Transkript
FORTBILDUNG
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen in der Schwangerschaft
Wie bei anderen Erkrankungen und Therapien ist die Daten-
lage zu Nutzen und Risiken einer Behandlung während der
Schwangerschaft eher dünn, da Schwangere in der Regel
von den einschlägigen Studien ausgeschlossen werden.
Für Schwangere mit chronisch entzündlichen Darm-
erkrankungen haben nun die kanadischen Gastroentero-
logen neue Konsensusempfehlungen formuliert.
Gastroenterology
Im Allgemeinen gilt, dass eine erfolgreiche Erhaltungstherapie bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen (IBD) mit nur einem Medikament, nämlich mit Mesalazin (5-ASA), einem Thiopurin oder einem TNF-alpha-Hemmer, auch während einer Schwangerschaft beibehalten werden sollte. Nur bei wenigen, gut auswählten Schwangeren mit einem sehr niedrigen Risiko für das Wiederaufflackern der IBD könnte man das Absetzen des TNF-alpha-Hemmers beziehungsweise den Wechsel von einer Kombinations- zur Monotherapie erwägen. Ausdrücklich empfohlen wird das aber nicht, weil die Risiken einer aktiven IBD in der Schwangerschaft auf jeden Fall höher sind als die mit den genannten Medikamenten verbundenen.
Remission vor Konzeption Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, dass Frauen mit IBD weniger fruchtbar seien, gibt es keine Beweise dafür, dass IBD die Fertilität physiologisch beeinträchtigt. Falls eine Frau mit IBD schwanger werden möchte, wird das also in etwa gleich häufig klappen wie bei gesunden Frauen ähnlichen Alters. Tatsächlich wollen jedoch viele IBD-Patientinnen nicht schwanger werden, weil sie negative Folgen für sich und das Kind – und hier insbesondere wegen der IBD-Medikamente –
MERKSÄTZE
O Eine Erhaltungstherapie mit 5-ASA, einem Thiopurin oder einem TNF-alpha-Inhibitor sollte während der Schwangerschaft weitergeführt werden.
O Die Risiken einer aktiven IBD sind für Mutter und Fetus gravierender als mit der Medikation assoziierte Nebenwirkungen.
fürchten. Auch die Sorge, dem Kind eine IBD-Veranlagung zu vererben, spielt eine Rolle bei der Entscheidung, auf Kinder zu verzichten. Wenn IBD-Patientinnen schwanger werden überschätzen sie häufig die Risiken der Medikation, sind sich aber gleichzeitig nicht darüber im Klaren, wie gefährlich eine aktive IBD für Mutter und Kind sein kann. Auch dürften die wenigsten wissen, dass eine aktive IBD zum Zeitpunkt der Empfängnis mit besonders hohen Risiken für das Kind einhergeht (z.B. Frühgeburt, niedriges Geburtsgewicht etc.) und für die Mutter mit einem höheren Risiko, während der Schwangerschaft und postpartum einen IBD-Aktivitätsschub zu erleiden. Darum sollte bei Kinderwunsch zunächst ein möglichst günstiger IBD-Status angestrebt werden. Konkret heisst dass: mindestens drei Monate Kortikosteroid-freie Remission vor der Konzeption. Insofern gilt es alle Frauen im reproduktionsfähigen Alter entsprechend zu beraten, und zwar immer wieder einmal und nicht nur bei ausdrücklichem Kinderwunsch.
Welche Medikamente vor der Konzeption absetzen?
Das teratogene Methotrexat soll spätestens drei Monate vor der Konzeption abgesetzt werden. Tritt eine Schwangerschaft unter Methotrexat ein, ist es sofort abzusetzen. Bei 101 Schwangeren mit rheumatoider Arthritis, die innert des ersten Schwangerschaftstrimesters noch Methotrexat eingenommen hatten, zählte man 19 Fehlgeburten (23%), 55 Lebendgeburten (66%), von denen 5 kleinere neonatale Missbildungen aufwiesen, und 18 Prozent der betroffenen Frauen entschieden sich für eine Abtreibung. Aus einer anderen Studie ist bekannt, dass das Risiko für kardiovaskuläre Missbildungen um das 3,4-fache und um das 2,6-Fache für eine Lippen-Kiefer-Gaumenspalte erhöht ist. Für Frauen mit Colitis ulcerosa, die 5-ASA (Mesalazin) verwenden und eine Schwangerschaft planen, empfehlen die Konsensusautoren Produkte ohne Dibutylphthalat (DBP). Phthalate wie DBP werden als fertilitätsbeeinträchtigend eingestuft und dürfen in der Schweiz nicht an private Endverbraucher gelangen. Ausgenommen von diesem Verbot sind nur Künstlerfarben, Motorentreibstoffe – und Arzneimittel. DBP ist in der Schweiz als Hilfsstoff für Medikamente und medizinische Produkte erlaubt, aber nicht kennzeichnungspflichtig.
Erhaltungstherapie weiterführen
Wie eingangs erwähnt, wird das Weiterführen der bestehenden Erhaltungstherapie auch in der Schwangerschaft empfohlen.
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Dies gilt ausdrücklich für 5-ASA (Mesalazin oral und/ oder topisch sowie das Prodrug Sulfasalazin), Thiopurine (Azathioprin u.a.) und TNF-alpha-Inhibitoren (Infliximab, Adalimumab und Certolizumab). Diese Empfehlungen ähneln denjenigen, welche die Schweizer Gesellschaft für Rheumatologie für Schwangere mit rheumatoider Arthritis Anfang 2016 publiziert hat (s. www.rheuma-schweiz.ch).
5-ASA in der Schwangerschaft
In einer Metaanalyse mit 2200 Schwangeren mit IBD fanden sich keine statistisch signifikant erhöhten Risiken für kongenitale Missbildungen, Totgeburt, spontanen Abort oder Frühgeburt. Kohortenstudien lieferten jedoch widersprüchliche Resultate. Die Konsensusautoren geben hierzu – wie auch bei anderen widersprüchlichen Befunden – zu bedenken, dass die meisten Studienresultate durch unterschiedliche IBD-Aktivität verfälscht werden, und führen die beobachteten Probleme eher auf die zugrundeliegende IBD als auf das jeweilige Medikament zurück. Sulfasalazin kann die Absorption von Folsäure behindern, sodass für diese Patientinnen eine höhere Folsäuredosis empfohlen wird (Folat 2 mg/tgl.). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass die rektale Anwendung von 5-ASA eine Frühgeburt auslösen könnte.
Thiopurine
Ebenso wie bei 5-ASA sieht die Studienlage eher danach aus, dass keine Nachteile für das Kind zu befürchten sind. Wenn Thiopurine eingenommen werden, ist zu bedenken, dass der mütterliche Thiopurin-Stoffwechsel während der gesamten Schwangerschaft verändert ist und erst postpartum zu Normalwerten zurückkehrt.
TNF-alpha-Inhibitoren
Aufgrund der Daten aus Metaanalysen und Kohortenstudien ist offenbar nicht zu befürchten, dass eine Behandlung der Schwangeren mit TNF-alpha-Inhibitoren wegen IBD zu einer Schädigung des Fetus führt. Generell wird vom Absetzen der TNF-alpha-Inhibitoren in der Schwangerschaft abgeraten. In speziellen Fällen, etwa wenn die werdende Mutter es unbedingt wünscht und ein niedriges Risiko für eine IBD-Aktivierung besteht (!), kann man es trotzdem machen. Gemäss Empfehlung der Konsensusautoren sollte die letzte Dosis dann in der 22. bis 24. Schwangerschaftswoche gegeben werden. Die aktuellen Richtlinien der europäischen Gastroenterologen (ECCO) sehen dieses Vorgehen sogar als Regelfall, um die Risiken des plazentaren Transfers der TNF-alpha-Inhibitoren zum Fetus zu minimieren sowie dessen potenzielle Langzeitfolgen. Die kanadischen Kollegen sehen diese Risiken eher nicht und plädieren in ihren Richtlinien dafür, die TNF-alpha-Inhibitoren möglichst nicht abzusetzen. Die TNF-alpha-Inhibitoren durchdringen die Plazenta im ersten Schwangerschaftstrimester in der Regel nicht, dies ändert sich jedoch im zweiten und besonders im dritten Trimester. So wurden im fetalen und im Nabelschnurblut mitunter bis zu vierfach höhere Spiegel an Infliximab oder Adalimumab gemessen als bei der Mutter. Es gibt aber auch Studien, in denen diese Antikörper nicht beim Fetus nachgewiesen werden konnten, obwohl die Schwangere damit behandelt
wurde. Auf jeden Fall gilt jedoch als sicher, dass Certolizumab – im Gegensatz zu Infliximab und Adalimumab nur ein Antikörperfragment – weitaus weniger plazentagängig ist als die beiden anderen Präparate. In diesem Konsensus werden nur die Antikörper Infliximab, Adalimumab und Certolizumab diskutiert. Vedolizumab und Ustekinumab (letzteres in der Schweiz nicht für IBD zugelassen) sind erst sein Kurzem auf dem Markt, sodass kaum Daten zu Schwangeren verfügbar sind und diese darum nicht besprochen werden.
Kombinationstherapie – was weglassen?
Falls die Erhaltungstherapie mit mehreren Medikamenten erfolgt, ist die Frage des Weglassens individuell zu beurteilen. Tendenziell wird dazu geraten, bei einer Kombination aus einem TNF-alpha-Inhibitor plus Thiopurin eher das Thiopurin abzusetzen, weil es für die TNF-alpha-Inhibitor-Monotherapie bessere Daten gebe. Vor einer geplanten Schwangerschaft ist es sinnvoll, von einer Kombinationstherapie zu einer Monotherapie zu wechseln, wobei dieser Wechsel rechtzeitig (mindestens drei Monate vor Konzeption) erfolgen sollte, um eine anhaltende Remission sicherzustellen.
Und wenn die IBD aktiv wird?
Wenn Schwangere mit Colitis ulcerosa, die 5-ASA verwenden, einen leichten bis mittelschweren Krankheitsschub erleiden, sollte die orale und rektale 5-ASA-Anwendung optimiert werden. Wenn Schwangere mit IBD trotz optimaler 5-ASA- oder Thiopurin-Erhaltungstherapie einen Krankheitsschub bekommen, kommen systemische Kortikoide oder TNF-alphaInhibitoren zum Einsatz. Die Daten zu kongenitalen Missbildungen unter Kortikosteroiden sind widersprüchlich. Alle Kortikosteroide können die Plazenta passieren, werden aber rasch zu weniger aktiven Metaboliten verstoffwechselt. Kurz wirksame Substanzen wie Prednison, Prednisolon und Methylprednisolon werden hierbei rascher abgebaut als die lang wirksamen Kortikosteroide Dexamethason und Betamethason. Budesonid bietet aufgrund seines hohen Firstpass-Metabolismus gewisse Vorteile in dieser Situation und kommt bei leichter bis mittelschwerer IBD-Aktivität eher infrage als die anderen Substanzen. Wie mehrfach betont, sehen die Konsensusautoren auch in dieser Situation das Nutzen-Risiko-Verhältnis zugunsten der Medikamente. Ob man nun zu Steroiden oder zu einem TNF-alpha-Inhibitor greift, ist eine individuelle Entscheidung. Der Vorteil eines TNF-alpha-Inhibitors ist, dass er auch als Erhaltungstherapie geeignet ist. Bei einem kortisonresistenten Schub wird ein TNF-alphaInhibitor empfohlen. Falls damit in der Schwangerschaft begonnen wird, raten die Konsensusautoren wegen dessen geringer Plazentagängigkeit zu Certolizumab. Bei Thiopurin-naiven Schwangeren wird bei Bedarf von vorneherein zu einem TNF-alpha-Inhibitor und nicht zu einer Kombinationstherapie geraten.
Weitere Massnahmen
Wenn Schwangere mit Morbus Crohn eine perianale Infektion haben, sollten Metronidazol und/oder Ciprofloxacin
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verwendet werden. Grundsätzlich sollten sie genauso behandelt werden wie nicht schwangere Frauen in der gleichen Situation. Antikoagulation wird für alle hospitalisierten Schwangeren empfohlen (niedermolekulares Heparin), eine VTE-Prophylaxe für alle hospitalisierten Frauen mit aktiver IBD sowie nach einem Kaiserschnitt. Eine Schwangerschaft sei kein Grund, einen dringenden chirurgischen Eingriff wegen IBD zu verschieben. Auch eine flexible Sigmoidoskopie oder Kolonoskopie ist möglich, sofern die Befunde wichtig für die pränatale Behandlung sind. Ultraschall- und MRI-Untersuchungen sind erlaubt, eine CT nur wenn es unausweichlich ist. Die Entscheidung für oder gegen einen Kaiserschnitt ist individuell zu fällen, eine IBD sei per se kein Grund dafür. Anders sieht es bei Patientinnen mit ilealer PouchAnal-Anastomose (IPAA) oder aktiver perianaler Erkrankung bei Morbus Crohn aus; bei ihnen spricht viel für einen Kaiserschnitt.
Stillen und Impfen
Die Anwendung von 5-ASA, Kortikosteroiden, Thio-
purinen oder TNF-alpha-Inhibitoren sollte keinen Ein-
fluss auf die Entscheidung für oder gegen das Stillen
haben. Bei diesen Medikamenten gibt es aus Sicht der
Konsensusautoren keine zwingenden Gründe gegen
das Stillen. Auch der Tipp, nach der Einnahme von
Thiopurinen oder Steroiden mindestens vier Stunden
bis zum Stillen zu warten, wird als überflüssig erachtet.
Neugeborene, deren Mütter während der Schwanger-
schaft mit TNF-alpha-Inhibitoren behandelt wurden,
sollten mindestens in den ersten sechs Monaten nicht
mit Lebendvakzinen geimpft werden (z.B. Rotavirus,
Polio oral, BCG). Im Zweifelsfall ist der Anti-TNF-
Spiegel im Blut der Kinder zu messen.
O
Renate Bonifer
Nguyen GC et al.: The Toronto consensus statements for the management of inflammatory bowel disease in pregnancy. Gastroenterology 2016; 150: 734–757.
Interessenlage: Das Konsensus-Meeting der Canadian Association of Gastroenterology (CAG) wurde von den Firmen Janssen Inc. und Shire Canada gesponsert.
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