Transkript
FORTBILDUNG
Schwangerschaft und Diabetes
Insulin ist Trumpf
Eine Arzneimitteltherapie in Schwangerschaft und Stillzeit stellt den behandelnden Arzt immer wieder vor eine Herausforderung, wird dabei doch quasi das gesunde ungeborene Kind mitbehandelt. Allerdings kann eine unzureichende Behandlung der mütterlichen Erkrankung insbesondere beim Diabetes mellitus ein hohes Risiko für die embryonale und die fetale Entwicklung darstellen. Die Betreuung der Patientinnen soll aus diesem Grund durch spezialisierte Praxen und Kliniken erfolgen. Häufig stellt jedoch gerade der Hausarzt einen wichtigen Ansprechpartner vor Ort dar, um Patientinnen über mögliche Risiken ihrer Therapie oder die Folgen einer unzureichenden Behandlung zu informieren.
Stephan Scherneck und Christof Schaefer
Die Anwendung von Arzneimitteln während der Schwangerschaft verunsichert sowohl den behandelnden Arzt als auch die Patientin. Aufgrund unzureichender Datenlage oder inadäquater Interpretation vorliegender Daten werden Arzneimittel häufig als für die Schwangerschaft kontraindiziert gekennzeichnet, obwohl keine ernsthaften Hinweise für eine Gefährdung des Ungeborenen vorliegen. Das erschwert die Abgrenzung von Medikamenten, für die ein entwicklungstoxisches Risiko tatsächlich belegt ist. Da aber auch in der Schwangerschaft behandelt werden muss, wenn die Erkrankung Risiken
MERKSÄTZE
O Ein bereits vor der Schwangerschaft bestehender Diabetes birgt ein hohes Komplikationsrisiko.
O Diabetikerinnen mit oralen Antidiabetika oder injizierbaren GLP-1-Analoga sollten vor Eintritt der Schwangerschaft auf Humaninsulin umgestellt werden; bei einer ungeplanten Schwangerschaft stellt diese Medikation jedoch keinen Grund für einen Schwangerschaftsabbruch dar.
O Stillen ist trotz Insulintherapie der Mutter ohne Weiteres möglich; es wird diabetischen Müttern sogar ausdrücklich empfohlen.
für das Ungeborene oder die werdende Mutter birgt, muss der Arzt gegebenenfalls «off label» behandeln. Dieser zulassungsüberschreitende Einsatz von Arzneimitteln verstösst nicht gegen geltendes Recht, wenn das Medikament nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand ausreichend wirksam ist und keine therapeutischen Alternativen verfügbar sind, die einen höheren Grad an Sicherheit aufweisen würden. Dieses Vorgehen ist als Nutzen-Risiko-Abwägung zu verstehen, wobei dann von der Nichtbehandlung eine höhere Gefährdung für Mutter und Kind ausgeht als durch die Therapie (1). Die Schweizer Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hat die wesentlichen Aspekte zum «Off-label»-Gebrauch von Arzneimitteln in einem Expertenbrief zusammengefasst (2). Für die Beurteilung einer Arzneimitteltherapie in Schwangerschaft und Stillzeit stehen verschiedene Informationsquellen zur Verfügung. Die Fachinformationen (Arzneimittelkompendium, www.swissmedicinfo.ch) sind für die Einschätzung möglicher Risiken in der Schwangerschaft oft unzureichend. Als Alternativen für die Praxis bieten sich hier Fachbücher und das Internetportal Embryotox (www.embryotox.de) an sowie Spezialsprechstunden zum Gebrauch von Medikamenten in Schwangerschaft und Stillzeit (z.B. www.pdag.ch/diagnosebehandlung/mediq/). Für die Therapie eines Diabetes mellitus in der Schwangerschaft wird ausdrücklich auf die aktuellen Leitlinien der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) verwiesen (www.ddg.info).
Gestationsdiabetes und vorbestehender Diabetes
Generell ist zwischen einem bereits vor der Schwangerschaft bestehenden Diabetes und einem Gestationsdiabetes zu unterscheiden. 4 bis 5 Prozent aller Schwangeren entwickeln einen Gestationsdiabetes, der in der Regel ab dem zweiten Schwangerschaftsdrittel auftritt. Jede Schwangere sollte deshalb im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen zwischen der vollendeten 24. und der 28. Schwangerschaftswoche mit einem oralen Glukosetoleranztest auf ein Vorliegen der Erkrankung untersucht werden (3). Bei weniger als 1 Prozent aller Schwangeren liegt ein Diabetes mellitus bereits bei Kinderwunsch vor. Einen deutlich höheren Anteil macht hierbei der Typ-1-Diabetes aus, wobei beim Typ-2-Diabetes in den letzten Jahren eine Zunahme zu verzeichnen ist. Gerade adipöse Patientinnen weisen hier ein erhöhtes Risiko auf, wobei die Erkrankung bei jüngeren Patientinnen zu Beginn oft unentdeckt bleibt. Ein bereits vor der Schwangerschaft bestehender Diabetes stellt ein hohes Risiko für Komplikationen dar, somit muss eine interdisziplinäre Betreuung durch Spezialisten verschiedener
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Fachrichtungen gewährleistet sein. Bereits vor Konzeption muss, wenn nicht bereits geschehen, eine möglichst optimale Einstellung des Blutzuckers der Patientin erfolgen, denn eine unzureichende Stoffwechseleinstellung zum Konzeptionszeitpunkt geht mit einem erhöhten Fehlbildungsrisiko und einer erhöhten Spontanabortrate einher. Eine ungenügende Einstellung im weiteren Verlauf der Schwangerschaft birgt eine Vielzahl weiterer Risiken für Mutter und Kind, die sich im Extremfall in einer diabetischen Fetopathie äussern können. Eine Diabetespatientin mit Kinderwunsch soll deshalb bereits vor Eintritt der Schwangerschaft sowohl vom Gynäkologen als auch vom Diabetologen beraten werden (4–7).
Insuline
Der höchste Erfahrungsumfang zur Anwendung in der Schwangerschaft liegt für Humaninsulin vor. Es kommt als kurz wirksames Insulin oder lang wirksames Neutral-Protamin-Hagedorn-(NPH-)Insulin zum Einsatz. Humaninsulin ist sowohl für einen vorbestehenden Diabetes mellitus als auch für die Therapie eines Gestationsdiabetes als Mittel der Wahl anzusehen, wenn diätetische und sonstige nicht medikamentöse Massnahmen nicht zum gewünschten Behandlungserfolg führen. Für die sogenannten Kunstinsuline liegen deutlich weniger Daten vor. Laut der DDG sollte die Therapie mit dem lang wirksamen Insulin detemir (Levemir®) bei einer perikonzeptionell zielgerecht eingestellten Schwangeren fortgeführt werden. Auch das ebenfalls lang wirksame Insulin glargin (Lantus®, Abasaglar®, Toujeo®) kann bei einer perikonzeptionell zielgerecht eingestellten Schwangeren weiter verwendet werden. Bei Insulin glargin ist die Studienlage im Vergleich zu Insulin detemir schlechter und die Diskussion um die verstärkte Progression einer diabetischen Retinopathie zu erwähnen. Bei den kurz wirksamen Kunstinsulinen empfiehlt die Fachgesellschaft eine Fortführung der Therapie bei Insulin lispro (Humalog®) und Insulin aspart (Novo rapid®), wobei eine bessere Studienlage bei Insulin aspart angegeben wird (6). Bei einer unzureichenden Einstellung eines Gestationsdiabetes durch kurz wirksames Humaninsulin ist die Anwendung sowohl von Insulin aspart als auch von Insulin lispro möglich (5).
Antidiabetika
Alle oralen Antidiabetika und die injizierbaren GLP-1-Analoga sind für die Schwangerschaft unzureichend untersucht und sollten bereits vor der Schwangerschaft auf Humaninsulin umgestellt werden. Bei einer ungeplanten Schwangerschaft stellt diese Medikation jedoch keinen Grund für einen Schwangerschaftsabbruch dar. Bis anhin liegen bei keinem der auf dem Markt verfügbaren Antidiabetika ernsthafte Hinweise auf ein erhöhtes teratogenes Risiko vor, allerdings ist der Erfahrungsumfang in Abhängigkeit vom Präparat sehr unterschiedlich (8). Im Fall einer ungeplanten Schwangerschaft ist eine Umstellung auf eine für die Schwangerschaft erprobte Medikation vorzunehmen. Im Gegensatz zu den deutschen Leitlinien ist jedoch anzumerken, dass Fachgesellschaften im englischsprachigen Raum Metformin und Glibenclamid als Behandlungsoptionen beim Gestationsdiabetes angeben (9), wobei neuere Studien Vorteile beim Metformin gegenüber Glibenclamid sehen (10).
Weitere Medikamente
Die Therapie von Begleiterkrankungen muss ebenfalls überprüft werden. Sollte die Patientin einen ACE-Hemmer oder ein Sartan erhalten, ist die Medikation zügig vom behandelnden Arzt umzustellen, da diese Substanzen in der zweiten Schwangerschaftshälfte unter anderem zu schweren Nierenschäden beim Kind und einem Oligohydramnion führen können (11).
Stillen unter antidiabetischer Therapie der Mutter –
geht das?
Auch in der Stillzeit liegt der grösste Erfahrungsumfang für
Humaninsulin vor. Allerdings ist aufgrund der fehlenden ora-
len Bioverfügbarkeit weder für die Kunstinsuline noch für
Humaninsulin mit Nebenwirkungen beim Kind zu rechnen
(8). Eine Insulintherapie der Mutter stellt also keinen Grund
dar, auf das Stillen zu verzichten; es wird Müttern mit einem
Diabetes mellitus sogar ausdrücklich empfohlen (4).
Zur Therapie von Müttern mit oralen Antidiabetika in der
Stillzeit liegen deutlich weniger Daten als zur Insulintherapie
vor, dementsprechend ist Humaninsulin als Mittel der Wahl
vorzuziehen.
Die meisten Untersuchungen zur Verträglichkeit in der Still-
zeit liegen zu Glibenclamid und Metformin vor. In einzelnen
Milchproben von Müttern, die unter Glibenclamid gestillt
haben, konnte kein Wirkstoff nachgewiesen werden. Bei
einer guten Beobachtung des Säuglings auf mögliche Anzei-
chen einer Hypoglykämie scheint das Stillen unter Glibencla-
mid akzeptabel zu sein.
Ein höherer Erfahrungsumfang liegt zum Metformin vor, da
dieses nicht nur bei einem Typ-2-Diabetes, sondern auch zur
Behandlung eines polyzystischen Ovarialsyndroms (PCOS)
«off label» eingesetzt wird. Bisher liegen keine negativen Er-
fahrungen vor, der Übergang in die Muttermilch scheint
zudem gering zu sein. Bei einem therapeutischen Vorteil von
Metformin gegenüber Humaninsulin darf auch unter einer
Metformintherapie gestillt werden.
Generell sollten Kinder, wenn unter einer Arzneimittelthera-
pie der Mutter gestillt wird, gut (aber nicht übervorsichtig)
beobachtet werden. Sollten Symptome, insbesondere einer
Hypoglykämie, neu auftreten, sollte der Kinderarzt infor-
miert werden (8).
O
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. rer. nat. Stephan Scherneck Juniorprofessor für Klinische Pharmazie Institut für Pharmakologie, Toxikologie und Klinische Pharmazie Technische Universität Braunschweig D-38106 Braunschweig E-Mail: s.scherneck@tu-braunschweig.de
Literatur unter www.arsmedici.ch Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 17/2015. Die bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autoren. Anpassungen an die Verhältnisse in der Schweiz (Kontaktadressen, Medikamentennamen) wurden von der Redaktion ARS MEDICI vorgenommen.
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Literatur: 1. Schaefer C: Off-label-Use von Medikamenten in der Schwangerschaft. Der Frauenarzt
2007; 48: 20–25. 2. Surbek D et al.: «Off label use» von Arzneimitteln in Gynäkologie und Geburtshilfe.
Expertenbrief No. 23, 2007; www.sggg.ch. 3. Boulvain M et al.: Screening des Gestationsdiabetes. Expertenbrief No. 37, 2011;
www.sggg.ch. 4. Kleinwechter H et al.: Diabetes und Schwangerschaft 2014. Praxisempfehlungen der
Deutschen Diabetes-Gesellschaft. Diabetologie und Stoffwechsel 9: S214–220. 5. Kleinwechter H et al.: Gestationsdiabetes mellitus (GDM) – Diagnostik, Therapie und
Nachsorge. Praxisleitlinie der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). Diabetologie und Stoffwechsel 2014; 9: S202–213. 6. Kleinwechter H et al.: S3-Leitlinie 057/023: Diabetes und Schwangerschaft. Evidenzbasierte Leitlinie der Deutschen Diabetes-Gesellschaft; 2014. 7. Kleinwechter H et al.: Gestationsdiabetes mellitus (GDM). Evidenzbasierte Leitlinie zu Diagnostik, Therapie und Nachsorge der Deutschen Diabetes-Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG); 2011. 8. Schaefer C et al.: Arzneimittel in der Schwangerschaft und Stillzeit. 8. Aufl., Urban & Fischer/Elsevier, München, 2012. 9. Kelley K et al.: A review of current treatment strategies for gestational diabetes mellitus. Drugs Context 2015; 4: 212–282. 10. Balsells M et al.: Glibenclamide, metformin, and insulin for the treatment of gestational diabetes: a systematic review and meta-analysis. BMJ 2015; 350: h102. 11. Oppermann M et al.: Angiotensin-II receptor 1 antagonist fetopathy-risk assessment, critical time period and vena cava thrombosis as a possible new feature. Br J Clin Pharmacol 2013; 75: 822–830.
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