Transkript
FORTBILDUNG
Multivitamine für wen – wie ist die Evidenz?
Ergebnisse der Physicians’ Health Study II
In den letzten Jahren wurde aufgrund der mangelnden oder inkonsistenten Evidenz aus Interventionsstudien der breite Einsatz von Multivitaminsupplementen hinterfragt. Die Ergebnisse der 2012 im «JAMA» publizierten Physicians’ Health Study II sind daher ein wichtiger Beitrag, um die langjährige Einnahme von Multivitaminsupplementen im Vergleich zu Plazebo auf wissenschaftlicher Basis zu diskutieren.
Heike A. Bischoff-Ferrari
Vitamine sind Mikronährstoffe, die für verschiedene Zellfunktionen essenziell sind und damit wesentlich zur Erhaltung unserer Gesundheit beitragen (1). Wissenschaftliche Resultate zur Wichtigkeit einzelner Vitamine weisen in langjährigen Kohortenstudien auf protektive Wirkungen bezüglich verschiedener chronischer Erkrankungen hin, die jedoch in Interventionsstudien nicht oder nur inkonsistent belegt werden konnten (2). Zwei relevante Erklärungen bezüglich fehlender Evidenz aus Interventionsstudien sind zu benennen: 1. Der Nachweis kleiner Effekte von individuellen Vitaminen
auf chronische Erkrankungen wie Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen setzt eine grosse Studienpopulation voraus, die über lange Zeiträume verfolgt wird, was möglicherweise im interventionellen Studiendesign nicht abbildbar ist.
MERKSÄTZE
O Der langjährige Multivitaminsupplementkonsum ist selbst bei relativ gesunder Ernährung sicher und kann das Tumorrisiko signifikant vermindern.
O Besser ist es allerdings, den täglichen Vitaminbedarf über eine Ernährung, bestehend überwiegend aus Früchten und Gemüse sowie aus Vollkornprodukten, Fetten und Proteinen, zu decken.
O Vitamin-D-Supplemente sind ein wichtiger Pfeiler in der Vitamin-D-Versorgung – insbesondere bei Senioren.
2. Eine normale Ernährung gleicht einen Mangel vieler Vitamine aus, was den Wirkungsnachweis über Interventionsstudien weiter erschwert.
In den letzten Jahren wurde aufgrund der mangelnden oder der inkonsistenten Evidenz aus Interventionsstudien der breite Einsatz von Multivitaminsupplementen hinterfragt. Daher sind die Studienergebnisse der 2012 im «JAMA» publizierten Physicians Health Study II ein wichtiger wissenschaftlicher Beitrag bezüglich langjähriger Multivitaminsupplementeinnahme im Vergleich zu Plazebo, der in diesem Artikel diskutiert werden soll (3). In der Physicians’ Health Study II erhielten 15 000 über 50jährige Ärzte über 11 Jahre Multivitamine oder Plazebo (3). Das Ergebnis der Studie zeigte eine signifikante 8-prozentige Verminderung von Krebserkrankungen in der Multivitamingruppe im Vergleich zu Plazebo. Ohne die Prostatatumoren war die Risikoreduktion für Krebserkrankungen mit 12 Prozent noch ausgeprägter. Die Studie zeigte jedoch keinen Effekt auf die Sterblichkeit oder die Herz-KreislaufErkrankungen. Eine Risikoreduktion von 8 Prozent bezüglich Tumorerkrankung hat angesichts des geringen Kostengewichts einer Multivitaminsupplementation einen hohen volksgesundheitlichen Benefit. Trotzdem ist die fehlende Verminderung der Sterblichkeit unerwartet. Die Autoren diskutieren diesbezüglich, es sei nicht auszuschliessen, dass ein Selektionsbias einer relativ gesundheitsbewussten Bevölkerungsgruppe ein ausgeprägteres Ergebnis verhindert hat. Bei den Studienteilnehmern wurde überwiegend eine gesunde Ernährung, eine niedrige Raucherzahl (unter 4%) und eine überdurchschnittlich hohe physische Aktivität (über 60% waren regelmässig körperlich aktiv) dokumentiert. Eine weitere Erklärung eines mangelnden Effekts auf die Sterblichkeit könnte die etwas veraltete Zusammensetzung des untersuchten Multivitamins in der Physicians’ Health Study II mit einer geringen Dosis an Vitamin D (400 IE) und einer relativ hohen Dosis an Retinol (5000 IE) sein.
Fazit der Physicians’ Health Study II
Der langjährige Multivitaminsupplementkonsum, selbst bei Personen, die sich relativ gesund ernähren, ist sicher und vermindert das Tumorrisiko um 8 Prozent. Damit behalten die Multivitamine einen Stellenwert als «Versicherung» für diejenigen, die sich nicht gesund ernähren oder aufgrund äusserer Bedingungen nicht gesund ernähren können. Besser ist es natürlich, den täglichen Bedarf an Vitaminen durch die Ernährung zu decken. Diesbezüglich empfiehlt die Harvard School
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of Public Health das Konzept «a healthy plate»: eine Ernäh-
rung mit allen Vitaminen in der notwendigen Menge aus ge-
sunden Quellen wie Früchten, Gemüse, Vollkornprodukten,
Fetten und Proteinen mit Früchten und Gemüse als Basis.
Wichtige Ausnahme: Vitamin D ist kein «echtes» Vitamin, weil
der Mensch über Sonnenexposition in der Haut Vitamin D
selbst produzieren kann. Leider ist die Sonne aufgrund der
Saisonalität, durch das Tragen von Sonnenschutz, was wich-
tig ist, und aufgrund der Abnahme der hauteigenen Vitamin-
D-Produktion mit zunehmendem Alter keine verlässliche Vit-
amin-D-Quelle. Eine gesunde Ernährung stellt die Vitamin-D-
Versorgung ebenfalls nicht sicher. Das erklärt, warum heute
zirka 50 Prozent der Kinder und Erwachsenen (4) und 80 Pro-
zent der Senioren mit einer Hüftfraktur (5) einen Vitamin-D-
Mangel (25-Hydroxyvitamin-D-Blutspiegel < 20 ng/ml) auf- weisen. Daher sind Vitamin-D-Supplemente ein wichtiger Pfeiler in der Vitamin-D-Versorgung – insbesondere bei Senioren. Eine ausreichende Vitamin-D-Versorgung bei der älteren Bevölkerung ist besonders wichtig wegen der belegten Wirkung von Vitamin D am Muskel und am Knochen, diese geht mit einer 30-prozentigen Risikoreduktion von Stürzen und Hüftbrüchen einher (6–8). Supplemente mit 600 bis 800 IE Vitamin D pro Tag beheben einen Mangel und entsprechen den heutigen Empfehlungen des Institute of Medicine, des Bundesamtes für Gesundheit und der Deut- schen Gesellschaft für Ernährung. O Prof. Dr. med. Heike A. Bischoff-Ferrari, DrPH Klinikdirektorin, Klinik für Geriatrie RAE B, Rämistrasse 100 Universitätsspital Zürich 8091 Zürich Lehrstuhl Geriatrie und Altersforschung, Universität Zürich Leiterin Zentrum Alter und Mobilität, UniversitätsSpital Zürich und Stadtspital Waid Koordinatorin DO-HEALTH E-Mail: Heike.Bischoff@usz.ch Internet: http://do-health.eu/wordpress Interessenkonflikte: keine deklariert Referenzen: 1. Willett WC: Eat, Drink, and Be Healthy: The Harvard Medical School Guide to Healthy Eating. Harvard Press 2005. 2. Angelo G et al.: Efficacy of multivitamin/mineral supplementation to reduce chronic disease risk: a critical review of the evidence from observational studies and randomized controlled trials. Crit Rev Food Sci Nutr 2015; 55(14): 1968–1991. 3. Gaziano JM et al.: Multivitamins in the prevention of cancer in men: the Physicians’ Health Study II randomized controlled trial. JAMA 2012; 308 (18): 1871–1880. 4. van Schoor NM, Lips P: Worldwide vitamin D status. Best Pract Res Clin Endocrinol Metab 2011; 25(4): 671–680. 5. Bischoff-Ferrari HA et al.: Severe vitamin D deficiency in Swiss hip fracture patients. Bone 2008; 42(3): 597–602. 6. Bischoff-Ferrari HA et al.: A pooled analysis of vitamin D dose requirements for fracture prevention. N Engl J Med 2012; 367 (1): 40–49. 7. Bischoff-Ferrari HA et al.: Fall prevention with supplemental and active forms of vitamin D: a meta-analysis of randomised controlled trials. BMJ 2009; 339: b3692. 8. Bischoff-Ferrari HA: Fall prevention with Vitamin D. Clarifications needed. www.bmj.com/content/339/bmj.b3692? tab=responses (access: Feb13.2012). 2011. Erstpublikation in «Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin» 3/15.