
Claudia Borchard-Tuch
Das metabolische Syndrom und der Typ-2-Diabetes sind heute weitverbreitet. Im mittleren und höheren Erwachsenenalter sind 30 bis 50 Prozent aller Menschen betroffen. «Vor diesem Hintergrund kommt der Primärprävention eine wichtige Rolle zu», erklärte Prof. Dr. Hans Hauner, Regensburg. Fettund Zuckeraufnahme sollten gesenkt und der Verzehr von pflanzlichen Lebensmitteln wie Vollkornprodukten gesteigert werden. «Allein durch diese Massnahme können rund 80 Prozent
aller Typ-2-Diabetes-Erkrankungen vermieden werden», so Hauner. Da unter modernen Lebensbedingungen oftmals immer weniger Zeit für die Essensvorbereitung aufgewendet wird, ist es wichtig, dass auch Lebensmittelindustrie und Gastronomie gesunde Lebensmittel anbieten. Der von der Technischen Universität München (TUM) geführte Cluster «enable» hat sich dieses Ziel gesetzt und verfolgt die Entwicklung gesünderer ConvenienceProdukte und Fertiggerichte.
MERKSÄTZE
O Bei Diabetes mellitus sollten Fett- und Zuckeraufnahme gesenkt und der Verzehr von pflanzlichen Lebensmitteln wie Vollkornprodukten gesteigert werden.
O Die Individualisierung der Therapie ist relevant. Moderne orale Antidiabetika und GLP-1-Rezeptor-Agonisten spielen eine immer grössere Rolle.
O Ultralang wirksame Insulinanaloga versprechen vor allem im Rahmen eines Insulinstarts im Sinne einer basal unterstützten oralen Therapie (BOT) eine noch grössere Sicherheit.
O Bei der im Verlauf notwendigen Intensivierung der Insulintherapie etabliert sich zunehmend die schrittweise Hinzunahme von kurz wirksamen Insulinen im Sinne einer BOT-plus-Strategie.
O Bei der Behandlung des Typ-1-Diabetes spielen vor allem Entwicklungen aus dem Bereich der Diabetestechnologie eine wichtige Rolle.
O Diabetes mellitus erhöht das Risiko für eine maligne Erkrankung, insbesondere von Darmkrebs.
O Diabetes mellitus erhöht das Risiko für Gefässerkrankungen. Die Radiologie liefert nicht invasiv objektivierbare und reproduzierbare Befunde des gesamten Gefässsystems. Darüber hinaus stellt die interventionelle Radiologie eine wesentliche Säule der Gefässbehandlung dar.
Aktuelle Behandlungsstrategien
Die Individualisierung der Therapie ist von grosser Bedeutung. Im aktuellen Konsensusstatement der American Diabetes Association (ADA) und der European Association zum Studium des Diabetes (EASD) aus dem letzten Jahr spielen moderne orale Antidiabetika und GLP-(«glucagon-like peptide»)-1Rezeptor-Agonisten (GLP-1-RA) eine immer grössere Rolle. Entgegen früheren Therapieempfehlungen ist mittlerweile auch eine dreifache orale Therapie beziehungsweise die Kombination zweier oraler Antidiabetika mit einem GLP-1-RA denkbar. Bei nicht erreichtem individuellem HbA1c-Ziel sollte mit einer Insulintherapie begonnen werden. Zukünftig werden bei den oralen Antidiabetika die SGLT-(«sodium-dependent glucose transporter»-)Hemmer eine immer grössere Rolle einnehmen. In einer ersten Endpunktstudie zeigte Empagliflozin einen signifikanten Vorteil hinsichtlich der Mortalität und weiterer Endpunkte. Doch durch den chronisch progredienten Verlust an Betazellen kann die Insulintherapie lediglich hinausgezögert werden. Ultralang wirksame Insulinanaloga wurden inzwischen entwickelt. Diese Insuline versprechen vor allem im Rahmen eines Starts im Sinne einer basal unterstützten oralen Therapie (BOT) eine noch grössere Sicherheit, da im Vergleich zu den bisherigen lang wirksamen Insulinanaloga der ersten Generation die Hypoglykämierate nochmals reduziert ist. Humaninsuline kommen aufgrund der ungünstigen Pharmakokinetik zunehmend weniger zum Einsatz. Dieser Trend wird durch weitere in der Entwicklung befindliche lang beziehungsweise noch kürzer wirksame Insulinanaloga verstärkt werden. Bei der im Verlauf der Krankheitsprogression notwendigen Intensivierung
ARS MEDICI 19 I 2016
835
BERICHT
der Insulintherapie spielt die konventionelle Insulintherapie (Mischinsulin) eine immer geringere Rolle. Es etabliert sich zunehmend aufgrund der höheren Flexibilitat und Sicherheit die schrittweise Hinzunahme von kurz wirksamen Insulinen im Sinne einer BOTplus-Strategie. Weitere wichtige Innovationen für die Praxis sind diverse neue Tools, zum Beispiel der sogenannte BeAM-Wert – die Differenz zwischen «Bedtime»-Blutzucker und Blutzucker am Morgen (Nüchternblutzucker). Der BeAM-Wert dient als Entscheidungshilfe bei der Therapieintensivierung. Er ermöglicht es zu erkennen, ob bei erhöhten oder wieder ansteigenden HbA1c-Werten bei BOTPatienten die basale Therapie durch Titration des Nüchternblutzuckerwertes weiter optimiert werden kann beziehungsweise wann die Therapie um ein prandiales Insulinanalogon ergänzt werden sollte. Wird hierdurch das Therapieziel nicht erreicht, sieht das Konsensusstatement der ADA/EASD einen schrittweisen Ausbau hin zu einer kompletten intensiviert konventionellen Insulinstrategie mit dreimaliger Gabe eines kurz wirksamen Insulins vor. Bei der Behandlung von Patienten mit Typ-1-Diabetes spielen neben dem Einsatz der bereits oben genannten Insulinanaloga vor allem Entwicklungen aus dem Bereich der Diabetestechnologie eine wichtige Rolle. So wird zum einen die klassische Blutzuckermessung zunehmend durch GlukoseSensormesssysteme ersetzt. Weiterhin steht eine neue Generation von Insulinpumpen zur Verfügung. Zum Teil können diese an einen kontinuierlich messenden Glukosesensor gekoppelt werden, der dann aktiv stabilisierend in die Therapiesteuerung eingreifen kann. In greifbare Nähe ist damit die Einführung einer künstlichen Bauchspeicheldrüse gerückt. In diesen Systemen reagiert ein spezieller Algorithmus automatisch auf wechselnde Blutzuckerspiegel und moduliert dementsprechend die Insulinabgabe. Die ersten Generationen eines solchen «Closed-loop»-Systems werden jeweils aus extern arbeitenden Systemen bestehen, also einer konventionellen Insulinpumpe und einem subkutan/interstitiell messenden Glukosesensor und dem über eine Software realisierten Algorithmus.
Diese notwendige Software ist mittlerweile derart optimiert, dass sie bereits in die Insulinpumpe integriert werden kann, der Computer dient dann lediglich zur detaillierten Analyse der Daten.
Diabetes
und maligne Erkrankungen
Der weltweit sprunghafte Anstieg des Diabetes mellitus, verursacht vor allem durch veränderte Lebensstilgewohnheiten, wird auch zu einer deutlichen Erhöhung von Krebserkrankungen bei Typ-2-Diabetikern führen. Wichtigste Zielorgane sind Leber, Verdauungstrakt, insbesondere Darm und Bauchspeicheldrüse, und weibliche Geschlechtsorgane. Gemeinsam ist wahrscheinlich allen die Stoffwechselentgleisung mit der Folge immer wieder erhöhter Zuckerspiegel im Blut. Dadurch kommt es auch zur Insulinresistenz, welche mit einem über komplexe Abläufe ausgelösten wachstumsfördernden und die Tumorbildung fördernden Milieu einhergeht. Besondere Bedeutung kommt dem Darmkrebsrisiko zu, das gerade bei Diabetikern mit erheblichem Übergewicht deutlich erhöht ist. Liegt zusätzlich noch ein familiäres Darmkrebsrisiko vor, ist diese Konstellation besonders gefährlich. Für die Entstehung von Leberkrebs spielt eine zunehmende Verfettung (nicht alkoholische Fettlebererkrankung, NAFLD) und spätere Entzündung der Leber bis hin zur Leberzirrhose eine entscheidende Rolle. Neben Virusinfektionen wie Hepatitis B und C gehört die NAFLD zu den wichtigsten Ursachen des Leberkrebses. Vor diesem Hintergrund müssen die Patienten mit Risiko identifiziert und auf die Vorsorgemöglichkeiten hingewiesen werden.
Interdisziplinäre Gefässmedizin
aus Sicht des Radiologen
Diabetes mellitus erhöht das Risiko für Gefässerkrankungen. Gefässerkrankungen stellen eine therapeutische Herausforderung dar, der sich verschiedene Disziplinen im Idealfall gemeinschaftlich stellen. Neben der Behandlung der die Gefässveränderungen begünstigenden Grunderkrankung gilt es dabei insbesondere, die Komplikationen, die meist erst später im Krankheitsverlauf auftreten, rechtzeitig zu erkennen und zu behandeln. Der Radiologie fällt da-
bei eine zweifache Aufgabe zu. Sie lie-
fert nicht invasiv objektivierbare und
reproduzierbare Befunde des gesamten
Gefässsystems, von den intrazerebralen
Gefässen über die Aorta, die Viszeral-
und Kardialgefässe bis hin zu den
peripheren Gefässen, und meist auch
die zugehörigen morphologischen und
funktionellen Informationen (z.B. Hirn-
perfusion beim Schlaganfall oder Herz-
infarkt). Darüber hinaus stellt die inter-
ventionelle Radiologie eine wesentliche
Säule der Gefässbehandlung dar. So-
genannte minimalinvasive Techniken,
das bedeutet im Wesentlichen das Auf-
dehnen von verengten oder verschlos-
senen Gefässen mittels Ballonkatheter
und Stents, kommen dabei in allen
Gefässgebieten zum Einsatz. Über die
letzten zehn Jahre haben sich dabei die
Ergebnisse zum Einsatz dieser Techni-
ken konsolidiert, was sich auch in den
Empfehlungen nationaler wie inter-
nationaler interdisziplinärer Experten-
gremien niederschlägt.
In den meisten dieser Empfehlungen
wird der interdisziplinäre Charakter
der Gefässmedizin betont. Nur im Zu-
sammenspiel von Angiologie, Gefäss-
chirurgie und Radiologie sowie der
assoziierten Gebiete wie Kardiologie,
plastische Chirurgie oder Neurologie
gelingt somit die optimale Behandlung
des Gefässpatienten.
O
Claudia Borchard-Tuch
Quelle: Pressekonferenz im Rahmen der Fortbildungsveranstaltung «Innere Medizin fachübergreifend – Diabetologie grenzenlos», München, 19. Februar 2016.
836
ARS MEDICI 19 I 2016