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Diabetische Neuropathie – rasches Handeln ist gefragt
Schmerzen lindern, Progression verhindern!
FORTBILDUNG
Bei mindestens einem Drittel aller Diabetespatienten entwickelt sich eine distale symmetrische Polyneuropathie, die auch mit Schmerzen verbunden sein kann. Mit Lebensstiländerungen und einer guten glykämischen Kontrolle kann das Risiko für die Entwicklung und die Progression der diabetischen Neuropathie gesenkt werden. Zur Behandlung diabetischer neuropathischer Schmerzen stehen Antikonvulsiva, trizyklische Antidepressiva, SerotoninNoradrenalin-Wiederaufnahmehemmer und Capsaicinpflaster zur Verfügung.
New England Journal of Medicine
Die diabetische Neuropathie ist eine heterogene Erkrankung mit vielfältigen Erscheinungsformen. Sie kann proximale oder distale Nerven betreffen, und es kann sich um eine Mononeuropathie oder eine Beteiligung mehrerer Nerven handeln. Zudem kann das somatische oder das autonome Nervensystem involviert sein. Die distale symmetrische Polyneuropathie ist die häufigste Form der diabetischen Neuropathie. Sie betrifft mindestens ein Drittel aller Patienten mit Diabetes Typ 1 oder Typ 2 und bis zu ein Viertel der Personen mit beeinträchtigter Glukose-
MERKSÄTZE
O Auch bei Patienten mit beeinträchtigter Glukosetoleranz kann sich bereits eine distale symmetrische Polyneuropathie entwickeln.
O Eine verminderte Empfindung in den Füssen erhöht das Risiko für Ulzera und Amputationen.
O Mit einer geeigneten Ernährung, ausreichend Bewegung und einer guten glykämischen Kontrolle kann das Neuropathierisiko gesenkt werden.
O Zur Behandlung neuropathischer Schmerzen sind Antikonvulsiva, trizyklische Antidepressiva, SNRI und Opioidanalgetika geeignet.
O Zur topischen Behandlung neuropathischer Schmerzen stehen Capsaicinpflaster zur Verfügung.
toleranz. Im Verlauf der Erkrankung kommt es zu einer progressiven Reduzierung intraepidermaler Nervenfasern. Die Verminderung der Nervendichte zeigt sich auch bei Personen mit Prädiabetes. Die distale symmetrische Polyneuropathie manifestiert sich meist zuerst an den Füssen und schreitet dann proximal voran. Die Symptome sind vorwiegend sensorischer Art. Sie werden in «positive» Symptome wie Kribbeln oder brennende, stechende Schmerzen und in «negative» Symptome wie Empfindungsstörungen oder Taubheitsgefühle klassifiziert. Motorische Symptome sind seltener und treten später im Krankheitsverlauf auf. Eine verminderte Empfindung in den Füssen und in den Beinen begünstigt die Entwicklung schmerzloser Fussulzera. Werden diese nicht frühzeitig bemerkt und behandelt, kann eine Amputation erforderlich werden. Besonders gefährdet sind Patienten, die gleichzeitig unter einer peripheren arteriellen Erkrankung leiden. Das Lebenszeitrisiko für Fussläsionen wie Ulzera oder eine Gangrän beträgt bei Personen mit distaler symmetrischer Polyneuropathie 15 bis 25 Prozent. Die reduzierte Empfindung kann zusammen mit Störungen der Propriozeption zu Gleichgewichtsproblemen, Gangunsicherheiten und einem erhöhten Sturzrisiko führen. Bei 10 bis 26 Prozent der Diabetespatienten kommt es zu einer schmerzhaften diabetischen peripheren Polyneuropathie. Die neuropathischen Schmerzen resultieren vorwiegend aus Fehlfunktionen kleiner Nerven. Sie manifestieren sich an der Hautoberfläche, verschlimmern sich oft nachts und sind häufig mit Allodynie (z.B. beim Hautkontakt mit Socken oder Bettdecken) und Parästhesien verbunden. Schmerzen im Zusammenhang mit Fehlfunktionen grosser Nerven sind dagegen tiefer, nahe den Knochen lokalisiert. Patienten mit einer schlechten Langzeitblutzuckerkontrolle leiden häufiger unter Schmerzen als Diabetiker mit gut eingestelltem Blutzucker. Grössere Schwankungen der Blutzuckerwerte können zur Häufigkeit und Schwere schmerzhafter Symptome beitragen. Des Weiteren sind Alter, Adipositas, Rauchen, Bluthochdruck, Dyslipidämie und eine periphere arterielle Erkrankung mit einem erhöhten Schmerzrisiko verbunden.
Management
Zum Management der schmerzhaften diabetischen Neuropathie gehören nicht pharmakologische Massnahmen und Medikamente. Mit gezielten Veränderungen des Lebensstils – einer Ernährungsumstellung und ausreichend Bewegung – kann die
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Tabelle:
Medikamente zur Schmerzlinderung bei Patienten mit distaler symmetrischer Neuropathie1
Medikament
Antikonvulsiva Pregabalin® (Lyrica und Generika)
Initiale Dosis
25–75 mg, 1- bis 3-mal täglich
Wirksame Dosis 300–600 mg/Tag
NNT für eine Verbesserung um 50% bei einer Person²
7,7 (6,5–9,4)
Gabapentin (Neurontin® 100–300 mg,
und Generika)
1- bis 3-mal täglich
Topiramat (Topamax® und Generika)
25 mg/Tag
900–3600 mg/Tag
6,3 (5,0–8,3)
25–100 mg/Tag
keine Angaben#
Antidepressiva/SNRI
Duloxetin (Cymbalta® und Generika)§
20–30 mg/Tag
60–120 mg/Tag
6,4 (5,2– 8,4)
Venlafaxin (Effexor® und Generika)
37,5 mg/Tag
75–225 mg/Tag
4,5*
Trizyklische Antidepressiva Amitriptylin (Saroten®) 10–25 mg/Tag
25–150 mg/Tag
3,6 (2,1–4,4)
Nortriptylin (Nortrilen®; in der Schweiz wurde der Vertrieb 2016 eingestellt) Opioide Tapentadol (Palexia®)§$
Tramadol (Tramal® und Generika)§
25–50 mg beim Zubettgehen
Dosis alle drei Tage keine Angaben* steigern bis zu einem Maximum von 150 mg/Tag
sofortige Freisetzung: 50–100 mg 4- bis 6-mal täglich verzögerte Freisetzung: 50 mg 2-mal täglich
sofortige Freisetzung: Tag 1: 700 mg; danach 60 mg/Tag verzögerte Freisetzung: 50 mg 2-mal täglich
10,2 (5,3–18,5)
50 mg; 1- bis 2-mal täglich 100–200 mg/Tag
4,7 (3,6–6,7)
Topische Analgetika
Capsaicin, Pflaster (Qutenza®, 8%)**
Applikation über 30 Minuten
Applikation über 60 Minuten
10,0 (7,4–19)
Häufige unerwünschte Ereignisse³
Schwere unerwünschte Ereignisse4
Schläfrigkeit, Schwindel, periphere Ödeme, Kopfschmerzen Ataxie, Fatigue, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme
Schläfrigkeit, Schwindel, Ataxie, Fatigue, Gewichtszunahme
metabolische Azidose, Parästhesie, Schläfrigkeit, Schwindel, Anorexie, kognitive Störungen, Tremor, Geschmacksveränderungen
Angioödeme, Hepatotoxizität, Rhabdomyolyse, Krämpfe nach plötzlichem Absetzen, Suizidgedanken und suizidale Handlungen, Thrombozytopenie
Krämpfe nach plötzlichem Absetzen, Stevens-Johnson-Syndrom, suizidale Gedanken und Handlungen
Glaukom, Hypokaliämie, Osteomalazie, Stevens-Johnson-Syndrom, Suizidalität, toxische epidermale Nekrolyse
Übelkeit, Schläfrigkeit, Schwindel, Obstipation, Dyspepsie, Diarrhö, Mundtrockenheit, Anorexie, Kopfschmerzen, Diaphorese, Insomnie, Fatigue, verminderte Libido, Wechsel zur Manie bei bipolaren Störungen
Übelkeit, Schläfrigkeit, Schwindel, Obstipation, Dyspepsie, Diarrhö, Mundtrockenheit, Anorexie, Kopfschmerzen, Diaphorese, Insomnie, Fatigue, verminderte Libido
Knochenfrakturen, kardiale Arrhythmien, Delirium, gastrointestinale Blutungen, Glaukom, Hepatotoxizität, hypertensive Krise, Herzinfarkt, neuroleptisches malignes Syndrom, Stevens-Johnson-Syndrom, Krämpfe, Serotoninsyndrom, schwere Hyponatriämie, suizidale Gedanken und Handlungen
Knochenfrakturen, kardiale Arrhythmien, Delirium, gastrointestinale Blutungen Glaukom, Hepatotoxizität, hypertensive Krise, Herzinfarkt, neuroleptisches malignes Syndrom, Stevens-Johnson-Syndrom, Krämpfe, Serotoninsyndrom, schwere Hyponatriämie, suizidale Gedanken und Handlungen
Mundtrockenheit, Schläfrigkeit, Fatigue, Kopfschmerzen, Schwindel, Insomnie, Orthostase, Hypotonie, Anorexie, Übelkeit, Harnretention, Obstipation, verzerrtes Sehen, Akkomodationsstörungen, Mydriasis, Gewichtszunahme
Knochenfrakturen, Knochenmarksuppression, Gebrechlichkeit, neuroleptisches malignes Syndrom, schwere Hyponatriämie, Wechsel zur Manie bei Patienten mit bipolarer Störung, suizidale Gedanken und Handlungen
weniger anticholinerge Effekte als bei Amitriptylin
Schläfrigkeit, Übelkeit, Erbrechen,
Hypertonie, neonatales Opioidentzugssyndrom
Obstipation, Schwindel, Atemdepression,
Serotoninsyndrom, Krämpfe
Schläfrigkeit, Übelkeit, Erbrechen,
kardiale Arrhythmien, Verwirrung, Über-
Obstipation, Benommenheit, Schwindel, empfindlichkeitsreaktionen, Bluthochdruck,
Kopfschmerzen
Krämpfe, Stevens-Johnson-Syndrom
Brennen an der Applikationsstelle
Schädigungen der Fasern vom Typ C mit Verlust der Empfindung
1 Die Daten basieren auf den Ergebnissen von 12 Studien zu Amitriptylin, 3 Studien zu Nortriptylin, 9 Studien zu Duloxetin, 4 Studien zu Venlafaxin, 25 Studien zu Pregabalin, 14 Studien zu 1 Gabapentin, 6 Studien zu Gabapentin mit verzögerter Freisetzung, 3 Studien zu Topiramat, 7 Studien zu Tramadol, 12 Studien zu Tapentadol und 7 Studien zum Capsaicinpflaster (8%). ² Die FDA betrachtet auch Verbesserungen um 30% als signifikant (NNT = Number Needed to Treat, Zahlen in Klammern geben den Bereich an). ³ Die Liste wurde entsprechend der Häufigkeit erstellt. 4 Schwere unerwünschte Ereignisse sind alphabetisch aufgeführt (englische Aufzählung). * Kein Bereich angegeben, weil der Wert nur auf einer Studie beruht. ** In der Schweiz nicht für Diabetiker zugelassen. # Die Studien zu Topiramat und Nortriptylin waren zu klein für eine Bestimmung der NNT. § Das Medikament wurde von der FDA für diese Indikation zugelassen. $ Das Medikament wird meist nicht zur First-Line-Therapie angewendet.
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Entwicklung einer diabetischen Neuropathie verhindert oder sogar rückgängig gemacht werden. In Studien war ein Ernährungs- und Bewegungsprogramm bei durch eine Glukoseintoleranz bedingten Neuropathien mit einer Erhöhung der Nervenfaserdichte in der Epidermis und einem Rückgang der Schmerzen verbunden. Bei anderen Diabetespatienten ohne Neuropathie wurde unter regelmässigem Laufbandtraining ein vermindertes Risiko für die Entwicklung einer Neuropathie beobachtet. Allerdings nahmen an diesen Studien keine Patienten mit etablierter diabetischer Neuropathie teil. Des Weiteren empfehlen Experten eine gute glykämische Kontrolle zur Vermeidung (weiterer) neurologischer Schädigungen. In randomisierten Studien konnte mit einer strikten glykämischen Kontrolle bei Patienten mit Diabetes Typ 1 das Risiko für die Entwicklung einer Neuropathie im Vergleich zur konventionellen glykämischen Kontrolle um 78 Prozent gesenkt werden. Bei Diabetes Typ 2 sind die Effekte der glykämischen Kontrolle bezüglich der Neuropathie weniger klar. Eine allzu schnelle Senkung des Blutzuckerspiegels (> 1% des HbA1c-Werts pro Monat) sollte vermieden werden, denn dadurch kann eine Neuritis mit starken Schmerzen induziert werden, die jedoch meist innerhalb von 6 Monaten wieder abklingt. Bei der Behandlung neuropathischer Schmerzen führt die erste Monotherapie häufig nicht zu einer ausreichenden Linderung. In diesen Fällen kann das Medikament innerhalb einer Klasse gewechselt werden. Des Weiteren kann ein Wechsel zu einer Substanz einer anderen Klasse oder eine Ergänzung des Regimes mit einem weiteren Medikament vorgenommen werden (Tabelle).
Topisches Capsaicin
Niedrig dosierte Capsaicin-Cremes (0,075%) waren in älteren Studien nicht mit einer Schmerzlinderung, sondern lediglich mit Brennen an der Applikationsstelle verbunden. In neueren Studien konnte mit der einmaligen Applikation eines Capsaicin-Schmerzpflasters (8,0%) über 30 bis 60 Minuten eine 3 bis 6 Monate anhaltende Schmerzlinderung erzielt werden (in der Schweiz ist das Capsaicin-Pflaster nicht für Diabetiker zugelassen).
Trizyklische Antidepressiva
Auch trizyklische Antidepressiva bewirken eine Linderung neuropathischer Schmerzen. Der analgetische Effekt steht nicht im Zusammenhang mit der antidepressiven Wirkung dieser Substanzen. Die Anwendbarkeit trizyklischer Antidepressiva wird häufig durch anticholinerge Nebenwirkungen wie Sehstörungen, Mundtrockenheit, Obstipation und Harnretention begrenzt; dies gilt vor allem für ältere Personen. Die sekundären Amine Nortriptylin und Desipramin (in der Schweiz nicht mehr im Handel) weisen eine weniger ausgeprägte anticholinerge Wirkung auf als Amitriptylin oder Imipramin (Tofranil®) und werden deshalb oft bevorzugt. Bei bekannten oder vermuteten Herzerkrankungen sollten trizyklische Antidepressiva mit Vorsicht angewendet werden. Vor Behandlungsbeginn wird die Anfertigung eines Elektrokardiogramms (EKG) empfohlen, um eine QT-Verlängerung und Herzrhythmusstörungen auszuschliessen.
Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer
Die Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (serotonin-norepinephrin reuptake inhibitors, SNRI) Venlafaxin und Duloxetin sind zur Linderung neuropathischer Schmerzen ebenfalls wirksam. Duloxetin verbessert zudem die Lebensqualität. Diese Antidepressiva sind nicht mit muskarinergen und adrenergen Nebenwirkungen verbunden.
Opioidanalgetika
Auch Opioide können bei neuropathischen Schmerzen in
Verbindung mit einer distalen symmetrischen Polyneuropa-
thie wirksam sein. Aufgrund des Missbrauchs- und Abhän-
gigkeitsrisikos sollten sie jedoch nur bei unzureichender
Wirksamkeit anderer Medikamente angewendet werden.
Das atypische Opioid Tramadol verhindert ebenfalls die Wie-
deraufnahme von Noradrenalin und Serotonin und gewähr-
leistet eine effektive Schmerzlinderung. Zudem ist diese Sub-
stanz mit einem geringeren Missbrauchspotenzial verbunden
als andere Opioide. Retardiertes Tapentadol weist ähnliche
Eigenschaften auf und wurde von der Food and Drug Admi-
nistration (FDA) zur Behandlung diabetischer neuropathi-
scher Schmerzen zugelassen.
O
Antikonvulsiva
Die Kalziummodulatoren Gabapentin und Pregabalin reduzieren über einen direkten Mechanismus den neuropathischen Schmerz und verbessern den Schlaf. Im Gegensatz zu Gabapentin weist Pregabalin im therapeutischen Bereich von 150 mg bis 600 mg/Tag eine lineare und dosisproportionale Absorption auf. Zudem setzt die Wirkung schneller ein. Bei Behandlungsbeginn mit Gabapentin ist eine schrittweise Anpassung der Dosis bis zur klinischen Wirksamkeit erforderlich (1800–3600 mg/Tag). Topiramat hat sich zur Schmerzlinderung und zur Verbesserung des Schlafs ebenfalls als wirksam erwiesen. Während es unter Gabapentin und Pregabalin zu einer Gewichtszunahme kommt, ist Topiramat mit einem Gewichtsverlust verbunden. Dadurch verbessern sich auch die Lipid- und die Blutdruckwerte. Unter Topiramat erhöht sich zudem die Dichte der intraepidermalen Nervenfasern um 0,5 bis 2,0 Fasern/mm/ Jahr, während es bei nicht behandelten Patienten zu einer Abnahme der Nervendichte um 0,5 bis 1,0 Fasern/mm/Jahr kommt.
Petra Stölting
Vinik AI: Diabetic sensory and motor neuropathy. N Engl J Med 2016; 374: 1455–1464. Interessenkonflikte: Der Autor der referierten Originalarbeit hat Gelder von verschiedenen Pharmaunternehmen erhalten.
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