Transkript
Zöliakie und nicht zöliakiebedingte Glutensensitivität
Symptomatik, Diagnostik und Diätempfehlungen
FORTBILDUNG
Etwa ein Prozent der Bevölkerung ist von einer Zöliakie betroffen. Diese ist von einer Glutensensitivität abzugrenzen. Bei letzterer finden sich nicht die immunologischen Reaktionen wie bei der Zöliakie. Ist der HLA-DQ2/DQ8-Test negativ, kann eine Zöliakie ausgeschlossen werden.
British Medical Journal
Die Zöliakie ist eine lebenslange glutensensitive Enteropathie. Die Erkrankung kommt weltweit mit einer Häufigkeit von etwa einem Prozent vor. Die Prävalenz hat sich in den letzten 50 Jahren vervier- bis verfünffacht. Der Grund für diese Erhöhung ist unbekannt. Oft wird die Zöliakie nicht erkannt. Da die immunologischen Vorgänge, die durch Gluten getriggert werden, nicht nur den Intestinaltrakt betreffen, sondern auch zu Schädigungen weiterer Organe führen können, muss bei der Zöliakie von einer systemischen Autoimmunerkrankung ausgegangen werden. Inzwischen konnten zahlreiche Menschen gefunden werden, welche zwar glutensensitiv sind, aber nicht unter einer Zöliakie
MERKSÄTZE
O Die Zöliakie ist eine lebenslange glutensensitive Enteropathie. Eine aktuelle diagnostische Guideline wurde 2012 von der ESPGHAN veröffentlicht. Danach ist es möglich, eine Zöliakie auch mittels serologischer Tests zu diagnostizieren.
O Die Glutensensitivität ist eine Intoleranz gegenüber Weizenbestandteilen. Die Symptome ähneln denen der klassischen Zöliakie.
O Eine Glutensensitivität kann mit einem Reizdarmsyndrom in Verbindung stehen. Ein laborchemisches Testverfahren existiert derzeit nicht.
O Ist der HLA-DQ2/DQ8-Test negativ, kann eine Zöliakie ausgeschlossen werden.
O Viele Patienten mit Glutensensitivität profitieren von einer glutenfreien Ernährung. Bei manchen Patienten bessert eine FODMAP-arme Ernährung die Symptomatik.
leiden. Dies könnte in Zusammenhang mit immunologischen Reaktionen stehen, die durch andere Weizenkomponenten als Gluten ausgelöst werden.
Quellen und Auswahlkriterien
Die Literaturdatenbank PubMed wurde nach wichtigen Publikationen aus dem Zeitraum von 2000 bis 2015 durchsucht. Zudem wurden Abstracts der Digestive Week Conferences in den Jahren 2011 bis 2014 und des International Coeliac Disease Symposiums in den Jahren 2011 und 2013 geprüft. Es wurden randomisierte kontrollierte Studien, Kohortenstudien, Fall-Kontroll-Studien und Querschnittsstudien erfasst.
Zöliakie
Pathophysiologie Gesichert ist eine abnorme Reaktion der Darmschleimhaut auf die alkoholische Fraktion des Glutens (Gliadin), wahrscheinlich gefördert durch zusätzliche intestinale Infektionen. Die Patienten weisen die auf dem kurzen Arm von Chromosom 6 lokalisierten Histokompatibilitätsgene HLA-DQ2 und/oder -DQ8 auf. Die immunologische Reaktion geht sowohl vom angeborenen als auch vom adaptiven Immunsystem aus. Innerhalb der Lamina propria der Darmschleimhaut erfolgt eine Reaktion des adaptiven Immunsystems. Die Gewebstransglutaminase (tissue transglutaminase) desaminiert Gliadin, welches die Immunogenität erhöht. Vergrösserte intraepitheliale Lymphozyten (increased intraepithelial lymphocytes, IEL) spiegeln die Rolle des angeborenen Immunsystems wider. IEL exprimieren die Rezeptoren für natürliche Killerzellen. Interleuklin 15 spielt eine zentrale Rolle in der Verstärkung der Rezeptorwirkung. Auf welche Weise es zu einer Zerstörung der Epithelzellen kommt, ist noch unklar. Andere Weizenkomponenten als Gluten könnten eine Rolle spielen.
Symptomatik Die Krankheit manifestiert sich gewöhnlich nach dem Säuglingsalter mit Beginn einer glutenhaltigen Nahrung. Charakteristisch sind abdominelle Schmerzen und Gedeihstörungen. Bei Erwachsenen zeigen sich uncharakteristische Störungen wie Anämie, Osteoporose, Dermatitis herpetiformis oder Stomatitis aphthosa. Zu einer Gruppe mit hohem Risiko gehören Patienten, deren Familienangehörige unter einer Zöliakie erkrankt sind, oder solche mit Typ-1-Diabetes oder anderen Autoimmunerkrankungen.
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FORTBILDUNG
Leitlinienempfehlungen Verschiedene Gesellschaften veröffentlichten Guidelines zu Diagnostik und Management der Zöliakie. Hierzu gehören die British Society of Gastroenterology (BSG), das American College of Gastroenterology (ACG), die World Gastroenterology Organisation (WGO), die North American Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology und Nutration (NASPGHAN) und die European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition (ESPGHAN). Eine breite Zustimmung findet die Auffassung, dass eine aktive Fallfinding durchgeführt werden sollte, um Patienten mit Zöliakie zu identifizieren. Auch muss eine strikt glutenfreie Diät eingehalten werden, was durch einen Ernährungsberater unterstützt werden sollte. Alle Guidelines mit Ausnahme der ESPGHAN empfehlen zur Diagnostik eine duodenale Biopsie. Eine aktuelle diagnostische Guideline wurde 2012 von der European Society for Pediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition (ESPGHAN) veröffentlicht. Gemäss dieser Leitlinie lässt sich eine Zöliakie mittels serologischer Tests diagnostizieren (1). Hierzu zählt der Nachweis der Antikörper anti-TG2 (gegen Gewebstransglutaminase Typ 2), EMA (gegen Endomysium) und anti-DGP (gegen deaminierte Formen von Gliadinpeptiden). Es müssen mehrere Kriterien gleichzeitig erfüllt sein, um auf eine Biopsie bei Kindern über zwei Jahren verzichten zu können. Hierzu gehören O klare Symptome, die für eine Zöliakie sprechen O anti-TG2-Spiegel ≥ 10-fach über dem oberen Normwert O EMA-positiv O HLA-DQ2/DQ8 positiv.
Screening Es ist möglich, die Erkrankung durch Screening von Hochrisikogruppen zu diagnostizieren. Mit einem hohen Risiko verbunden sind Zöliakie in der Verwandtschaft, Diabetes mellitus Typ 1 und Down-Syndrom. Obwohl die Zöliakie die von der Weltgesundheitsorganisation genannten Kriterien für das Screening breiter Bevölkerungsschichten erfüllt, wird das Screening zurzeit nicht empfohlen. Die Diskussion ist jedoch kontrovers. Die im Jahr 2014 veröffentlichte BSGGuideline empfiehlt das Screening von Hochrisikogruppen.
Mortalität und Krebserkrankungen Mehrere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass die Zöliakie mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko und der Gefahr, an Krebs zu erkranken, verbunden ist. Abweichende Resultate in einzelnen Untersuchungen können durch landesspezifische Unterschiede bedingt sein. Auch abweichende Definitionen der Erkrankung und Diagnoseverfahren können zugrunde liegen. Das absolute Sterberisiko ist gering. In einer grossen Studie betrug das zusätzliche Sterblichkeitsrisiko ein Jahr nach Diagnosestellung 0,2 pro 1000 Personenjahre bei Kindern (≤ 20 Jahre) und 8,2 pro 1000 Personenjahre bei Erwachsenen mit einem Alter von über 60 Jahren bei Diagnosestellung. Die Zöliakie geht mit einem erhöhten Risiko einher, an einem Non-Hodgkin-Lymphom zu erkranken. Auch die Gefahr eines gastrointestinalen Tumors ist leicht erhöht, wobei das Adenokarzinom des Dünndarms die stärkste Erhöhung aufweist. Prostatakarzinome und Brustkrebs treten hingegen bei Zöliakie nicht vermehrt auf.
Komorbiditäten und Komplikationen An Zöliakie erkrankte Patienten leiden vermehrt unter einer Autoimmunerkrankung. Auch gastrointestinale Erkrankungen insbesondere der Leber und des Pankreas treten gehäuft auf. Das Spektrum reicht von einer Erhöhung der Serumtransaminasen bis zu Leberversagen, Leberkrebs und Pankreaskarzinom. Während nordische Studien zu dem Ergebnis kamen, dass das Risiko für eine ischämische Herzerkrankung erhöht ist, war dies in britischen Studien nicht der Fall. Bei nicht diagnostizierter Zöliakie ist die Gefahr einer Fehlgeburt erhöht. Das Risiko für eine angeborene Fehlbildung ist jedoch nicht vergrössert.
Therapeutische Diät Bei Zöliakie muss eine lebenslange strikt glutenfreie Ernährung eingehalten werden, das heisst, Weizen, Roggen, Gerste, Grünkern, Dinkel, Kalmut und daraus hergestellte Produkte (Kuchen, Kekse, Getreide und Teigwaren, Malzkaffee, Bier etc.) sind zu meiden. Nach glutenfreier Diät beginnt die intestinale Mukosa zu heilen. Dies ist ein stufenweiser Prozess. In einer Studie an 241 erwachsenen Patienten dauerte es durchschnittlich 3,8 Jahre, bis sich die Anzahl der Zotten normalisiert hatte. Bei einigen Patienten blieb jedoch die intraepitheliale Lymphozytose bestehen. Eine schwedische Studie kam zu dem Ergebnis, dass bei 44 Prozent der Patienten eine villöse Atrophie bestehen blieb. Bei Patienten mit bestehender villöser Atrophie zeigte sich keine Erhöhung der Gesamtmortalität, kardiovaskulärer Erkrankungen oder Komplikationen bei der Geburt. Jedoch ging eine villöse Atrophie mit einem erhöhten Risiko für eine intraepitheliale Lymphozytose, eine Hüftfraktur sowie andere auf einer Osteoporose beruhende Frakturen einher.
Glutensensitivität
Die Glutensensitivität ist eine Intoleranz gegenüber Weizenbestandteilen. Die Symptome ähneln denen der klassischen Zöliakie. Eine Glutensensitivität kann mit einem Reizdarmsyndrom in Verbindung stehen. Die Pathophysiologie der Glutensensitivität ist nicht geklärt. Eine Immunaktivierung in der Schutzschicht des Dünndarms scheint von Bedeutung zu sein. Diese geht einher mit einem Anstieg von CD3-positiven intraepithelialen Lymphozyten. Eine Glutensensitivität kann mit neuropsychiatrischen Krankheiten wie Schizophrenie, Autismus, peripherer Neuropathie und Ataxie einhergehen. Ein laborchemisches Testverfahren existiert derzeit nicht. Manchmal ist es notwendig, den HLAHaplotyp des Patienten zu bestimmen. Ist der HLA-DQ2/ DQ8-Test negativ, kann eine Zöliakie ausgeschlossen werden. Wie die echten Zöliakiepatienten profitieren viele Patienten mit Glutensensitivität von einer glutenfreien Ernährung. Hierzu gehören insbesondere Patienten, welche unter einem Reizdarmsyndrom leiden. Bei manchen Patienten bessert eine FODMAP-arme Ernährung die Symptomatik. FODMAP ist die Abkürzung für «fermentable oligo-, di- and monosaccharides and polyols», eine Gruppe von Kohlenhydraten und mehrwertigen Alkoholen. Zu näheren Informationen über die Anwendungsmöglichkeiten der FODMAP-Diät sei auf einen kürzlich erschienenen Artikel in der Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin (2) verwiesen.
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FORTBILDUNG
Zukünftige Aufgabenfelder
Um eine Zöliakie zu verhindern, sind weitere Forschungsarbeiten notwendig. In zwei Studien entwickelten mehr als 25 Prozent der Säuglinge, welche homozygot bezüglich HLA-DQ2 waren, eine Zöliakie. Da eine Zöliakie jedoch in jedem Lebensalter entstehen kann, sind weitere Studien zu Ernährungsgewohnheiten oder Medikamenteneinnahmen von Bedeutung. Das Mikrobiom des Duodenums und des Kolons kann eine wichtige Rolle beim Verlust der Glutenverträglichkeit spielen. So unterscheidet sich die Mikroorganismenpopulation des Dünndarms bei Patienten mit Zöliakie von der der Normalbevölkerung, wobei insbesondere Bacterioides spp. und Escherichia coli vermehrt gefunden werden. Dies könnte für die Pathogenese von Bedeutung sein. Weitere Forschungsarbeiten sollten prüfen, ob eine Toleranz gegenüber Gluten wiederhergestellt werden kann. Zurzeit wird ein Impfstoff entwickelt, welcher selektive immunogene Glutenpeptide enthält. Die parenterale Gabe führte zur Aktivierung glutenspezifischer peripherer T-Zellen bei Patienten, die eine glutenfreie Diät einhielten. Es muss untersucht werden, ob dies für das Wiedererlangen einer Glutentoleranz genutzt werden kann.
Diagnostik und Follow-up Diagnosekits wurden entwickelt, um die Krankheit schneller erkennen zu können. Um Patienten die Durchführung einer glutenfreien Diät zu erleichtern, sollte ein anwenderfreundlicher Detektor von Gluten in Nahrungsmitteln entwickelt werden.
Biomarker werden benötigt, um Nachfolgeuntersuchungen von Patienten mit Zöliakie zu erleichtern. Ein Protein, welches Fettsäuren im Darm bindet, befindet sich zurzeit in der Entwicklung und könnte zu einem solchen Biomarker avancieren.
Schulung
Es ist notwendig, bereits bestehendes Wissen über die Er-
krankung besser zu verbreiten. So war beispielsweise bei
US-amerikanischen Hämatologen wenig bekannt, dass die
Erkrankung einen Eisenmangel hervorrufen kann. Die Ent-
wicklung von Guidelines in Finnland führte zu einer besseren
Erkennung der Zöliakie. Diese Guidelines wurden unter an-
deren von Hausärzten entwickelt und waren auch an diese
gerichtet.
O
Claudia Borchard-Tuch
Quelle: Lebwohl B et al.: Celiac disease and non-celiac gluten sensitivity. BMJ 2015; 351: h4347.
Literatur: 1. Zöliakiediagnostik: Biopsien werden nicht mehr immer empfohlen. Pädiatrie
5/2012: 23–25. 2. Vavricka S, Wilhelmi M: Wenn Obst und Gemüse Bauchschmerzen machen – die
FODMAP-Hypothese. Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 4/2015: 34–37.
Interessenlage: Einer der Autoren fungiert als wissenschaftlicher Beirat für die Pharmaunternehmen Alvine Pharmaceuticals and ImmusanT.