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BERICHT
Aktuelle Behandlungsstrategien bei Typ-2-Diabetes
An einem Symposium im Rahmen der Fortbildungsveranstaltung «Innere Medizin fachübergreifend – Diabetologie grenzenlos» wurden die wichtigsten aktuellen Punkte zur Behandlung mit Sulfonylharnstoffen, Inkretinen, SGLT-2-Hemmern und ultralang wirksamen Insulinen erläutert.
Claudia Borchard-Tuch
«Unsere ärztliche Aufgabe ist, eine Versorgung anzubieten, die die individuellen Präferenzen, Bedürfnisse und Werte der individuellen Patienten respektiert und berücksichtigt, und sicherzustellen, dass die Werte des Patienten die klinischen Entscheidungen führen», erklärte Prof. Dr. Martin Pfohl, Duisburg. In diesem Zusammenhang stellte Pfohl die Frage, ob Sulfonylharnstoffe noch einen Platz in der Therapie des Typ-2-Diabetes haben. Sulfonylharnstoffe zählen zu den «alten» oralen Antidiabetika.
Sulfonylharnstoffe: Sicherheitsdaten – Risikoevaluation Sulfonylharnstoffe blockieren in der B-Zelle Kaliumkanäle. Die resultierende Membrandepolarisation öffnet span-
MERKSÄTZE
O Metformin ist Mittel der ersten Wahl bei der oralen medikamentösen Therapie des Typ-2-Diabetes.
O Nach Metformin ist die Datenlage begrenzt. Bei SGLT-2-Inhibitoren besteht möglicherweise ein erhöhtes Ketoazidoserisiko.
O Ob Insulin degludec einen Zusatznutzen gegenüber anderen Langzeitinsulinen besitzt, ist umstritten.
nungsabhängige Kalziumkanäle und führt dann zu einer erhöhten intrazellulären Kalziumionenkonzentration und damit zu einer gesteigerten Exozytose von Insulin. Von Vorteil ist, dass Sulfonylharnstoffe altbewährt, die mikrovaskulären Komplikationen gering und die Kosten niedrig sind. Nachteile sind ein erhöhtes Risiko für Hypoglykämien und Gewichtszunahme sowie ein mit der Zeit eintretender Wirkungsverlust. Gemäss den Empfehlungen der Nationalen Versorgungsleitlinie sollte in der ersten Stufe eine Basistherapie durchgeführt werden (Schulung, Ernährungstherapie, Steigerung der körperlichen Aktivität, Raucherentwöhnung). In der zweiten Stufe gilt Metformin als Medikament der ersten Wahl. Nur bei Unverträglichkeit sollte ein Sulfonylharnstoff (z.B. Glibenclamid) gegeben werden. In der dritten Stufe wird Insulin allein oder eine Zweifachkombination, zum Beispiel Metformin plus Glibenclamid oder Metformin plus DPP-(Dipeptidylpeptidase-)4-Inhibitor, empfohlen. In einer retrospektiven Studie, an welcher 78 241 Diabetespatienten teilnahmen, zeigte sich unter der Therapie mit Metformin eine signifikant niedrigere Mortalität als unter der Behandlung mit Sulfonylharnstoffen.
Inkretinmimetika
Inkretinmimetika simulieren die Wirkung der Inkretine, die als Antwort auf Kohlenhydrate im Dünndarm ausge-
schüttet werden. Diese Enterohormone verstärken die Antwort des Pankreas auf einen Anstieg der Blutglukose. Zu den Inkretinmimetika gehören zum einen die GLP-(glucagon-like peptide-) 1-Rezeptor-Agonisten, die parenteral (s.c.) verabreicht werden müssen, und zum anderen die Hemmstoffe der DPP4 (Gliptine), die oral verfügbar sind. GLP-1-Rezeptor-Agonisten aktivieren GLP-1-Rezeptoren. Infolgedessen steigt die Insulinausschüttung, und die Glukagonsekretion vermindert sich. Die Magenentleerung verzögert sich, und das Sättigungsgefühl steigt. «Von Vorteil ist, dass sich das Gewicht nicht erhöht», so Prof. Dr. Baptist Gallwitz, Tübingen. Auch kommt es nicht zu einer Hypoglykämie. Die kardiovaskulären Risikofaktoren werden gesenkt. Von Nachteil ist, dass GLP-1-RezeptorAgonisten Übelkeit und Tachykardien auslösen können. Möglicherweise sind die Risiken für eine Pankreatitis und ein medulläres Schilddrüsenkarzinom erhöht. Die Behandlungskosten sind sehr hoch. DPP-4 ist das Enzym, das GLP-1 physiologisch zu einem inaktiven Metaboliten abbaut und damit die Ausschüttung von Insulin reduziert. Auch bei den DPP-4-Inhibitoren kommt es nicht zu Hypoglykämien. DPP-4-Inhibitoren sind im Allgemeinen gut verträglich, können jedoch zu Angiödemen, Urtikaria und Herzinsuffizienz führen. Möglicherweise kann auch eine Pankreatitis entstehen. Die Therapiekosten sind hoch.
Aktuelle Studien
zu DPP-4-Inhibitoren
Bei der EXAMINE-Studie handelte es sich um eine randomisierte, doppelblinde, plazebokontrollierte Studie an 898 Zentren in 49 Ländern. Untersucht wurde der DPP-4-Inhibitor Alogliptin
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ARS MEDICI 17 I 2016
BERICHT
nach akutem Koronarsyndrom bei Typ-2-Diabetes-Patienten. Die SAVORTIMI-53-Studie untersuchte Auswirkungen von Saxagliptin auf die kardiovaskulären Resultate von Typ-2-Diabetes-Patienten; es handelte sich um eine randomisierte, doppelblinde, plazebokontrollierte Studie an 788 Zentren in 26 Ländern mit einem durchschnittlichen Nachuntersuchungszeitraum von 2,1 Jahren. In beiden Studien konnten keine negativen kardiovaskulären Auswirkungen der DPP-4-Inhibitoren Alogliptin und Saxagliptin im Vergleich zu Plazebo festgestellt werden. Einen direkten Vergleich bezüglich der kardiovaskulären Sicherheit von Sulfonylharnstoffen und DPP-4-Inhibitoren wird die Studie CAROLINA (Cardiovascular Outcome Study of Linagliptin Versus Glimepiride in Patients With Type 2 Diabetes) erbringen, mit deren Ergebnissen etwa 2018 zu rechnen ist.
SGLT-2-Inhibitoren:
Ketoazidoserisiko erhöht?
SGLT-(sodium dependent glucose transporter-)2-Inhibitoren wie Canagliflozin, Dapagliflozin und Empagliflozin hemmen selektiv den Natrium-GlukoseKotransporter 2 (SLGT-2). SLGT-2 ist verantwortlich für den grössten Teil der Glukosereabsorption im proximalen Tubulus der Niere. Durch Hemmung dieses Transports senken SGLT-2-Inhibitoren die Nierenschwelle für Glukose und verursachen eine mässige Glukosurie. Somit werden vor allem Spitzen im Blutzuckertagesprofil vermindert. Dieser Mechanismus der Blutzuckersenkung ist unabhängig von Insulinsekretion und -wirkung. Klinische Studien zeigten, dass die Substanzen kaum Hypoglykämien auslösen, eine leichte Gewichtsabnahme bewirken und den Blutdruck senken. Die Häufigkeit von genitalen Infektionen bei Frauen ist erhöht. Die Serumkonzentrationen von LDL-(low-density lipoprotein-)Cholesterin und Kreatinin steigen. Die Kosten sind hoch. Von grosser Bedeutung ist eine Bekanntmachung der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) von Mai 2015. Sie warnte davor, dass SGLT-2-Inhibitoren möglicherweise schwere Ketoazidosen auslösen können. Es war über schwerwiegende und in einigen Fällen lebensbedrohliche Fälle von diabetischer Ketoazidose bei
Patienten unter SGLT-2-Inhibitoren berichtet worden. Die Ketoazidose zeigte sich in einigen Fällen atypisch mit nur moderat erhöhten Blutglukosespiegeln, was Diagnose und Behandlung verzögern kann. Im Juni 2015 startete die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) ihrerseits ein Untersuchungsverfahren zu Ketoazidosen unter SGLT-2-Inhibitoren. In der EMA-Datenbank finden sich über 100 Spontanberichte zu diabetischen Ketoazidosen. Einige dieser Fälle waren schwerwiegend und erforderten eine Hospitalisierung. «Es muss auf mögliche Ketoazidosezeichen geachtet werden, und diese müssen gegebenenfalls gemeldet werden», so Gallwitz. Darüber hinaus sind weitere retrospektive und gegebenenfalls prospektive Untersuchungen erforderlich, um herauszufinden, ob tatsächlich ein erhöhtes Ketoazidoserisiko unter SGLT-2-Hemmer-Therapie besteht und wenn ja, wie hoch dieses ist und ob besondere Konstellationen das Risiko erhöhen.
Ultralang wirksame
Insulinanaloga
Ist die orale Therapie nicht ausreichend wirksam, kann in der dritten Stufe Insulin gegeben werden. Um die Wirkungsdauer einer Insulininjektion zu verlängern, wurden lang wirksame Insulinanaloga entwickelt. «Das ultralang wirksame Insulinanalogon Insulin degludec wurde zur Behandlung von Typ-1- und Typ-2-Diabetikern zugelassen», erklärte Dr. Stefan Pscherer, Traunstein. Insulin degludec ist mit 42 Stunden länger wirksam als Insulin glargin (24 h) und Insulin detemir (< 24 h). Das neue Insulin ist zur einmal täglichen Injektion (100 und 200 Einheiten/ml) und als Mischung aus Insulin degludec und Insulin aspart (70:30) zur ein bis zweimal täglichen Injektion vorgesehen. Der wichtigste Zwischenfall während einer Behandlung mit lang wirksamen Insulinanaloga ist die nächtliche Hypoglykämie. Oberflächlich betrachtet, ist Insulin degludec in diesem Punkt dem Insulin glargin bei gleichwertiger Reduktion des HbA1c überlegen. Bei genauerer Analyse fällt auf, dass diese Überlegenheit nur in der Zeit von 0.01 Uhr bis 5.59 Uhr besteht. Die maximale blutzuckersenkende Wirkung
tritt zumeist zwölf Stunden nach Applikation ein. Im Rahmen der Studie wurde Insulin degludec zur Abendmahlzeit verabreicht. Hypoglykämische Ereignisse wären also in den frühen Morgenstunden zu erwarten gewesen. Daher wurde der Beobachtungszeitraum um zwei Stunden verlängert. Bei Auswertung dieser Ergebnisse konnte kein Vorteil mehr festgestellt werden. Im Oktober 2014 urteilte der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA), dass Insulin degludec keinen Zusatznutzen im Vergleich zu Humaninsulinen besitze. Am 15. Januar 2016 stellte der Hersteller den Vertrieb von Insulin degludec in Deutschland ein. In der Schweiz ist Insulin degludec (Tresiba®) weiterhin verfügbar.
Fazit
Die medikamentöse Therapie des Typ-
2-Diabetes sollte individualisiert er-
folgen, fasste Pfohl die Punkte des Sym-
posiums zusammen. Metformin bleibt
Mittel der ersten Wahl in der medika-
mentösen Therapie. Nach Metformin
ist die Datenlage begrenzt. Bei der
Auswahl der Kombinationstherapien
(2- und 3-fach) helfen Kosten-Nutzen-
Betrachtungen, individuelle Risiken
und Verträglichkeiten. Zur Reduktion
des kardiovaskulären Risikos sind Sta-
tine, Acetylsalicylsäure und Blutdruck-
einstellung wichtig. Für Metformin
gibt es klare Hinweise für einen kardio-
vaskulären Nutzen, sodass diese Sub-
stanz bei kardiovaskulären Risiko-
patienten bevorzugt werden sollte. Ist
die orale Therapie beziehunsweise Be-
handlung mit GLP-1-Rezeptor-Agonis-
ten nicht ausreichend wirksam, kann in
der dritten Stufe Insulin gegeben wer-
den. Ob Insulin degludec einen Zusatz-
nutzen gegenüber anderen Langzeit-
insulinen hat, ist umstritten.
O
Claudia Borchard-Tuch
Quelle: «Aktuelle Behandlungsstrategien bei Typ-2-Diabetes mellitus – was kommt, was geht?» im Rahmen der Fortbildungsveranstaltung «Innere Medizin fachübergreifend – Diabetologie grenzenlos», München, 20. Februar 2016.
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