Transkript
FORTBILDUNG
Management der Mischinkontinenz
Schritt für Schritt zum Erfolg – Diagnostik, Therapie, Beratung
Die Mischinkontinenz steigt mit zunehmendem Lebensalter und ist ab dem 55. Altersjahr die häufigste Inkontinenzform. Dabei geben die Patientinnen sowohl Symptome einer Drang- als auch einer Belastungsinkontinenz an. In der Praxis stellt das Management der Mischinkontinenz eine Herausforderung dar, weil die Erfolgsaussichten reduziert sind, was bei Beratung, Abklärung und Therapiewahl individuell berücksichtigt werden muss.
Daniele Perucchini, Cornelia Betschart, Daniel Fink und David Scheiner
Harninkontinenz betrifft jede dritte Frau und ist ein Tabuthema. Bei der Mischinkontinenz (MI) werden Symptome der Belastungsinkontinenz wie auch der Dranginkontinenz angegeben. Bei jüngeren Frauen dominiert die Belastungsinkontinenz, bei Frauen ab 55 Jahren die MI (1) (Abbildung 1),
MERKSÄTZE
O Die Mischinkontinenz (MI) steigt mit zunehmendem Lebensalter und ist ab dem 55. Altersjahr die häufigste Inkontinenzform.
O Frauen mit MI geben einen grösseren Leidensdruck an als Frauen mit alleiniger Belastungsinkontinenz oder Drangsymptomatik.
O Die Therapie erfolgt in verschiedenen Stufen nach «dominierender» Symptomatik. Die konservativen Therapien sollen ausgeschöpft werden.
O Die medikamentöse Therapie ist ein etablierter, wichtiger Baustein der Stufentherapie bei dominierender Drangsymptomatik. Neu steht mit den Beta-3-Adrenorezeptor-Agonisten eine medikamentöse Therapiealternative zur Verfügung – allerdings liegen noch keine Studien zur MI vor.
O Schlingenoperationen sind auch bei Patientinnen mit MI hilfreich und können zudem neben der Belastungsinkontinenz auch Drangsymptome verbessern. Allerdings muss allen Beteiligten präoperativ klar sein, dass die Behandlung komplexer und rezidivanfälliger ist. Deshalb muss präoperativ sorgfältig urodynamisch untersucht werden; die Betroffenen sind detailliert aufzuklären.
wobei eine sehr heterogene Gruppe von Patientiennen betroffen ist. Die genaue Diagnostik ist für die Wahl einer erfolgreichen, individuellen Therapie wichtig. Für die ersten Schritte einer konservativen Therapie kann die Basisdiagnostik ausreichen. Sobald ein Therapieversagen vorliegt oder invasive Therapien geplant sind, ist die urodynamische Abklärung empfohlen und sinnvoll.
Definition und Leidensdruck
Bei der MI sind die Patientinnen gemäss den aktuellen Definitionen der International Continence Society (ICS) und der International Urogynecological Association (IUGA) sowohl von Drangsymptomen mit Inkontinenz als auch von Symptomen der Belastungsinkontinenz betroffen («mixed incontinence» = «the complaint of involuntary leakage associated with urgency and also with exertion, effort, sneezing or coughing») (2). Diese Definition stützt sich somit lediglich auf die Angaben der Patientin. Bei der MI sind die Symptome beider Inkontinenzformen individuell unterschiedlich ausgeprägt. Dies stellt grössere Anforderungen an Abklärung, Diagnostik und Wahl der Therapie als beispielsweise bei Belastungsinkontinenz. Oft tritt bei der MI eine der beiden Inkontinenzformen stärker in Erscheinung. Deshalb hat sich der Begriff der «dominierenden Komponente» etabliert. Komplizierend kommt hinzu, dass viele Patientinnen mit Belastungsinkontinenz wohl Drangsymptome, aber keine eigentliche Dranginkontinenz angeben. Harninkontinenz ist zwar nicht lebensbedrohlich, doch kann sie die Lebensqualität stark reduzieren und führt bei manchen Frauen zum sozialen Rückzug. Der Leidensdruck und der Schweregrad der Inkontinenz sind bei Patientinnen mit MI grösser als bei alleiniger Dranginkontinenz oder Belastungsinkontinenz (3). Doch nur ein Drittel sucht ärztliche Hilfe (1). Ihnen können erfolgreiche Therapien angeboten werden, nachdem die häufig tabuisierte Thematik angesprochen worden ist.
Diagnostik
Die Basisdiagnostik kann ausreichen, um konservative Therapien zu indizieren. Spätestens wenn diese nicht zum Erfolg führen oder wenn eine operative Therapie geplant ist, wird eine weiterführende Diagnostik empfohlen (Abbildung 2). Entsprechend zeigt die Verteilung der Harninkontinenzformen in unserer Urodynamiksprechstunde mit 48 Prozent am häufigsten eine MI, danach folgen Belastungsinkontinenz (30%) und überaktive Blase (22%) (4). Das Erkennen der individuellen dominierenden Komponente entscheidet über
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Prävalenz (%)
70
60
andere
50 40 OAB
30 20 Mischinkontinenz
10 Belastungsinkontinenz
0
1233445566778885050505050505––––––––––––––2233445566778849494949494949 90+
Altersbereiche (Jahre)
Abbildung 1: Altersverteilung der verschiedenen Inkontinenzformen (rot = Belastungsinkontinenz; hellgrün = gemischte Harninkontinenz; grün = Dranginkontinenz; weiss = andere Formen) (adaptiert nach [1]). Die Verteilung der verschiedenen Harninkontinenzformen ändert sich mit dem Alter: Bei älteren Frauen dominieren die MI und die überaktive Blase, bei jüngeren dagegen die Belastungsinkontinenz.
Anamnese/ Befunde
Anamnese mit Inkontinenz bei Belastungen und Drang (-Inkontinenz)
Arbeitsdiagnose
Hustentest positiv
Drang/ Inkontinenz
Urindiagnostik unauffällig
Restharn normal
Blasentagebuch
klar
Befunde: Atrophie? Senkung?
Diagnose: gemischte Harninkontinenz
evtl.
Ausführliche Besprechung/Erstellen eines Therapieplans
evtl.
Belastungsinkontinenz
Dranginkontinenz (OAB)
Behandlung nach «dominierender» Komponente
Konservative Therapie
Physiotherapie (mit Verhaltenstherapie)
Inkontinenztampons Medikamente:
evtl. lokale Östrogene
«Lifestyle»-Modifikationen Blasentraining/Physiotherapie
Medikamente: lokal: Östrogene system.: Anticholinergika Adrenorezeptoragonisten
UrodynDiagnose
Fehlender/zu geringer Erfolg; unklare Situation Erweiterte urogynäkologische Untersuchung mit Urodynamik/Zytoskopie
Invasive Therapie
Midurethrale Schlingenoperation (bulking agents)
Intravenöse Onabotulinumtoxin-A-Injektion (Neuromodulation peripher/zentral)
nach Perucchini
Abbildung 2: Vorgehen bei MI: Nach Diagnosestellung ist die ausführliche Besprechung der individuellen Diagnose und der (dominierenden) Symptomatik Bedingung für die Therapieplanung. Dies kann zusammen mit dem Spezialisten/Zentrum erfolgen. Der Entscheid zur Urodynamik kann individuell und nach Besprechung mit der Patientin jederzeit erfolgen. Vor invasiven Therapien wird eine Urodynamik empfohlen (10).
die zu wählende Behandlung und letztlich auch über den Erfolg. Urodynamische Daten vervollständigen die Diagnostik und erlauben eine gewisse Voraussage über den Erfolg einer invasiven Therapie.
Basisdiagnostik Die gezielte Anamnese hilft, die beiden Formen, Belastungsund Dranginkontinenz, voneinander abzugrenzen. Dabei müssen Art und Ausmass der Symptome und der Grad der
Beeinträchtigung sowie der Leidensdruck der Betroffenen erfragt werden. Mittels Urinuntersuchung (Urinsediment, evtl. Urikult) können ein Harnwegsinfekt und eine Mikrohämaturie ausgeschlossen werden. Bei der gynäkologischen Untersuchung sollten ein genitaler Senkungsbefund, eine Genitalatrophie und die Levatorkontraktionskraft beurteilt werden. Im Hustentest mit gefüllter Blase kann eine Belastungsinkontinenz objektiviert werden. Die Restharnbestimmung nach Spontanmiktion mittels Ultraschall oder mithilfe eines Einmalkatheters gibt darüber Auskunft, ob die Blasenentleerung vollständig ist oder ob Hinweise auf eine chronische Restharnbildung bestehen. Das Führen eines «Trinkund Blasentagebuches» mit Messung der Trinkmenge und der gelösten Urinportionen ist zur Standortbestimmung von zentraler Bedeutung. Über die Dauer eines Miktionsprotokolls gibt es unterschiedliche Empfehlungen, wobei sich drei «normale» Tage, die den Alltag der Patientin widerspiegeln, bewährt haben. Bei Frauen mit überaktiver Blase (OAB) finden sich häufige und kleine Miktionsportionen. Die frühmorgendlichen Urinportionen zeigen normalerweise ein grösseres Volumen als die Urinportionen des restlichen Tages. Dies kann in der Beratung genutzt werden, um der Patientin zu zeigen, wie viel doch in ihre Blase passt.
Pathophysiologie
Da bei der MI Symptome der Drang- und der Belastungsinkontinenz auftreten, sind die Ursachen besonders vielfältig; prinzipiell wahrscheinlich sind die gleichen Mechanismen ursächlich, welche für die Belastungsinkontinenz und die OAB bekannt sind. Die Belastungsinkontinenz ist primär die Folge der Verschlechterung der Urethraverschlussfunktion. Entsprechend zeigt der maximale Urethraverschlussdruck, der bei der Urodynamik gemessen wird, die beste Korrelation zur Symptomatik der Belastungsinkontinenz (5). Sekundär tragen auch Schwächung und Schädigung des urethralen Halteapparates und des gesamten Beckenbodens zur Symptomatik bei. Die OAB entsteht nach klassischer Vorstellung durch unwillkürliche Kontraktionen der Detrusormuskulatur. Neuere Arbeiten sehen das Urothel zunehmend mit aktiver Rolle bei der Blasenfunktionssteuerung (6). Auch die Afferenzen zum Hirn und das Gehirn selbst sind pathophysiologisch von Bedeutung – dies zeigen neueste Forschungsresultate (7). Bump (8) stellte die Hypothese auf, dass es sich bei MI um «eine schwerere Form» einer Belastungs- beziehungsweise einer Dranginkontinenz handle. Telemann konnte zeigen, dass mit zunehmendem Schweregrad einer Belastungsinkontinenz mehr Drangbeschwerden angegeben werden (9).
Konservative Therapieoptionen Die konservative Therapie umfasst Verhaltensänderungen, Lifestyle-Modifikationen, Blasen- und Beckenbodentraining, medikamentöse Therapie und die Anwendung von Inkontinenztampons. Nach sorgfältiger Basisdiagnostik und Besprechung der Therapieziele kann eine zielorientierte Therapie eingeleitet werden. Es wird verlangt, dass die Patientin über ihr Leiden, den möglichen Verlauf sowie Vor- und Nachteile verschiedener Behandlungen vor Beginn einer Therapie ausführlich informiert wird (10). Kurzfristige Erfolgschancen sind
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realistischerweise in rund 40 Prozent der Fälle zu erwarten. Die Therapie erfolgt danach in der Regel «Schritt für Schritt».
Verhaltenstherapie, Lebensstiländerungen, Blasentraining Im Rahmen der Verhaltenstherapie sollte der Patientin ein Grundverständnis für ihre Beschwerden vermittelt werden. Voraussetzung ist deshalb eine Information zur Anatomie und Physiologie von Kontinenz und Miktion mit Erklärung des Miktionsablaufes (10, 11). Zu den ersten therapeutischen Schritten gehören in diesem Zusammenhang das Führen eines Blasentagebuchs und danach die Besprechung desselben. In einem weiteren Schritt muss die Patientin zu einem Blasentraining motiviert werden. Dafür sind auch ein zusätzliches Beckenbodentraining und allenfalls Biofeedback hilfreich. Die Verhaltenstherapie wie auch das Blasentraining bedürfen der Umstellung des Tagesablaufs und einer hohen Eigenmotivation, die nicht von allen Patientinnen einfach aufgebracht werden kann. Diese konservativen Therapieformen erfordern deshalb viel Engagement und Unterstützung von ärztlicher Seite. Ziel des Blasentrainings bei OAB ist es, das im Miktionstagebuch erfasste kürzeste inkontinenzfreie Intervall sukzessive zu verlängern. Die Patientin entleert ihre Blase dabei vor dem Harndrang, was ihr ein Gefühl von Sicherheit in Bezug auf die Blasenfunktion vermittelt. Schrittweise soll so der Abstand der einzelnen Blasenentleerungen erhöht werden, bis ein 2 bis 3 Stunden langes Miktionsintervall respektive eine Blasenkapazität von zirka 300 ml bei der Miktion erreicht ist. Für folgende Änderungen des Lebensstils gibt es Evidenz (11): O Gewichtsreduktion um zirka 10 Prozent (bringt eine Ver-
besserung der OAB-Symptomatik um 50%) O Reduktion eines übermässigen Koffeinkonsums O Einschränkung der Trinkmenge um bis zu 25 Prozent O Verzicht auf scharfe Gewürze, Nikotin, künstliche Süss-
stoffe und kohlensäurehaltige Getränke O Vermeidung von Obstipation.
Zum Verhaltenstraining gehört auch ein adäquates Flüssigkeitsmanagement. Patientinnen nehmen vielfach an, dass der Nutzen einer hohen Flüssigkeitszufuhr darin bestünde, den Körper zu entgiften und die Stoffwechselfunktion der inneren Organe zu unterstützen. Die normale Trinkmenge regelt sich in erster Linie durch das Durstgefühl und kann – eine normale Nierenfunktion vorausgesetzt – in unseren gemässigten Breitengraden mit zirka 1,5 Litern angegeben werden (24 ml/kg Körpergewicht, siehe hierzu: www.sge-ssn.ch). Patientinnen mit OAB dürfen die Trinkmenge auf 1 bis 1,5 Liter reduzieren. Kaffee oder Tee dürfen in die tägliche Trinkmenge mit einbezogen werden, denn regelmässiger und nicht übermässiger Kaffeekonsum hat keine entwässernde Wirkung.
Beckenbodentraining Das Beckenbodenmuskeltraining ist einer der wesentlichen Grundpfeiler der Behandlung der MI. Beckenbodentraining, wie es auch für die Behandlung der Belastungsinkontinenz propagiert wird, stärkt einerseits den M. levator ani und den M. sphincter urethrae, andererseits wirkt es sich hemmend auf pathologische Detrusorkontraktionen aus. Eine vaginale niederfrequente (5–10 Hz) Elektrostimulation kann zusätzlich hilfreich sein.
Die Cochrane-Analyse von Demoulin und Kollegen hat den Nutzen der Beckenbodentherapie sowohl für Patientinnen mit Belastungsinkontinenz als auch für solche mit OAB und MI belegt (12). Bei Patientinnen mit alleiniger Belastungsinkontinenz wird dabei der beste Erfolg beschrieben.
Anwendung von in die Scheide eingeführten Hilfsmitteln In die Scheide eingeführte Hilfsmittel (Inkontinenztampon, Pessar) können durch Verbesserung des urethralen Widerlagers die Kontinenz bei Belastungen verbessern. Die Datenlage ist schwach. Eine Studie von Donnelly und Kollegen im Jahr 2004 (13) zeigt, dass von 190 Frauen, welche das Angebot eines Pessars erhielten, knapp 50 Prozent bereit waren, das Pessar anzupassen. Schliesslich wurde es von rund 30 Prozent für 6 Monate ausprobiert.
Medikamentöse Therapie Medikamentös werden neben lokal applizierten Östrogenen seit Jahrzehnten Anticholinergika und neu die Beta-3-Adrenorezeptor-Agonisten angewendet. Diese Medikamente wirken sich vor allem positiv auf die Drangsymptome aus. Ihre Wirkung: In der Speicherphase, in der sich der Urin in der Harnblase sammelt, überwiegt die sympathische Nervenstimulation. Die Nervenendigungen setzen Noradrenalin frei, das vorwiegend die Beta-3-Adreno-Rezeptoren in der Harnblasenmuskulatur aktiviert und dadurch den glatten Harnblasenmuskel entspannt. Dagegen wird die Harnblase in der Harnentleerungsphase vorwiegend vom parasympathischen Nervensystem kontrolliert. Die Pharmakotherapie erfolgte in den letzten Jahrzehnten durch verschiedene Medikamente über eine Rezeptorblockade mit Anticholinergika.
Lokale Hormontherapie Während typische Wechseljahrbeschwerden wie Hitzewallungen auch ohne Behandlung nach einigen Jahren häufig wieder verschwinden, wird die vulvovaginale Atrophie erst einige Jahre nach der Menopause manifest und verschlimmert sich danach schleichend. Seit der HERS-Studie wissen wir, dass die orale systemische Hormontherapie die Symptome einer Belastungsinkontinenz in der Postmenopause verschlechtert. Eine 2015 erschienene Metaanalyse (14) kommt zum Schluss, dass die lokale Anwendung von Hormonen zu einer Verbesserung von subjektiven Inkontinenzund Drangsymptomen führt. Die Kombination mit anderen Behandlungen wie Beckenbodentraining und medikamentöser Therapie wird empfohlen. Die Behandlung sollte möglichst früh einsetzen. Es stehen Cremes, Ovula und Vaginaltabletten zur Verfügung. Insgesamt ist aber die Datenlage dürftig, und es fehlen grössere prospektive Studien (11).
Anticholinergika Wenige Studien haben gezielt den Effekt von Anticholinergika bei MI untersucht. Häufig wurden Subgruppen von Patientinnen mit OAB analysiert, bei welchen auch eine Belastungsinkontinenz angegeben wurde. Die anticholinerge Behandlung hat bei Patientinnen mit dominanter OAB positive Auswirkungen auf Harndrang, Pollakisurie, Inkontinenzepisoden und Lebensqualität. Eine Verbesserung der MI wurde für praktisch alle in der Schweiz auf dem Markt erhältlichen Anticholinergika in verschiedenen Studien nachgewiesen (10).
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Die hauptsächlichen Nebenwirkungen umfassen Mundtrockenheit, Obstipation und Sehstörungen. Die Langzeitcompliance ist mit 12 bis 39 Prozent tief. Dies wird auf eine für die Patientinnen zu schwache Wirkung bei unangenehmen Nebenwirkungen zurückgeführt.
Beta-3-Adrenorezeptor-Agonisten 2013 kam in Europa der in Japan bereits 2011 und in den USA 2012 eingeführte Beta-3-Adrenorezeptor-Agonist Mirabegron (Betmiga®) zur Behandlung der OAB auf den Markt. Seit dem Spätsommer 2014 ist Mirabegron auch in der Schweiz erhältlich. Seine Wirkung beruht darauf, dass es an die in den Muskelzellen der Harnblase vorkommenden sympathischen Beta-3-Rezeptoren bindet und diese aktiviert. Die Wirksamkeit von Mirabegron wurde in randomisierten, plazebokontrollierten, doppelblinden Phase-III-Studien bei fast 10 000 Probanden nachgewiesen. Dabei wurden auch Patientinnen mit gemischter Inkontinenz und im Vordergrund stehender Drangsymptomatik eingeschlossen. Statistisch signifikant konnte eine Reduktion der durchschnittlichen Miktionen über 24 Stunden, der Inkontinenzepisoden und der Drangepisoden über 24 Stunden im Vergleich zu Plazebo nachgewiesen werden. Die erreichten Wirkungen sind mit denen der Anticholinergika vergleichbar – dies aber bei einer Inzidenz von Mundtrockenheit und Obstipation, welche mit der Plazebogruppe vergleichbar ist (11). Der Stellenwert von Mirabegron im Therapiealgorithmus der OAB ist Gegenstand von Diskussionen. Es gibt keine publizierten Studien, welche die Wirksamkeit von Mirabegron bei gemischter Inkontinenz belegen.
Operative Therapie
Vor einer operativen Therapie sollen die konservativen Massnahmen ausgeschöpft werden. Es spricht nichts dagegen, eine operative Therapie auch Patientinnen mit MI anzubieten. Allerdings muss allen Beteiligten präoperativ klar sein, dass die Behandlung komplexer und rezidivanfälliger ist und deshalb die Patientin präoperativ sorgfältig untersucht und intensiv aufgeklärt werden muss; vor allem dann, wenn die OABBeschwerden dominant sind. Vor einer invasiven Therapie wird die urodynamische Abklärung empfohlen (10).
Schlingenoperationen Die Schlingenoperationen haben die chirurgische Therapie der Belastungsinkontinenz revolutioniert; sie können auch bei MI eingesetzt werden. Kulseng-Hanssen und Kollegen (15) haben Patientinnen mit MI in die drei Gruppen «dominante Belastungsinkontinenz», «OAB und Belastungsinkontinenz gleichwertig» und «dominante OAB» eingeteilt und eine abnehmende Heilungsrate von 80 Prozent, 60 Prozent und 52 Prozent gefunden. Die Erfolgsraten bei Patientinnen mit belastungsbetonter MI betragen gemäss der Metaanalyse aus dem Jahr 2011 von Jain und Kollegen (16) 85 bis 97 Prozent für die Gruppe «dominante Belastungsinkontinenz», wobei die Heilungsraten bei Dranginkontinenz mit 30 bis 85 Prozent deutlich niedriger sind und mit der Zeit sogar abnehmen. Eine weitere, 2015 erschienene retrospektive Studie von Zyczynski (17) zeigt, dass es bei belastungsbetonter MI in 57 bis 71 Prozent der Fälle zu einer mindestens 70-prozentigen Besserung von Drang- und Dranginkontinenzsymptomen kommt.
Gute Patientinnenselektion und -aufklärung sind für gute Erfolgsraten entscheidend. Denn persistierende Drangsymptome sind auch ein häufiger Grund für Unzufriedenheit nach Schlingenoperationen. Urodynamische Daten können Befunde objektivieren und erlauben eine gewisse Voraussage über den Erfolg einer Operation. Die besten Erfolgsraten finden sich bei belastungsbetonter MI. In der Zystometrie objektivierte Detrusorhyperaktivität sowie verminderte Blasenkapazität vermindern die Erfolgsrate ebenso wie ein tonometrisch objektivierter tiefer maximaler Urethraverschlussdruck. Ob eine Schlinge klassisch retropubisch oder transobturatorisch eingelegt wird, scheint die Erfolgsraten nicht zu beeinflussen (10). Bezüglich Langzeitresultaten nach operativer Therapie wissen wir aus einer grossen retrospektiven Kohortenstudie, dass die Erfolgsrate 3 Jahre nach TVT (tension-free vaginal tape) bei Patientinnen mit MI bei 60 Prozent liegt und dass sie sich danach stetig verschlechtert. Nach 6 bis 8 Jahren lag sie in dieser Studie noch bei 30 Prozent; dabei nahmen Drangbeschwerden sowie Inkontinenz bei Harndrang konstant zu (18).
Operative Therapie mittels «bulking agents» Zur Unterpolsterung der Harnröhre werden sogenannte «bulking agents» ambulant in Lokalanästhesie in die urethrale Submukosa im Bereich der mittleren Harnröhre injiziert. Hierfür werden unterschiedliche Materialien verwendet (Kollagen, Silikon, Polyacrylamid-Hydrogel u.a.m.). Die Datenlage zu Urethrainjektionen bei MI ist dürftig, dabei werden die Resultate bei Belastungs- und MI häufig nicht getrennt publiziert. Es liegen nur wenige Langzeitergebnisse vor – diese liegen bei der Verwendung von Polyacrylamid-Hydrogel (Bulkamid®) bei 60 bis 90 Prozent (20).
Botulinum-Neurotoxin-Therapie Bei Unverträglichkeit und nicht ansprechender anticholinerger Therapie werden seit Januar 2015 die Kosten für Onabotulinumtoxin-A (Botox®) bei der Behandlung der therapierefraktären idiopathischen überaktiven Blase von der Krankenkasse übernommen. Onabotulinumtoxin-A ist ein natürliches Nervengift. Es hat sich als sehr effektiv bewährt – sowohl im klinischen Alltag als auch in vielen randomisiertkontrollierten und teilweise plazebokontrollierten Studien (19). Die lokale intravesikale Injektion von 100 Einheiten Botox in die Blasenwand hat sich als sicher herausgestellt. Die Patienten müssen auf das Risiko von gehäuften Harnwegsinfektionen und vorübergehender Restharnerhöhung aufmerksam gemacht werden. Dies kann in rund 5 Prozent der Fälle eine vorübergehende intermittierende Selbstkatheterisierung nötig machen. Dies schreckt Patientinnen teilweise von der Wahl dieser Therapie ab. Die Wirkung an der glatten Detrusormuskulatur ist mit durchschnittlich 9 Monaten erheblich länger als jene an der Skelettmuskulatur, wo die Wirkung meist nur 6 bis 12 Wochen anhält. Es gibt keine Studien zur Wirksamkeit von Onabotulinumtoxin-A bei der Behandlung von Patientinnen mit gemischter, drangbetonter Inkontinenzsymptomatik.
Neuromodulation Bei der Neuromodulation wird die Funktion nachgeschalteter Neurone durch Stimulation eines Neurons «moduliert».
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Es kommt dadurch zum indirekten Effekt am Zielorgan. Die
(periphere) Neuromodulation könnte bei der Behandlung
von Drangsymptomen eine immer wichtigere Rolle einneh-
men und eine Alternative zu pharmakologischen und opera-
tiven Therapien darstellen. Gängige Arten der Neuromodu-
lation bei der OAB sind die perkutane tibiale Nervenstimula-
tion (PTNS), die transkutane elektrische Nervenstimulation
(TENS) und die sakrale Neuromodulation. Bei der periphe-
ren Neuromodulation erfolgt die Stimulation von afferenten
Bahnen der unteren Extremitäten über verschiedene Der-
matome mittels Oberflächen- oder Nadelelektroden. Es gibt
keine Daten zur Erfolgsrate der Neuromodulation bei
gemischter Harninkontinenzsymptomatik (10).
O
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Daniele Perucchini Blasenzentrum Zürich Stadelhofen 8001 Zürich E-Mail: perucchini@blasenzentrum.ch
Dr. med. Cornelia Betschart
Prof. Dr. med. Daniel Fink
Dr. med. David Scheiner
Klinik für Gynäkologie, Universitätsspital Zürich
8091 Zürich
Interessenkonflikte: keine
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