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STUDIE REFERIERT
Antibiotika und Arrhythmie – Entwarnung für Fluorchinolone und Makrolidantibiotika
In einer registerbasierten Kohortenstudie waren Fluorchinolone bei Erwachsenen nicht mit einem erhöhten Risiko für schwere Arrhythmien verbunden. In einer weiteren bevölkerungsbasierten Untersuchung wurde unter Makrolidantibiotika bei älteren Patienten kein erhöhtes Risiko für ventrikuläre Arrhythmien beobachtet.
British Medical Journal/Canadian Medical Association Journal
Fluorchinolone und Makrolidantibiotika können mit einer Verlängerung des QT-Intervalls im Elektrokardiogramm (EKG) verbunden sein. In zwei grossen Studien gingen Wissenschaftler kürzlich der Frage nach, ob die medikamentenbedingte QT-Verlängerung bei ambulant behandelten Patienten aus der Allgemeinbevölkerung auch ein erhöhtes Arrhythmierisiko nach sich zieht (1, 2).
Fluorchinolone In Fallberichten wurde eine potenzielle Verbindung von Fluorchinolonen mit einem plötzlichen Herztod beobachtet. Dieser Zusammenhang konnte nicht in klinischen Studien verifiziert werden, weil die statistische Aussagekraft bezüglich seltener Nebenwirkungen wie schwerwiegender Herzrhythmusstörungen zu gering war. In Beobachtungsstudien zeigte sich unter Fluorchinolonen ein bis zu dreifach erhöhtes Risiko für schwere Arrhythmien. Hier konnte jedoch nicht ausgeschlossen werden, dass die Zunahme der Arrhythmien durch die Infektion selbst oder durch Patientenfaktoren verursacht wurde (1).
MERKSÄTZE
O Unter Fluorchinolonen oder Makroliden kann es zu einer Verlängerung des QTIntervalls im EKG kommen.
O Fluorchinolone sind bei Erwachsenen nicht mit einem höheren Arrhythmierisiko verbunden als Penicillin V.
O Makrolide sind bei Personen ab 65 Jahren nicht mit einem höheren Arrhythmierisiko assoziiert als Antibiotika anderer Klassen.
Malin Inghammar von der Universität Lund (Schweden) und ihre Arbeitsgruppe untersuchten nun in einer populationsbasierten Kohortenstudie, ob orale Fluorchinolone mit einem erhöhten Risiko für schwere Arrhythmien verbunden sind. Dazu stellten die Wissenschaftler mithilfe nationaler Register eine Studienkohorte aus 40- bis 79-jährigen Erwachsenen in Dänemark (Zeitraum: 1997–2011) und in Schweden (Zeitraum: 2006–2013) zusammen. In der Studienpopulation wurden insgesamt 909 656 Behandlungen mit Fluorchinolonen durchgeführt. Am häufigsten wurde Ciprofloxacin (Ciproxin® und Generika; 82,6%) verschrieben, danach folgten Norfloxacin (Noroxin® und Generika; 12,1%), Ofloxacin (Tarivid®; 3,2%), Moxifloxacin (Avalox® und Generika; 1,2%) und weitere Fluorchinolone (0,9%). Mithilfe des Propensity Score Matching stellten die Forscher eine Vergleichsgruppe zusammen, in der 909 656 Behandlungen mit Penicillin V (Phenoxymethylpenicillin; z.B. Ospen®) – einem Antibiotikum ohne proarrhythmische Effekte – vorgenommen wurden. Das Follow-up erstreckte sich auf eine Behandlungsdauer von 0 bis 7 Tagen. Als primären Endpunkt definierten die Forscher schwere Arrhythmien (ventrikuläre Tachykardie, Kammerflattern, Herzstillstand, plötzlicher Herztod).
Kein erhöhtes Risiko
für schwere Arrhythmien
Während des Beobachtungszeitraums kam es zu 144 schweren Arrhythmien. Davon ereigneten sich 66 in der Fluorchinolongruppe. Die Inzidenzrate betrug 3,4 pro 1000 Personenjahre. In der
Penicillingruppe kam es zu 78 Arrhythmien, was einer Inzidenzrate von 4,0 pro 1000 Personenjahre entspricht. Beim Vergleich beider Behandlungsgruppen ergab sich eine Rate Ratio (RR) von 0,85 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 0,61–1,18). Die absolute Risikodifferenz lag bei -13 (-35 bis 16) schweren Arrhythmien pro 1 000 000 Fluorchinolonbehandlungen. In Untergruppenanalysen wurden bei kardiovaskulären Erkrankungen, einer gleichzeitigen Behandlung mit Medikamenten, die das Risiko für Torsade-dePointes-Arrhythmien erhöhen, oder bei unterschiedlichen Arrhythmierisikoscores keine höheren RR bezüglich schwerer Arrhythmien beobachtet. Das Risiko im Zusammenhang mit dem am häufigsten angewendeten Ciprofloxazin unterschied sich nicht signifikant vom kombinierten Risiko der anderen Fluorchinolone. Als Stärke ihrer Untersuchung werten die Autoren, dass die Studie auf den Populationsregistern von Dänemark und Schweden basierte und die Ergebnisse daher auf die Allgemeinbevölkerung übertragbar sind. Die Forscher können zwar nicht ausschliessen, dass Fluorchinolone in Einzelfällen zu Torsade-dePointes-Arrhythmien führen. Insgesamt konnten sie jedoch bei ambulant behandelten Erwachsenen kein erhöhtes Arrhythmierisiko im Zusammenhang mit oralen Fluorchinolonen feststellen. Bei Patienten mit schweren Infektionen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, sollte ihrer Ansicht nach die Grössenordnung des proarrhythmischen Potenzials der Fluorchinolone weiter untersucht werden. Abschliessend weisen die Autoren darauf hin, dass weitaus die meisten Behandlungen mit Ciprofloxacin durchgeführt wurden, sodass Unterschiede bezüglich des Arrhythmierisikos zwischen einzelnen Fluorchinolonen nicht ausgeschlossen werden können (1).
Makrolide
Ambulant erworbene Atemwegsinfektionen werden in den USA häufig mit Makroliden behandelt. Die Food and Drug Administration (FDA) warnt jedoch vor einem erhöhten Arrhythmierisiko im Zusammenhang mit diesen Substanzen, weil in einer Beobachtungsstudie unter Azithromycin ein höheres Risiko für einen kardiovaskulä-
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Neue Warnungen vor Fluorchinoloneinsatz in den USA
Zwar konnten Fluorchinolone, was eine Assoziation mit Herzrhythmusstörungen an-
geht, durch die hier vorgestellte Kohortenstudie zunächst einmal rehabilitiert werden,
allerdings gibt es in den USA derzeit neue Vorbehalte gegenüber ihrem Einsatz. Die ame-
rikanische Food and Drug Administration (FDA) warnt wegen schwerer Nebenwirkungen
vor dem systemischen Einsatz dieser Antibiotikaklasse bei leichteren Infektionen wie
Sinusitis, Bronchitis und unkomplizierten Harnwegsinfektionen, bei welchen nach Ein-
schätzung der Behörde die Risiken den Nutzen im Allgemeinen überwiegten (1, 2). Sie
hat deshalb verfügt, dass Fluorchinolone in den USA bei diesen Infektionen nur noch
dann zum Einsatz kommen sollen, wenn für die Patienten keine Behandlungsalternati-
ven bestehen. Die aktuelle Warnung betrifft die in den USA zurzeit angewendeten sys-
temischen Fluorchinolone Ciprofloxacin, Moxifloxacin, Gemifloxacin, Levofloxacin und
Ofloxacin.
Die Entscheidung der FDA basiert auf einer Sicherheitsprüfung, welche ergeben hatte,
dass es unter Fluorchinolontherapie zu schwerwiegenden und möglicherweise dauer-
haften Nebenwirkungen auf Zentralnervensystem, Nerven, Muskeln, Gelenke oder Seh-
nen kommen kann. Besonderes Augenmerk sollten behandelnde Ärzte daher auf mög-
liche Symptome solcher Nebenwirkungen wie Verwirrung, Halluzinationen oder Miss-
empfindungen (z.B. «Ameisenlaufen») sowie Gelenk-, Muskel- oder Sehnenschmerzen
legen. Auch die Festigkeit von Sehnen kann selbst durch kurzzeitige Einnahme von
Fluorchinolonen herabgesetzt werden, was zu Entzündungen und Rissen, insbesondere
der Achillessehne, führen kann.
Noch gibt es zur aktuellen Warnung der FDA seitens Swissmedic, der Europäischen
Arzneimittelagentur (EMA) oder auch des deutschen Bundesinstituts für Arzneimittel
und Medizinprodukte (BfArM) keine Stellungnahmen. Die europäische Behörde hat
Fluorchinolone jedoch bereits seit 2014 unter Beobachtung, da sich seinerzeit Hinweise
auf mögliche Netzhautablösungen unter diesen Wirkstoffen ergeben hatten. Ein mögli-
cher kausaler Zusammenhang konnte bis heute weder bestätigt noch ausgeschlossen
werden.
RABE
sowie bei gleichzeitiger Einnahme anderer QT-Intervall-verlängernder Medikamente.
Kein erhöhtes Arrhythmierisiko
bei Senioren
In der Studienkohorte erhielten 503 612 Patienten Makrolide, und ebenso viele wurden mit anderen Antibiotika behandelt. Clarithromycin (48,9%) und Azithromycin (48,0%) wurden am häufigsten verschrieben, Erythromycin (3,1%) dagegen vergleichsweise selten. Die Patienten erhielten durchschnittlich 10 Tage lang (Interquartil Range [IQR]: 7–10) Clarithromycin, 5 Tage lang (5–5) Azithromycin und 7 Tage lang (7–10) Erythromycin. In dieser kanadischen Kohortenstudie waren Makrolidantibiotika nicht mit einem signifikant höheren Risiko für ventrikuläre Arrhythmien verbunden als andere Antibiotika (0,03% vs. 0,03%). Das relative Risiko (RR) betrug 1,06 (0,83–1,36). Zudem waren die Makrolide mit einer geringeren Gesamtsterblichkeit assoziiert als andere Antibiotika (0,62% vs. 0,76%). Das RR lag bei 0,82 (0,78–0,86). In allen Untergruppen wurden vergleichbare Zusammenhänge beobachtet.
1. FDA Drug Safety Communication: FDA advises restricting fluoroquinolone antibiotic use for certain uncomplicated infections; warns about disabling side effects that can occur together. Food and Drug Adminidstration, 05-12-2016, http://www.fda.gov/ Drugs/DrugSafety/ucm500143.htm.
2. Fluorchinolone: FDA rät wegen schwerer Nebenwirkungen zum eingeschränkten Einsatz der Antibiotika-Klasse. Medscape, 23. Mai 2016.
ren Tod bestand als bei Patienten, die mit Amoxicillin (Clamoxyl® und Generika) oder keinem Antibiotikum behandelt worden waren. Andere Studien kommen bezüglich des makrolidbedingten Arrhythmierisikos zu unterschiedlichen Ergebnissen (2). Aufgrund der unklaren Datenlage untersuchte eine kanadische Arbeitsgruppe jetzt in einer retrospektiven bevölkerungsbasierten Kohortenstudie, ob Azithromycin (Zithromax® und Generika), Clarithromycin (Klacid® und Generika) beziehungsweise Erythromycin (Erythrocin®) bei älteren (≥ 65 Jahre) ambulanten Patienten innerhalb von 30 Tagen mit einem höheren Risiko für ventrikuläre Arrhythmien verbunden sind als Antibiotika anderer Klassen wie Amoxicillin, Cefuroxim (Zinat® und Generika) oder Levofloxacin (Tavanic® und
Generika). Die Patientendaten der Studienkohorte stammten aus Gesundheitsdatenbanken der Provinz Ontario (Kanada). Im Rahmen der Studie wurden alle Antibiotikaverschreibungen aus dem Zeitraum von 2002 bis 2013 berücksichtigt. Primärer Endpunkt war eine Notfallbehandlung oder eine Krankenhauseinweisung aufgrund ventrikulärer Arrhythmien. Als sekundären Endpunkt definierten die Forscher die Gesamtsterblichkeit. Als Kontrollpatienten wurden ältere Personen ausgewählt, die ähnliche gesundheitliche Charakteristika aufwiesen (Propensity Score Matching). Zusätzlich untersuchten die Forscher das makrolidbedingte Arrhythmierisiko in vier Untergruppenanalysen bei Patienten mit chronischen Nierenerkrankungen, Herzinsuffizienz und koronaren Herzerkrankungen
Patientenrisiken beachten
In einer älteren Beobachtungsstudie wiesen die Patienten mit dem höchsten Baseline-Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen bei einer Behandlung mit Azithromycin auch das höchste Risiko für einen kardiovaskulären Tod auf. In der hier vorgestellten Kohortenstudie veränderten Variablen wie eine Herzinsuffizienz, eine koronare Herzerkrankung oder eine Nierenerkrankung das Arrhythmierisiko dagegen nicht signifikant. Dennoch sollten Ärzte nach Ansicht der Autoren vor der Verschreibung von Makroliden das individuelle Patientenrisiko für unerwünschte Ereignisse berücksichtigen. In drei neuen Fallstudienreviews wurden verschiedene Hauptrisikofaktoren für eine makrolidinduzierte QT-Verlängerung identifiziert. Dabei handelte es sich um eine bereits vorhandene QT-Verlängerung, Torsade-de-PointesArrhythmien in der Vorgeschichte, weibliches Geschlecht, höheres Lebensalter, Hypokaliämie, Hypomagnesiämie, eine signifikante Bradykardie und Bradyarrhythmien sowie die Ein-
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nahme von QT-verlängernden Medikamenten oder Stoffwechselhemmern. Zu schweren kardialen Ereignissen infolge der QT-Verlängerung kommt es, wenn mehrere dieser Risikofaktoren gleichzeitig vorhanden sind. Somit sollte die Verschreibung von Makrolidantibiotika bei Hochrisikopatienten mit beeinträchtigter Medikamentenclearance oder Störungen der elektrischen Herzaktivität vorsichtig erfolgen. Die Ergebnisse der kanadi-
schen Kohortenstudie und die aktuelle
Literatur weisen nach Ansicht der Au-
toren jedoch darauf hin, dass das allge-
meine makrolidbedingte Arrhythmie-
und Mortalitätsrisiko derzeit mögli-
cherweise überschätzt wird. Sie raten
deshalb zu einer erneuten Untersu-
chung der Zusammenhänge und gege-
benenfalls zu einer Überarbeitung der
FDA-Warnhinweise (2).
O
Petra Stölting
Quellen: 1. Inghammer M et al.: Oral fluoroquinolone use and
serious arrhythmia: bi-national cohort study. BMJ 2016; 352:i843. 2. Trac MH et al.: Macrolide antibiotics and the risk of ventricular arrhythmia in older adults. CMAJ 2016; DOI:10.1503/cmaj.150901.
Interessenkonflikte: 1. Die Autoren der referierten Studie erklären, dass keine Interessenkonflikte vorliegen. 2. Die referierte Studie wurde von der Academic Medical Organisation of Southwestern Ontario finanziert. Das Institut, an dem einer der sieben Autoren arbeitet, erhielt Forschungsgelder von Pfizer.
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