Transkript
Wirbelsäulenverletzungen
Erstversorgung in der Hausarztpraxis
FORTBILDUNG
Verletzungen der Wirbelsäule sind selten und werden von
den erstbehandelnden Ärzten oftmals unterschätzt. Was
ist zu tun, wenn sich ein Patient nach einem Unfall beim
Hausarzt vorstellt und über Schmerzen in der Wirbelsäule
klagt?
Michael Kreinest, Klaus Wendl, Paul A. Grützner und Stefan Matschke
Exakte epidemiologische Daten zur Häufigkeit der Wirbelsäulenverletzung gibt es aufgrund fehlender Dokumentation nicht. Registerdaten zeigen, dass sich rund 6 Prozent aller verunfallten Patienten eine Verletzung der Wirbelsäule zuziehen (1). Generell wird das Vorhandensein von Wirbelsäulenverletzungen nach einem Unfallereignis eher unterschätzt (2, 3). Für Deutschland geht man von rund 10 000 schwerwiegenden Verletzungen der Wirbelsäule pro Jahr aus (4). Diese resultieren meist aus sogenannten Hochenergie-Traumata wie Verkehrsunfällen und Stürzen aus grosser Höhe. Diese Patienten werden wohl eher selten zur Erstkonsultation ihren Hausarzt aufsuchen. Dennoch können schwerwiegende Verletzungen der Wirbelsäule auch aus Bagatellstürzen und Unfällen mit reduzierter Kinematik entstehen. Eine erhaltene Gehfähigkeit schliesst eine vorliegende Verletzung der Wirbelsäule in keinem Fall aus (5). Diese Patienten könnten mit Rücken- oder Nackenschmerzen auch primär beim Hausarzt vorstellig werden (siehe Fallbeispiel).
Fallbeispiel
Ein rüstiger 65-jähriger normalgewichtiger Mann stellt sich bei seinem Hausarzt vor und klagt über Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule, die ihn seit vier Tagen plagen. Er hat keine Vorerkrankungen. Trotz Einnahme von Schmerzmitteln zeigte sich keine Besserung. Die letzte Nacht habe er kaum geschlafen, da er schmerzbedingt nicht lange liegen konnte. Die körperliche Untersuchung ergibt reizlose Weichteile im Bereich der gesamten Wirbelsäule. Es besteht ein Druckschmerz im Bereich der oberen Lendenwirbelsäule. Eine orientierende neurologische Untersuchung bleibt ohne pathologischen Befund. An ein Unfallereignis kann sich der Patient nicht erinnern. Erst auf dezidiertes Nachfragen räumt er ein, vor sechs Tagen, am letzten Sonntag, beim Schlittschuhlaufen mit seinem Enkel gestürzt und auf dem Steissbein gelandet zu sein. Er sei aber sofort aufgestanden und noch mindestens eine Stunde weitergefahren. Die ersten Schmerzen an der Lendenwirbelsäule wären erst in der Nacht von Montag auf Dienstag aufgetreten. Sie überweisen den Patienten zur sofortigen Vorstellung an einen Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparats. Es zeigt sich eine Kompressionsverletzung des zweiten Lendenwirbelkörpers, die konservativ behandelt werden kann, sowie eine osteoporotische Veränderung der Knochenstruktur.
MERKSÄTZE
O Ein Patient mit akuten Rückenschmerzen muss aktiv nach sogenannten Bagatellunfällen befragt werden.
O Eine erhaltene Gehfähigkeit schliesst eine vorliegende Verletzung der Wirbelsäule in keinem Fall aus.
O Das erstmalige Auftreten der Schmerzen muss nicht zwingend mit dem Unfallzeitpunkt einhergehen, nicht selten liegen Stunden bis Tage dazwischen.
O Patienten mit neurologischen Defiziten nach einem Unfallereignis sind Notfallpatienten, die ins Spital müssen.
Patienten mit Wirbelsäulenverletzung
in der Hausarztpraxis
Im Rahmen der Anamnese sollte bei unklaren Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule immer erörtert werden, ob ein Unfallgeschehen erinnerlich ist. Liegt dieses bereits einige Tage zurück und steht nicht unmittelbar in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Rückenschmerzen, sind vor allem kleinere Unfälle den Patienten oftmals nicht mehr erinnerlich oder wurden vom Patienten gar nicht als Unfall gewertet (siehe Fallbeispiel). Die Befragung des Patienten nach einem Unfallereignis erlangt auch bei Patienten mit vorbestehendem chronischen Rückenschmerz eine besondere Bedeutung, um eine frische Verletzung der Wirbelsäule nicht zu übersehen. Eine Herausforderung bezüglich der Anamnese stellen die Patienten mit eingeschränkten Kommunikationsfähigkeiten zum Beispiel aufgrund einer Demenz dar,
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ab dem 65. Lebensjahr nicht so selten ist, wie bisher angenommen, sondern mit einer Rate von rund 8 Prozent angegeben wird. An die Anamnese schliesst sich die körperliche Untersuchung an. Bei meist unauffälliger Inspektion kann ein Druckschmerz, der durch die Palpation der Wirbelsäule ausgelöst wird, einen entscheidenden Hinweis auf eine Verletzung der Wirbelsäule geben. Abgerundet wird die körperliche Untersuchung durch eine orientierende neurologische Untersuchung mit Fokus auf Störungen der Sensibilität oder der Motorik sowie einer frisch aufgetretenen Blasen- oder Mastdarmstörung.
Abbildung 1A: Röntgenbild einer 35-jährigen Patientin (leichte Schmerzen im Bereich der oberen Lendenwirbelsäule, keine neurologische Symptomatik) nach einem Sturz vom Pferd Abbildung 1B: Das gesamte Ausmass der Fraktur des zweiten Lendenwirbelkörpers mit einem knöchernen Fragment im Spinalkanal (Pfeil) zeigte sich erst in der Computertomografie.
Indikationen zur Überweisung
und zur Bildgebung
Konnte der Hausarzt bei einem Patienten mit Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule ein Unfallereignis eruieren, ist eine sofortige Überweisung zum Facharzt für Orthopädi-
sche Chirurgie und Traumatologie des Bewe-
gungsapparats beziehungsweise in ein Spital
notwendig. Bei entsprechendem Risikoprofil
für eine pathologische Fraktur zum Beispiel
aufgrund eines metastasierten Tumorleidens
oder einer Osteoporose gilt dies auch für
das leichte Trauma. In jedem Fall ist eine
unmittelbare Diagnostik zu fordern. Dras-
tische Zunahmen der Symptome bis hin
zu schwersten neurologischen Ausfällen bei
initial unauffälligen Patienten sind in Einzel-
fällen beschrieben (7).
Nackenschmerzen, welche die Beweglichkeit
der Halswirbelsäule einschränken, sollten
nach einem Unfallereignis nicht als Distor-
sion oder Prellung der Halswirbelsäule abge-
tan, sondern einer radiologischen Diagnostik
unterzogen werden (4).
Die Diagnose «unspezifischer Rückenschmerz»
Abbildung 2: Bei Verdacht auf eine instabile Verletzung der Wirbelsäule erfolgt durch die Sanität die Immobilisation des Patienten durch die Anlage einer Zervikalstütze und durch die Fixierung von Rumpf und Kopf auf einem Spineboard.
darf nach einem Unfallereignis nicht gestellt werden (8). Der hinzugezogene traumatologisch-orthopädische Kollege wird bei persistierenden
Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule nach
wie sie der Hausarzt häufig in Pflegeheimen antrifft. Hier einem Unfallereignis die Indikation zu einer Bildgebung mit-
können Verletzungen wie beispielsweise Platzwunden am tels Röntgen des betroffenen Wirbelsäulenabschnitts in zwei
Kopf auf ein entsprechendes Unfallereignis hinweisen.
Ebenen stellen. Idealerweise erfolgt die radiologische Dia-
Kann ein Unfallgeschehen aufgedeckt werden, muss das erst- gnostik im Stehen. In Abhängigkeit der Befunde dieser ini-
malige Auftreten der Schmerzen nicht zwingend mit dem Un- tialen Röntgenbildgebung (Abbildung 1A) kann über eine
fallzeitpunkt einhergehen. Nicht selten liegen einige Stunden weiterführende computertomografische Bildgebung zur de-
bis Tage zwischen Unfall und starkem Schmerzempfinden, taillierteren Darstellung der knöchernen Verhältnisse ent-
welches zur Konsultation des Hausarztes führt. Auch Unfälle schieden werden (Abbildung 1B). Besteht der Verdacht auf
mit geringer Energie können zu Verletzungen der Wirbelsäule Verletzungen der Bandscheiben, der ligamentären Strukturen
führen. Vor allem bei Patienten mit Osteoporose reichen zum oder gar neuraler Strukturen, kann die Diagnostik um eine
Teil schon geringste auf die Wirbelsäule einwirkende Kräfte kernspintomografische Bildgebung erweitert werden.
aus, um eine Fraktur des Wirbelkörpers zu verursachen. Bei
ihnen kann zum Beispiel schon das Anheben von mittel- Erkennen eines Notfalls
schweren Gegenständen zu einer Wirbelfraktur führen. Ak- Neben stärksten Schmerzen im Bereich der Wirbelsäule
tuelle Studien (6) zeigen, dass die Osteoporose bei Männern wird sich ein als dringlich zu behandelnder Notfallpatient
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mit Verletzung der Wirbelsäule vor allem durch frisch aufgetretene oder deutlich zunehmende neurologische Defizite präsentieren. Hier muss durch den behandelnden Arzt erfragt werden, ob eine akute Blasen-Mastdarm-Störung besteht, da diese von den Patienten aus Scham nicht immer angegeben wird. Konnte der Arzt neurologische Defizite im Rahmen seiner Anamnese und Untersuchung evaluieren, muss der Patient sofort mittels schonenden Transports in einem geeigneten Spital vorgestellt werden. In diesen Fällen sollte die Sanität den Patiententransport durchführen. Aktuelle Leitlinien (9, 10) empfehlen die Immobilisation von Patienten mit Wirbelsäulenverletzungen und neurologischen Defiziten, die durch die Sanität zum Beispiel auf einem Spineboard durchgeführt werden kann (Abbildung 2). Die Prognose eines Patienten mit neurologischen Defiziten aufgrund einer Verletzung der Wirbelsäule wird durch die Auswahl eines geeigneten Spitals beeinflusst (11). In Abhängigkeit von lokalen Protokollen erfolgt die akute operative Versorgung von Verletzungen der Wirbelsäule durch verschiedene Fachgebiete (Traumatologie, Neurochirurgie, Orthopädie). Zum Teil finden sich sogar noch weitere Unterteilungen in Abhängigkeit von der Lokalisation der Fraktur, was die Auswahl des geeigneten Spitals für den niedergelassenen Hausarzt nicht vereinfacht.
Die hausärztliche Behandlung
Die hausärztliche Behandlung umfasst auch Patienten, die primär nach einem Unfallereignis einen Facharzt oder eine Ambulanz konsultiert hatten. Nach Ausschluss knöcherner Verletzungen verbleibt oftmals die Diagnose einer Distorsion oder Zerrung der Halswirbelsäule sowie einer Prellung der Brust- oder Lendenwirbelsäule. Diese Patienten stellen sich häufig mit zunächst anhaltenden Schmerzen beim niedergelassenen Hausarzt vor. Oftmals nehmen diese Patienten bei der Vorstellung bereits eine gewisse Schonhaltung ein. Die Einnahme einer ausreichenden analgetischen Medikation (z.B. NSAR) über einige Tage und die verständliche Erklärung über deren Notwendigkeit im Sinne einer Lösung der Schonhaltung lindern die Beschwerden meist rasch. Gegebenenfalls ist auch die Verordnung physikalischer Therapien sinnvoll, um muskuläre Pathologien zu behandeln. Die Verordnung von Muskelrelaxanzien wird derzeit kontrovers diskutiert, kann aber erwogen werden. Bei persistierenden Beschwerden über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen trotz adäquater Therapie sollte eine erneute Vorstellung des Patienten beim Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparats erfolgen. Zunächst muss von diesem geprüft werden, ob eine knöcherne Verletzung der Wirbelsäule übersehen wurde. In
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aktuellen Studien wird über rund 20 Prozent übersehene
Frakturen der Wirbelsäule in Röntgenbildern berichtet (12).
Des Weiteren ist das gesamte Ausmass der knöchernen Ver-
letzung nicht immer aus dem initialen Röntgenbild zu erfas-
sen. Eine weiterführende Bildgebung sollte bei Beschwerde-
persistenz also zeitnah angestrebt werden, um strukturelle
Verletzungsfolgen sicher ausschliessen zu können. Zuletzt
muss auch an die seltene, aber beschriebene (13) Chronifizie-
rung einer Distorsion gedacht werden, da diese einen zeit-
nahen, multimodalen und interdisziplinären Therapieansatz
benötigt.
O
Dr. Dr. med. Michael Kreinest BG Klinik Ludwigshafen Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie Ludwig-Guttmann-Strasse 13 D-67071 Ludwigshafen E-Mail: michael.kreinest@rttls.org
Interessenlage: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
Literatur: 1. Oliver M et al.: The changing epidemiology of spinal trauma: a 13-year review from
a Level I trauma centre. Injury 2012; 43: 1296–1300. 2. Helm M et al.: Reliability of emergency medical field triage: Exemplified by traffic
accident victims. Anaesthesist 2013; 62: 973–980. 3. Schweigkofler U, Hoffmann R: Präklinische Polytraumaversorgung. Chirurg 2013;
84: 739–744. 4. Bühren V: Verletzungen der Brust- und Lendenwirbelsäule. Unfallchirurg 2003; 106:
55–69. 5. Loza A et al.: Are Immobilization Backboards and C-Collars Needed for Patients who
are Ambulatory at the Scene of a Motor Vehicle Accident?: The Occurrence of Spinal Injury. Annals of emergency medicine. 62: S144. 6. Hadji P et al.: The epidemiology of osteoporosis – Bone Evaluation Study (BEST): an analysis of routine health insurance data. Deutsches Ärzteblatt international 2013; 110: 52–57. 7. Masini M et al.: Spinal cord injury: patients who had an accident, walked but became spinal paralysed. Paraplegia 1994; 32: 93–97. 8. van Tulder M et al.: Chapter 3. European guidelines for the management of acute nonspecific low back pain in primary care. European spine journal: official publication of the European Spine Society, the European Spinal Deformity Society, and the European Section of the Cervical Spine Research Society. 2006; 15 Suppl 2: S169–S191. 9. Unfallchirurgie DGf. S3 – Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung 2011; AWMF-Register Nr. 012/019. 10. Walters BC et al.: Guidelines for the management of acute cervical spine and spinal cord injuries: 2013 update. Neurosurgery 2013; 60 Suppl 1: 82–91. 11. Macias CA et al.: The effects of trauma center care, admission volume, and surgical volume on paralysis after traumatic spinal cord injury. Annals of surgery 2009; 249: 10–17. 12. Nunez Pereira S et al.: Reliability of radiographic diagnosis of vertebral osteoporotic fractures: inter- and intrarater agreement study. European spine journal: official publication of the European Spine Society, the European Spinal Deformity Society, and the European Section of the Cervical Spine Research Society 2015; 11: 2693. 13. Richter M et al.: Correlation of clinical findings, collision parameters, and psychological factors in the outcome of whiplash associated disorders. Journal of neurology, neurosurgery, and psychiatry 2004; 75: 758–764.
Diese Arbeit erschien in ähnlicher Form in «Der Allgemeinarzt» 6/2016. Die bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
Die Online-Version dieses Artikels wurde am 21. Juni 2016 korrigiert (Korrigendum in AM 13/2016).
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