Transkript
FORTBILDUNG
Serie: Palliativmedizin in der Praxis
Essen ist Leben – Leben ist Essen
Ernährung in der Palliative Care
In allen Lebensphasen spielt die Ernährung eine wichtige Rolle – auch in der Palliative Care. Isst eine Person zu wenig beziehungsweise nicht mehr, stellen sich häufig Fragen zum weiteren Vorgehen. Die Situation kann bei den Involvierten – Patient, Angehörige und betreuende Fachpersonen – Gefühle wie Angst oder Hilflosigkeit auslösen, welche die Entscheidungsfindung und die Interventionswahl beeinflussen können. Der Artikel gibt praktische Tipps für die Betreuung von palliativen Patienten mit Ernährungsschwierigkeiten.
Sara Häusermann
«Den Tagen Leben geben, nicht dem Leben Tage.»
Cicely Saunders, Begründerin der Hospizbewegung
«Wenn nichts mehr zu machen ist, ist noch viel zu tun!»
Andreas Heller, Katharina Heimerl und Stein Husebö, Herausgeber eines Standardwerks zur Palliative Care
«Das Maximum ist nicht immer das Optimum.»
Jean Martin, ehem. Mitglied der nationalen Ethikkommission
«Die Würde des Menschen besteht in der Wahl.»
Max Frisch
Diese vier Zitate charakterisieren die Grundhaltung der Palliative Care in wenigen Worten. Palliative Care bietet bestmögliche Lebensqualität bei einer unheilbaren Krankheit. Sie umfasst medizinische Behandlungen, aber auch Pflege sowie psychologische, soziale und spirituelle Unterstützung. Pallia-
MERKSÄTZE
O Je nach Erkrankungsphase gelten bezüglich der Ernährung andere Zielsetzungen und Prioritäten.
O Die Ernährung wird in der Anfangsphase der Erkrankung oft zu wenig, in der Endphase hingegen zu intensiv berücksichtigt.
O Die Patienten- und Angehörigenedukation hinsichtlich Ernährung ist besonders wichtig.
tive Care trägt auf diese Weise dazu bei, trotz vielfältiger Beschwerden eine gute Lebensqualität und ein würdevolles Sterben zu ermöglichen (1). Dafür braucht es das ganze interprofessionelle Team der Gesundheitsfachpersonen, insbesondere auch den Hausarzt. Palliative Care umfasst die Betreuung von Personen mit einer lebenslimitierenden Erkrankung und ihrer Angehörigen von der Diagnosestellung bis zum Tod. Die prognostischen Phasen der Palliative Care können laut Joray, Leuenberger, Eychmüller und Stanga (2) in einzelne Zeiträume mit folgender Lebenserwartung unterteilt werden: Mehr als 6 Monate, 1 bis 6 Monate, wenige Wochen bis Tage, weniger als 14 Tage. Palliative Care darf also nicht einzig mit der Betreuung in der finalen Lebensphase gleichgesetzt werden.
Ernährung in der Palliative Care
Essen ist Leben – Leben ist Essen. Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten von palliativen Patienten werden häufig sowohl vom Patienten als auch der Familie und von den involvierten Gesundheitsfachpersonen mit Besorgnis wahrgenommen – insbesondere dann, wenn die Ernährung nicht mehr bedarfsdeckend ist. Ernährungsprobleme können den Teufelskreis «Mangelernährung, Sarkopenie, Inaktivität und Inappetenz» (3) in Gang setzen, welcher den Allgemeinzustand des Betroffenen massiv beeinflusst und zu Gebrechlichkeit (frailty) (4) führt.
Screening und Assessment
Um eine der individuellen Situation angepasste, sinnvolle Therapie zu planen, ist ein frühzeitiges Screening beziehungsweise ein Assessment bezüglich Malnutrition zentral (5). Insbesondere für das Ernährungsscreening im ambulanten Bereich empfiehlt die European Society for Clinical Nutrition and Metabolism das «Malnutrition Universal Screening Tool» (MUST) (6). Liegt ein hohes Risiko für eine Malnutrition vor, muss ein ausführliches Assessment durchgeführt werden. Hier soll insbesondere auch nach sekundären Ursachen für die Malnutrition wie Probleme mit den Zähnen beziehungsweise den Prothesen, orale Mukositis, Dysgeusie, Dysphagie, Nausea, Obstipation, Schmerzen beim Kauen, Dyspnoe, Fatigue oder psychischen Problemen wie Angst, Trauer oder Wut gesucht werden. Für die Erfassung der oft komplexen palliativen (Ernährungs-) Situationen bietet sich das in Tabelle 1 ersichtliche «palliative Assessment» mit dem Akronym SENS (Symptommanagement, Entscheidungsfindung, Netzwerk, Support) an (7). Dabei wird nach der aktuellen Symptomlast und bereits durchgeführten
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Tabelle 1:
Palliatives Assessment: SENS (7)
Symptommanagement
Entscheidungsfindung
Netzwerk Support
beste Möglichkeiten der Symptombehandlung und Stärkung der Betroffenen zur Selbsthilfe in der Symptombehandlung
Definition der eigenen Ziele und Prioritäten; schrittweise, selbstgesteuerte Entscheidungsfindung und präventive Planung für mögliche Komplikationen
Aufbau eines Betreuungsnetzes unter Zusammenführung ambulanter und stationärer Strukturen
Aufbau von Unterstützungssystemen für die Angehörigen, auch über den Tod hinaus Unterstützungsmöglichkeiten auch für die beteiligten Fachpersonen
Interventionen, dem Stand der Entscheidungsfindung (Definition der patienteneigenen Ziele und Prioritäten), dem gegenwärtigen Netzwerk (involvierte ambulante oder stationäre Dienste) sowie dem Supportbedarf der Angehörigen gefragt. Es werden nicht nur Probleme, sondern auch Ressourcen und Wünsche erfasst.
Allgemeine Interventionen bei Ernährungsproblemen Gerade bezüglich des Managements von Ernährungsproblemen in der Palliative Care fühlt sich das Gesundheitsfachpersonal oft zu wenig verantwortlich (8). Löser (9) bringt es treffend auf den Punkt: «Das grundsätzliche Problem, das es für die in die Betreuung des Palliativpatienten Involvierten zu lösen gilt, ist die Tatsache, dass es in der Anfangsphase in der Regel deutlich zu wenig und in der Endphase der Erkrankung häufig zu viel Engagement in Bezug auf die Ernährung gibt!» Es ist wichtig, ein der Phase der Palliative Care entsprechendes realistisches Ziel des Ernährungsmanagements zu formulieren und sinnvolle Interventionen zu planen. Dabei ist das maximal Mögliche nicht immer das Optimum für den Patienten. Die in Tabelle 2 dargestellten Fragen können eine Unterstützung bei der Entscheidungsfindung sein. Unabhängig von der Krankheitsphase sind folgende Aspekte zur Ernährung in der Palliative Care zu beachten, die im Weiteren detailliert erläutert werden:
Tabelle 2:
Entscheidungsfindung bei der Interventionswahl
Fragestellungen an das interprofessionelle Team
1. Was genau ist das Problem?
2. Wer benennt das Problem als Problem?
3. Welche Priorität hat das Problem?
4. Ist weitere Diagnostik nötig/zumutbar?
5. Wie ist die Krankheitsdynamik (geschätzte Überlebenszeit)?
6. Welche Intervention wird von wem und warum in Betracht gezogen? – Wirkungen/Nebenwirkungen, Vor-/Nachteile, Zeitaufwand? – Spezieller Durchführungsort nötig? – Reduktion (hoher) Komplikationswahrscheinlichkeit? – Wahrscheinlichkeit für Verbesserung des Problems?
nach Brown & Chekryn, 1989 (29) und Omlin & Strasser, 2008 (30); adaptiert/ergänzt durch S. Häusermann
O organisatorische Aspekte und Beratung O Ernährung allgemein O Einsatz von Trinknahrung O Bewegung O medikamentöse Therapie.
Organisatorische Aspekte und Beratung In der Palliative Care hat die interprofessionelle Zusammenarbeit einen besonderen Stellenwert; auch die Ernährung ist eine multiprofessionelle Aufgabe (10). Pflegefachpersonen haben aufgrund ihres Patientenkontakts in allen Krankheitsphasen eine Schlüsselrolle im Ernährungsmanagement inne (11). In komplexen Situationen ist der Beizug von Fachpersonen der spezialisierten Palliative Care sinnvoll (ambulante Palliativsprechstunde oder temporärer stationärer Aufenthalt auf einer spezialisierten Palliativstation). Wichtig ist eine individuelle Beratung bezüglich der Nahrungsaufnahme, wobei insbesondere im ambulanten Setting auch die Angehörigen einbezogen werden sollen. Es sollte ein individueller Ernährungsplan erstellt werden (12). Hilfreich können auch Informationsbroschüren sein (z.B.: «Ernährungsprobleme bei Krebs»; Krebsliga Schweiz, 2014).
Ernährung allgemein
Empfohlen wird eine eiweiss- und, sofern verträglich, fettreiche Ernährung (12). Eine «gesunde Diät» (wenig Fett, viele Ballaststoffe, 5 Portionen Früchte/Gemüse pro Tag) ist für palliative Patienten mit Ernährungsproblemen unpassend (13). In einem ersten Schritt empfiehlt es sich, das Essen/Trinken natürlich anzureichern. Dazu kann Butter, Rahm, Doppelrahm, Sauerrahm, Kondensmilch, Olivenöl, Rapsöl, Rahmquark, Milchpulver, geriebener Käse, Mayonnaise, Honig, Zucker, Birnendicksaft oder Ahornsirup verwendet werden. Somit steigt der Energiegehalt, nicht aber das Volumen der Nahrung, was einer frühen Sättigung entgegenwirkt (5). Auch eine künstliche Nahrungsanreicherung durch Fett (z.B. Calogen®; 30 ml = 135 kcal) oder Kohlenhydrate (z.B. Maltodextrin®) ist möglich. Zudem wird die Einnahme vieler kleiner Mahlzeiten über den Tag verteilt (alle 2 bis 3 h) empfohlen (5). Ein Vorrat an Naschereien (Käsewürfel, Cracker, Biskuits, Schokolade, Eis, Nüsse) kann in kleinen Schalen im Haus verteilt werden, sodass überall etwas geknabbert werden kann (14). Vor dem Essen kann eine Appetit- beziehungsweise Verdauungssekretanregung indiziert sein (wenig Campari, Wermut, Martini,
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Kasten:
Phasen der Palliative Care (23)
Fallbeispiel 1: frühe Phase der Palliative Care Käthi Kohler, 88 Jahre alt: O nach mehreren Stürzen aufgrund von Schwäche seit einem Jahr
im Pflegeheim O verwitwet, guter Kontakt zu Tochter und Enkel O eingeschränkt durch sturzbedingte Verletzungen (u.a. Schultern) O berichtet von weniger Appetit und schnellem Völlegefühl O rezidivierende Obstipation O schlecht sitzende Zahnprothese
Fallbeispiel 2: späte Phase der Palliative Care Hans Reuter, 63 Jahre alt: O chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) seit 10 Jahren;
Bronchuskarzinomdiagnose vor zwei Monaten, lehnte jegliche Therapie ab O ledig, lebt in einem Einfamilienhaus zusammen mit einer Cousine, die sehr bemüht um Herrn Reuter ist O seit einem Monat reduzierter Allgemeinzustand und Dyspnoe, klagt über Inappetenz und zeitweise Nausea; wirkt sehr traurig, spricht kaum
Fallbeispiel 3: finale Phase der Palliative Care Lucia Di Santo, 45 Jahre alt: O metastasierendes Mammakarzinom O verheiratet, Mutter eines 25-jährigen Sohnes, Grossmutter O wurde die letzten Monate zu Hause von Ehemann und Spitex
gepflegt O seit vier Tagen auf der Palliativstation eines Pflegeheims wegen
schlechten Allgemeinzustands (Ehemann überfordert mit Pflege und Beruf) O seit gestern soporös
Bier eine Stunde vor dem Essen, bitterstoffhaltige Teesorten wie Wermut, Tausendgüldenkraut, Enzianwurzel, Schafgarbe [15]). Das Trinken sollte nach Möglichkeit zwischen den Mahlzeiten und nicht unmittelbar (30 min) vor oder während des Essens geschehen (5). Volumenreiche, energiearme Nahrungsmittel (Gemüse, Salat, Obst) sollten nur in kleinen Portionen eingenommen werden (15).
Trinknahrungen Trinknahrungen (Fresubin®, Resource® etc.) sollten nur eingesetzt werden, wenn sich der Patient trotz der oben genannten Tipps nicht bedarfsdeckend ernähren kann (16, 17). Es werden eiweiss- und kalorienreiche Produkte empfohlen; diese sollten mit Abstand zu den Hauptmahlzeiten eingenommen werden (14). Das Ausprobieren verschiedener Geschmacksrichtungen (auch geschmacksneutrale Produkte) lohnt sich. Der Geschmack kann durch Zugabe von beispielsweise Zimt, Vanillezucker, Honig, Instantkaffee, Kakao, Banane oder Rahmglace variiert werden. Viele Patienten mögen die Produkte kalt serviert oder zu Würfeln gefroren.
Oft sind Patienten vom Geschmack der Trinknahrung irritiert, was zu einer schlechten Adhärenz führt. Es kann zielführend sein, zu erklären, dass man die Trinknahrung wie ein Medikament einnehmen soll (18).
Bewegung Um den Appetit anzuregen und dem Muskelabbau entgegenzuwirken, ist Bewegung indiziert; die Intensität muss individuell gewählt werden (12). Dies kann ein Spaziergang vor beziehungsweise nach dem Essen sein oder auch das Einnehmen des Essens am Tisch statt im Bett. Ausdauer und Kraft sollen alltagsnah und praktikabel trainiert werden; dabei kann es sinnvoll sein, dem Patienten Übungen zu «verordnen»: zum Beispiel ein 5-minütiger Spaziergang 3 ×/Tag und 2 ×/Tag Krafttraining mit gefüllten PET-Flaschen.
Medikamentöse Therapie
Bei frühem Sättigungsgefühl kann versuchsweise Metoclopramid eingesetzt werden (12, 19). Kortikosteroide sollten nur kurzzeitig (2 Wochen) eingesetzt werden; es bestehen keine eindeutigen Dosierungsrichtlinien (18). NSAR haben keinen eindeutigen Effekt auf Tumorkachexie bei (fortgeschrittenem) Krebs (20). Progestine führen zu einer Zunahme von Fett und Wasser, nicht aber von Muskelmasse. Wegen ihrer häufigen thromboembolischen Nebenwirkungen und dem fehlenden Effekt auf die Lebensqualität sind sie kaum im Einsatz (18). Multimikronährstoffpräparate mit Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen sollten 100 Prozent der empfohlenen täglichen Zufuhr nicht überschreiten (21). Für die Applikation von Fischölkapseln (Omega-3-Fettsäuren) bei Tumorpatienten gibt es keine eindeutige Empfehlung (18). Bei Geschmacksveränderungen kann eine Kontrolle des Zinkserumspiegels und gegebenenfalls eine Substitution sinnvoll sein.
Interventionen in der frühen Phase der Palliative Care
Je nach Prognose gelten bezüglich der Ernährung andere Zielsetzungen und Prioritäten. Im Kasten werden typische Fallbeispiele für die verschiedenen Phasen der Palliative Care geschildert. Ziel in der frühen Phase der Palliative Care (s. Kasten, Fallbericht 1) ist es, das Gewicht so lange wie möglich stabil zu halten beziehungsweise weiteren Gewichtsverlust zu verhindern (22). Dabei ist es von zentraler Bedeutung, den Patienten aufzuzeigen, dass eine nicht bedarfsdeckende Ernährung Auswirkungen auf ihren Allgemeinzustand hat. Der Teufelskreis «Mangelernährung, Sarkopenie, Inaktivität und Inappetenz» (3) soll mit dem Patienten besprochen werden. In dieser Phase der Palliative Care können viele Betroffene ihre Nahrungsaufnahme rational mitsteuern («mit dem Kopf essen»; [18]). Entscheidet sich ein Patient trotz dieser Informationen gegen eine bedarfsdeckende Ernährung, ist sein Wille zu respektieren. Probleme, welche die Nahrungsaufnahme beeinflussen, sollen systematisch erfasst werden; der Fokus liegt auf den reversiblen Faktoren (im Fall von Frau Kohler: Obstipation, schlecht sitzende Zahnprothese). Die Betroffenen sollen so lange wie möglich das essen, was sie mögen: «Und nun hat Käthi Kohler doch noch etwas Hunger. Rösti mit Käse überbacken soll es geben. Das ist etwas schwer. Aber ein Süppchen vielleicht oder einen kleinen Salat würde sie schon nehmen» (23).
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Parenterale oder enterale Sondenernährung kann grundsätzlich diskutiert werden, wenn weniger als 60 Prozent des Energiebedarfs oral gedeckt werden kann (2, 21). Bei onkologischen Patienten fördern die Sonden- oder parenterale Ernährung das Tumorwachstum nicht (16, 21), haben aber nicht in jedem Fall eine lebensverlängernde Wirkung. Im Stadium der refraktären Kachexie können auch sie keine Verbesserung der Ernährungssituation mehr erzielen (2, 22). Sondenernährung kann die Lebensqualität in einer frühen Phase der Palliative Care verbessern, aber sie soll keine Routinemassnahme am Ende des Lebens sein (9). Die spätere Beendigung einer Therapie (withdrawal), wie zum Beispiel das Sistieren der Ernährung via Sonde, kann für alle Beteiligten belastender sein als der Verzicht auf den Beginn einer solchen Therapie (withholding).
Späte Phase der Palliative Care
In der späten Phase der Palliative Care liegt oft eine Kachexie beziehungsweise eine refraktäre Kachexie vor. Gewichtserhalt oder -zunahme ist meist nicht mehr realistisch (22). Die Lebensqualität des Patienten steht im Vordergrund: Was will der Betroffene? Zudem ist auch hier das Management der die Ernährung beeinflussenden Faktoren wie Dyspnoe, Nausea oder depressive Verstimmung (Kasten, Fallbericht 2) von zentraler Bedeutung. Die Angehörigen kachektischer Patienten sind gerade im häuslichen Setting oft massiv belastet: Es kommt immer wieder zu Auseinandersetzungen bezüglich des Essens zwischen ihnen und dem Betroffenen. Es ist wichtig, allen zu versichern, dass der Appetitverlust und das frühe Sättigungsgefühl nicht unter Kontrolle des Betroffenen sind (11). Ist bereits eine refraktäre Kachexie vorhanden, muss erklärt werden, dass die Ernährung nur wenig bis keine Wirkung mehr hat beziehungsweise die Verdauung oft massiv belastet (11). Der Patient soll nur noch das essen, was er wirklich mag, und so viel, wie er mag. Der Druck am Esstisch kann reduziert werden, indem man darauf hinweist, dass dieser Ort primär als Möglichkeit zum sozialen Kontakt gesehen werden und die Nahrungsaufnahme ohne Druck/Gegendruck ablaufen soll. Zudem soll den Angehörigen erklärt werden, dass ihr erlebter Stress und ihre Ängste bezüglich nicht bedarfsdeckender Ernährung nachvollziehbar sind. Die Essenszubereitung ist für Angehörige oft ein Zeichen von Liebe und Zuwendung (24). Es kann hilfreich sein, mit ihnen Strategien zu entwickeln, wie sie dies auf andere Art tun können (z.B. Anbieten einer Handmassage). Patienten- und Angehörigenedukationsgespräche über das Nicht-Essen entwickeln sich häufig zu Gesprächen über den bevorstehenden Verlust und das Abschiednehmen.
Finale Phase der Palliative Care
Die physiologische/terminale Dehydratation wird als langsame, allmähliche Abnahme des Wassergehaltes des Körpers in der Sterbephase mit einer Veränderung des Salzhaushaltes beschrieben (25). Sterbende verlieren oft jeglichen Wunsch nach Essen und Trinken. Der Vorgang wird als physiologisch betrachtet; die durch die Dehydratation ausgelöste Endorphinausschüttung kann im Sterbeprozess auftretende Symptome lindern (26). Es sollte regelmässig Mundpflege bis viertelstündlich (Wasser, Lieblingsflüssigkeit) sowie Lippenpflege (Lippenpomade)
durchgeführt werden, was einer Xerostomie entgegenwirkt. Trockene Haut kann mehrmals täglich mit einer feuchtigkeitsspendenden Lotion eingecremt werden, um Pruritus vorzubeugen. Die Patientin soll auf Symptome wie Unruhe, «Schmatzen», Muskelkrämpfe und trockene Mundschleimhäute beobachtet werden. Wichtig ist hier die Angehörigenedukation: Viele haben Angst, der Versterbende müsse verdursten. Es kann zielführend sein, zu erklären, wie ein Mensch natürlicherweise verstirbt, dass Dehydratation ein normaler Vorgang ist und es zum «guten Sterben» nicht zwingend Infusionen braucht. Schon Cicely Saunders, eine der Begründerinnen der Palliative Care, hat betont: Die Patienten sterben nicht, weil sie nicht essen, sondern sie essen nicht, weil sie sterben. Bei geäussertem Durst, sehr trockenen Mundschleimhäuten oder starker Unruhe kann eine Rehydrierung in Betracht gezogen werden. Diese hat zum Ziel, Symptome zu verbessern, welche die Lebensqualität des Betroffenen negativ beeinflussen. Bei der sogenannten Hypodermoklyse werden via einen subkutanen Butterfly (Liegedauer bis 14 Tage) 500 bis 1000 ml NaCl 0,9% pro Tag appliziert (27). Der Entscheid zur Rehydrierung soll mindestens einmal täglich evaluiert werden; sie bringt nicht zwingend Vorteile bezüglich der Symptombelastung in der Sterbephase (28).
Zusammenfassung O Das Gesundheitspersonal fühlt sich für das Ernährungsma-
nagement in der Palliative Care häufig zu wenig verantwortlich. In der Anfangsphase der Erkrankung kümmert es sich in der Regel zu wenig, in der Endphase zu viel ums Essen. O Je nach Phase der Palliative Care werden bezüglich Ernährung andere Ziele angestrebt und andere Interventionen durchgeführt. Bei jedem palliativen Patienten soll ein realistisches Ziel formuliert werden. Dazu muss man die Wünsche des Betroffenen kennen. O Das maximal Mögliche ist nicht immer das Optimum für den Patienten. O Die Patienten- und Angehörigenedukation ist hinsichtlich Ernährung besonders wichtig. Die Interventionen sollen für Laien nachvollziehbar erklärt und begründet werden. O Fallbesprechungen im interprofessionellen Team oder der Beizug von Fachpersonen der spezialisierten Palliative Care können zur Optimierung der Betreuung beitragen. O
Sara Häusermann BScN, cand. MSc Palliative Care, MAS in Onkologischer Pflege Dozentin Department Gesundheit Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) Technikumstrasse 71, Postfach, 8401 Winterthur E-Mail: posa@zhaw.ch
Literatur unter www.arsmedici.ch
Wir danken Herrn Dr. med. Markus Denger, wissenschaftlicher Beirat von ARS MEDICI und Vorstandsmitglied Hospiz Aargau, Frau Dr. med. Heike Gudat, Vorstandsmitglied von palliative.ch, und Dr. med. Klaus Bally, Institut für Hausarztmedizin der Universität Basel, für ihre Unterstützung bei der Konzeption und Planung unserer Serie «Palliativmedizin in der Praxis».
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