Transkript
STUDIE REFERIERT
Nervöse Blase?
Gerade ältere Patienten profitieren von der Behandlung
Die Auswertung einer Onlineumfrage ergab, dass die Diagnose und die Behandlung einer überaktiven Blase im Vergleich zu keiner Diagnose und keiner Behandlung mit einer besseren gesundheitlichen Lebensqualität und geringeren Einschränkungen der Alltagsaktivitäten verbunden sind. Bei Patienten über 65 Jahre war der Nutzen ausgeprägter als bei Personen im Alter von 45 bis 65 Jahren.
International Journal of Clinical Practice
Die überaktive Blase (overactive bladder, OAB) ist durch Harnwegssymptome ohne ursächliche Infektionen oder pathologische Veränderungen gekennzeichnet. Zu den spezifischen Beschwerden gehören verstärkter Harndrang, eine erhöhte Miktionshäufigkeit, nächtliche Toilettengänge (Nykturie) und Inkontinenz. Die Prävalenz der OAB nimmt mit dem Alter zu. In den USA sind etwa 30 Prozent aller Personen ab 65 Jahren davon betroffen. In der Leitlinie der American Urological Association empfehlen Experten als Optionen der ersten Wahl nicht medikamentöse Massnahmen wie Beckenbodentraining oder ein Management
MERKSÄTZE
O Patienten mit der Diagnose einer OAB wiesen im Vergleich zu nicht diagnostizierten signifikant höhere MCS-Scores auf.
O Behandelte OAB-Patienten wiesen signifikant höhere MCS-Scores sowie signifikant höhere SF-6D-Index-Werte auf.
O Behandelte Patienten waren signifikant weniger in ihren Aktivitäten eingeschränkt.
O Behandelte Personen litten unter weniger OAB-Symptomen, und die Beschwerden waren weniger ausgeprägt.
O Personen ab 65 Jahren profitierten mehr von einer Diagnose und einer Behandlung als Personen mittleren Alters.
der Flüssigkeitszufuhr. Als zweite Wahl raten die Experten zu einer Behandlung mit Antimuskarinika wie Darifenacin (Emselex®) oder Trospium (SpasmoUrgenin®, Spasmex®). Bei nicht ausreichender Wirksamkeit stehen jetzt auch beta-3-adrenerge Rezeptoragonisten wie Mirabegron (Betmiga®) zur Verfügung. Diese Medikamente bewirken eine Entspannung der Blase und verbessern die Speicherkapazität. Aus neueren Untersuchungen geht hervor, dass die OAB zu selten diagnostiziert und behandelt wird. So hatten in einer Studie nur 37,5 Prozent der älteren Männer und 22,1 Prozent der älteren Frauen wegen ihrer Harnwegsbeschwerden den Arzt aufgesucht. Die überaktive Blase ist jedoch mit einer Beeinträchtigung der Lebensqualität sowie mit Einschränkungen der Alltagsaktivitäten und der Arbeitsfähigkeit verbunden. Darüber hinaus können die Symptome auch das Risiko für Stürze und Frakturen oder Harnwegsinfektionen erhöhen. In einer Querschnittsstudie untersuchten Lulu Lee von Kanthar Health in New York (USA) und ihre Arbeitsgruppe nun den Nutzen der Diagnose und der Behandlung bei älteren Menschen mit Symptomen einer überaktiven Blase. Dazu analysierten die Wissenschaftler die Patientendaten der OAB-Re-Contact-Studie, die auf einer internetbasierten Querschnittsumfrage basierte. Die Wissenschaftler schlossen alle älteren Personen (ab 65 Jahren) und alle Personen mittleren Alters (45– 64 Jahre) der OAB-Re-Contact-Studie in ihre Untersuchung ein, die dauerhaft Medikamente zur Kontrolle ihrer OAB-Symptome einnahmen oder auf
dem OAB Awareness Tool Punktwerte von mehr als 14 (Männer) oder mehr als 16 (Frauen) aufwiesen. Zu den Studienendpunkten gehörten die gesundheitsbezogene Lebensqualität, die Schwere und die Anzahl der OAB-Symptome sowie die Inanspruchnahme von Gesundheitsressourcen. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität wurde anhand des 12-Item Short Form Survey Instrument, Version 2 (SF-12v2), einem Fragebogen zur Selbsteinschätzung des Gesundheitszustands, untersucht. Aus den Antworten der befragten Personen wurden ein Punktwert zur körperlichen Verfassung (Physical Component Summary, PCS) und ein Punktwert zur mentalen Verfassung (Mental Component Summary, MCS) errechnet. Der Normwert liegt definitionsgemäss bei 50 (± 10) Punkten. Höhere Werte weisen auf eine bessere gesundheitsbezogene Lebensqualität hin. Des Weiteren wurde anhand des SF-12v2 der gesundheitsökonomische Index SF-6D mit einer Skala von 0 bis 1 (höhere Werte = besserer Gesundheitszustand) entwickelt.
Ergebnisse
Die Forscher schlossen 423 ältere Patienten und 1397 Personen mittleren Alters (n = 2750) mit symptomatischer OAB in ihre Studie ein. Von den älteren Umfrageteilnehmern erhielten 211 die Diagnose einer OAB, die verbleibenden 212 wurden nicht diagnostiziert. Die OAB wurde bei 140 der älteren Patienten behandelt, bei 74 von ihnen wurde sie nicht behandelt. In der Teilnehmergruppe mittleren Alters wurde bei 422 Personen die Diagnose einer OAB gestellt, und 955 Personen erhielten keine Diagnose. Von den Patienten mittleren Alters wurden 266 behandelt, und 349 wurden nicht behandelt. Im Vergleich zu den nicht diagnostizierten Patienten ermittelten die Forscher bei den diagnostizierten älteren Patienten einen signifikant höheren MCSScore (49,8 vs. 46,6; p < 0,05) sowie einen nicht signifikant höheren Punktwert auf dem SF-6D-Index. Zudem waren diagnostizierte Patienten weniger in ihrer Aktivität eingeschränkt als diagnostizierte. Auch hier erreichte der Unterschied keine statistische Signifikanz. Im Vergleich zu den nicht behandelten wiesen die behandelten älteren Patien-
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ten signifikant höhere MCS-Scores (50,7 vs. 41,8; p < 0,05) und signifikant höhere Werte auf dem SF-6D-Index (0,702 vs. 0,615; p < 0,05) auf. Zudem waren die behandelten älteren Patienten signifikant weniger in ihren Aktivitäten eingeschränkt (23,6% vs. 53,5%; p < 0,05). Auch wendeten die behandelten Patienten im Vergleich zu den nicht behandelten weniger Kompensationsstrategien an, wie das vorherige Auskundschaften von Toiletten (42,1 vs. 64,9%; p < 0,05) oder die Auswahl von Gangplätzen (30,0 vs. 51,4%; p < 0,05). Vermeidungsstrategien, wie das Fernbleiben von öffentlichen Veranstaltungen (4,30 vs. 18,9%; p < 0,05) oder eine Einschränkung/Vermeidung sportlicher Betätigungen (6,40 vs. 20,3%; p < 0,05), wurden bei den behandelten im Vergleich zu den nicht behandelten Patienten ebenfalls signifikant seltener beobachtet. Des Weiteren wiesen die behandelten Patienten signifikant niedrigere Punktzahlen auf dem OAB Awareness Tool auf (16,8 vs. 25,2; p < 0,05) auf und litten unter weniger Reizblasensymptomen. Im Hinblick auf die Inanspruchnahme von Gesundheitsressourcen ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen behandelten und nicht behandelten Personen.
In einer ergänzenden Analyse verglichen die Forscher die Effekte von Diagnose und Behandlung zwischen Personen mittleren Alters und älteren Patienten. Hier zeigte sich bei älteren Personen ein signifikant ausgeprägterer Nutzen. Die älteren diagnostizierten Patienten wiesen einen um 2,93 Punkte höheren MCS-Wert auf als die Vergleichspersonen mittleren Alters. Bei den behandelten älteren Patienten war der MCS-Wert um 4,4 Punkte höher als bei den Vergleichspersonen mittleren Alters. Die Reduzierung der Aktivitätseinschränkung war bei den älteren diagnostizierten Patienten 1,24-mal ausgeprägter und bei den behandelten 1,37-mal ausgeprägter als bei den Vergleichspersonen mittleren Alters.
Diskussion
Auch nach einem Abgleich für Patientencharakteristika, wie demografischen Variablen, Komorbiditäten und der Dauer der OAB, waren Diagnose und Behandlung mit besseren gesundheitlichen Ergebnissen im Vergleich zu keiner Diagnose oder zu keiner Behandlung verbunden. Die Behandlung ging zudem mit einer signifikanten Verringerung alltäglicher OAB-bedingter Belastungen einher. Bei älteren Patienten war
der Nutzen ausgeprägter als bei Personen mittleren Alters. Als eine Limitierung ihrer Untersuchung erachten die Autoren, dass zum Zeitpunkt der Studiendurchführung noch keine beta-3-adrenergen Rezeptoragonisten zur Verfügung standen und die Vorteile dieser Medikamentenklasse deshalb nicht untersucht werden konnten. Da es sich um eine Querschnittsbefragung handelte, können zudem keine Schlüsse über zeitliche Veränderungen der Beschwerden im Zusammenhang mit Diagnose und Behandlung gezogen werden. Des Weiteren räumen die Autoren ein, dass sich durch die Patientenselbstauskunft Ungenauigkeiten bezüglich der Studienvariablen ergeben haben könnten. O
Petra Stölting
Quelle: Lee LK et al.: Potential benefits of diagnosis and treatment on health outcomes among elderly people with symptoms of overactive bladder. Int J Clin Pract 2016; 70 (1): 66–81.
Interessenkonflikte: Die Studie wurde von Pfizer Inc. finanziert. Alle Autoren der referierten Studie sind Angestellte bei Pfizer oder bei Kantar Health. Dieses Unternehmen hat von Pfizer Inc. Gelder für die Durchführung der Studie und die Manuskripterstellung erhalten.
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