Transkript
Rosenbergstrasse
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Kennen Sie das auch? Man sitzt mit Freunden zusammen, die Laune ist gut, der Wein ebenso, das Essen wars auch, die Gespräche sind angeregt, die Zeit ist vorgerückt, und auf einmal passiert etwas, das Sie früher nicht kannten: Sie werden kribbelig. Es zieht sie nach Hause. Irgendwie ists genug. Sie denken an was weiss ich, die Steuererklärung, den Knatsch mit den Kindern, daran, dass Sie morgen früh einen Banktermin haben, den Zahnarztbesuch. Früher spielte das keine Rolle. Es wurde Mitternacht, ein Uhr oder später, auf die eine Flasche folgte die nächste, auf den Kaffee der Grappa und auf den Grappa nochmals eine Flasche Wein. Aber heute wirds gerade mal halb elf. Dann hält Sie nichts mehr. Ist das das Alter? Oder der Zeitgeist? Oder die reine Vernunft? Jedenfalls irgendwie beunruhigend, diese abhanden gekommene abendlich-nächtliche Durchhaltefähigkeit.
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Föderalismus ist, wenn Kleine kleine, Zentralismus, wenn Grosse grosse Scheisse bauen.
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Schimanski ist tot, Plattfuss ist tot, Muhammad Ali ist tot, Nachbars Kater ist tot. Die Twitter-affinen Politiker, Kulturschaffenden, TV-Prominenten melden sich bei ihren Followern zu Tweet: «Er war mein Idol.» Je berühmter der Tote, desto bedeutender die Twitterer. Wenn dereinst Mick Jagger stirbt, werden von Obama bis Sommaruga (okay, Sommaruga vielleicht nicht) und von Hollande bis Merkel (okay, Merkel vielleicht auch nicht) die Prominenten dieser Welt twittern: «Wir alle haben dich geliebt.» – «Du warst der Grösste.» Oder Ähnliches von ähnlicher intellektueller Qualität. Etwas, das für jeden Toten passt – man kann ja nicht jeden kennen. Aber man muss sich zu Wort melden. Na denn: «Danke für alles!» Gemeint ist – wie erwähnt – Nachbars Kater. Er hiess Mani-
tou. Hat in seinem Leben wenig geleistet und war nicht prominent. Aber egal, ein eifriger Jung-, ein abgehalfterter Alt- oder ein verängstigter Nochpolitiker wird sich schon finden: «RIP, Held meiner Jugend. Ich kannte dich nicht – bis heute. Du wirst mir fehlen.» (Übrigens, vielleicht ist gar nicht der Kater gestorben, sondern Heiri Müller. Auch egal.)
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Das ist der Unterschied zwischen Nigel Farage, Kämpfer für den Brexit, und J. M. Barroso, Ex-EU-Kommissionspräsident. Der eine zieht sich nach getaner Arbeit in den Pub zurück, der andere kriegt einen gut bezahlten, völlig überflüssigen Posten bei GoldmanSachs. Und das sicher nicht aus Mitleid, sondern für (Ver-)Dienste in der Vergangenheit.
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Nizza: Auch aus der Ferne, nur indirekt betroffen – noch nicht, denn man weiss ja nie, wann ein Idiot das nächste Mal im Namen einer Religion (okay, einer ganz bestimmten Religion) Kinder und Erwachsene umbringt – schwankt man zwischen Trauer und stummer (weil laut nicht korrekt ist) Wut. Man sieht und hört – wie jedesmal – Politiker mit professionell betroffener Miene. Sie stammeln ihre Gemeinplätze des Mitgefühls in die Kameras: «In Gedanken sind wir bei …» – «Wir stehen zu …» – «Wir verurteilen aufs Schärfste …» – «An diesem Tag der grossen Trauer …». Einer hat geschrieben: «Ach, haltet doch die Klappe!»
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Frage eines kritischen Zeitgenossen zum Facebook-Icon bzw. Twitter# «#prayfornice»: «Kann man ein Problem, das durch zu viel Beten entstanden ist, durch noch mehr Beten lösen?»
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1997 kombinierte bzw. ergänzte Recep Tayyip Erdogan ein Zitat von Ziya Gölkalp, einem nationalistischen Ideologen des Osmanischen Reichs, mit eigenen Worten. Heraus kam: «Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.»
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Médecins Sans Frontières (MSF) leistet wertvolle Arbeit in Gebieten, wo niemand sonst mehr medizinisch hilft. Nun hat MSF beschlossen, kein Geld mehr von EU-Ländern zu akzeptieren, weil ihr die Abschottungspolitik der EU nicht gefällt. Gut zu wissen, dass es MSF so gut geht, dass man problemlos auf jährlich 50 Millionen (!) Euro verzichten kann. Das muss man sich leisten können. Zudem fragt man sich, ob MSF bei jeder Spende so heikel tut? «Mein Geld würde MSF sicher nicht nehmen, wenn sie mich kennten», meint ein Bekannter. Seine 1000 Spendenfranken landen künftig jedenfalls bei einer Hilfsorganisation, die das Geld nötiger hat als MSF.
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Der Feind der Vernunft ist die Ideologie. Das Problem ist, dass manche ihre Ideologie für vernünftig halten.
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Und das meint Walti: Es gibt Leute, bei denen denkt man, wenn sie nichts sagen, sie seien dumm. Wenn sie reden, ist man sich sicher.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 14+15 I 2016
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