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FORTBILDUNG
Schilddrüsenunterfunktion bei Senioren
Hypothyreosesymptome nicht mit Altersveränderungen verwechseln
Mit zunehmendem Alter steigen auch die TSH-Werte. Dies erschwert bei Senioren die Diagnose einer subklinischen Hypothyreose. Bei nur leicht erhöhten Spiegeln sind Abwarten und TSH-Kontrolle gerechtfertigt. Bei anhaltend deutlich zu hohen TSH-Spiegeln kann auch im Alter eine sorgfältig titrierte Substitutionstherapie erfolgen.
Journal of the American Geriatrics Society
Die Konzentrationen des thyreoideastimulierenden Hormons (TSH) nehmen mit dem Alter zu. Ob es sich dabei um eine Anpassungsreaktion auf das Altern oder um eine tatsächliche Zunahme einer abnormen Funktion handelt, ist unklar. Für die Zunahme von Schilddrüsenstörungen mit steigendem Alter ist eine Schädigung der Schilddrüsenzellen durch den bei der Produktion von Schilddrüsenhormonen entstehenden oxidativen Stress verantwortlich gemacht worden.
MERKSÄTZE
O Die subklinische Hypothyreose ist ein Laborbefund, charakterisiert durch eine TSH-Konzentration ≥ 4,5 mU/l bei normalem fT4 (freies Thyroxin)-Spiegel.
O Die Studienergebnisse zur Korrelation von erhöhten TSHWerten und Herz-Kreislauf-Ereignissen sowie Kognition und Depression sind widersprüchlich und lassen keine endgültige Beurteilung zu.
O Individuen mit bestätigten TSH-Werten > 10 mU/l sind immer Kandidaten für eine therapeutische Intervention, um das Morbiditätsrisiko zu senken.
O Generell müssen bei subklinischer Hypothyreose die Nutzen und Risiken einer Behandlung oder blossen Beobachtung («watchful waiting») gegeneinander abgewogen werden.
O Bei älteren Menschen sind ausserdem vorbestehende Herzleiden und andere Begleiterkrankungen zu berücksichtigen.
O Im Alter muss die Anfangsdosis niedriger gewählt und die optimale Levothyroxindosierung sorgfältig titriert werden.
Zunächst nur ein Laborbefund
Die subklinische Hypothyreose ist ein Laborbefund, charakterisiert durch eine TSH-Konzentration von 4,5 mU/l oder höher bei normalem fT4-(freies Thyroxin)-Spiegel. Dieser Befund wird im klinischen Alltag häufig erhoben, gemäss epidemiologischen Studien bei 3,1 bis 8,5 Prozent der Allgemeinbevölkerung. Die subklinische Hypothyreose ist mit dem Alter assoziiert und tritt bei Frauen häufiger auf als bei Männern. Da der Anteil älterer Menschen ständig steigt, nimmt auch die Prävalenz der subklinischen Hypothyreose zu. Der Befund wird als geringfügiges Schilddrüsenversagen interpretiert, das bei einigen, aber nicht bei allen Individuen zu einer offenen Hypothyreose fortschreiten kann. Ein Diskussionspunkt bleibt die Definition der oberen Normgrenzen für TSH im Alter. Während US-amerikanische Daten (National Health and Nutrition Examination Survey III [NHANES III]) andeuten, dass die derzeit akzeptierte TSHObergrenze für alle Altersgruppen zu einer Überdiagnose von subklinischen Hypothyreosen bei älteren Menschen führt, kam eine grosse Studie bei einer australischen Population ohne Schilddrüsenerkrankung zum Schluss, dass altersspezifische TSH-Referenzwerte unnötig seien. Zwar steigen die TSH-Werte mit dem Alter an, aber eine einheitliche TSHGrenze würde bei Personen zwischen 55 und 85 Jahren nur zu minimalen Klassifikationsungenauigkeiten führen. In der Cardiovascular Health Study (CHS), einer langfristigen Kohortenstudie, wurde mit zunehmendem Alter ein TSHAnstieg, begleitet von einer leichten fT4-Zunahme und einer geringfügigen Trijodthyronin-(T3)-Abnahme beobachtet. Die Autoren interpretieren die Daten dahingehend, dass ein leichter TSH-Anstieg im Alter nicht reflexmässig als Anzeichen für eine erhöhte Prävalenz von Schilddrüsenerkrankungen und auch nicht automatisch als Indikation für eine Substitutionstherapie betrachtet werden sollte.
TSH-Werte und Herz
Epidemiologische Studien zum kardiovaskulären Risiko bei subklinischer Hypothyreose sind zu widersprüchlichen Ergebnissen gekommen. In der Rotterdam-Kohorte fand sich eine Assoziation zwischen Herz-Kreislauf-Ereignissen und leichter Schilddrüsenfunktionseinschränkung bei Frauen über 55 Jahren. Hinweise auf durchgemachte Myokardinfarkte im EKG waren 2,3- und Aortenverkalkungen 1,7-mal häufiger. Wenn zu erhöhten TSH-Werten noch Schilddrüsenantikörper nachweisbar waren, die ein höheres Risiko für die Progression zur Hypothyreose signalisieren, waren das Atherosklerose- und das Myokardinfarktrisiko doppelt bis drei-
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mal so hoch wie bei euthyreoten Kontrollen. Auch in zwei Langzeitstudien aus Japan und Taiwan fanden sich Hinweise auf ein erhöhtes Risiko für ischämische Herzerkrankungen, besonders bei Männern, aber in geringerem Mass auch bei Frauen mit subklinischer Hypothyreose. In der Nord-Trøndelag Health Study, einer grossen bevölkerungsbasierten Querschnittsuntersuchung aus Norwegen, war das Mortalitätsrisiko für koronare Herzkrankheit bei durchschnittlich 60-Jährigen im oberen TSH-Normalbereich (2,5–3,5 mU/l) signifikant höher als bei tiefen TSH-Spiegeln (0,50–1,4 mU/l), nicht jedoch bei TSH-Werten von 3,6 mU/l oder höher. In einer neueren Studie hatten Individuen mit subklinischer Hypothyreose hingegen ein signifikant höheres Myokardinfarktrisiko als euthyreote Vergleichspersonen, gleichzeitig war eine subklinische Hypothyreose aber mit einer signifikant geringeren Gesamtmortalität assoziiert. Diese wie auch viele andere Studien haben die bedeutsame Einschränkung, dass die TSH-Werte nur einmal gemessen wurden und keine TSH-Verlaufsdaten vorliegen. Vielfache Analysen der CHS konnten keine Beziehung zwischen Schilddrüsendysfunktion und Herz-Kreislauf-Ereignissen nachweisen. Dies galt auch für eine Analyse der Teilnehmer, bei denen zwei TSH-Messungen im Abstand von zwei Jahren vorlagen und bei denen anhand der ersten Messung eine subklinische Hypothyreose mit TSH zwischen 4,5 und 20,0 mU/l diagnostiziert worden war. Die Zehnjahresinzidenz der koronaren Herzkrankheit war bei persistierender subklinischer Hypothyreose, bei transienter TSH-Abnormität und bei Euthyreose ähnlich. Hohe fT4-Spiegel, selbst innerhalb des Normalbereichs, waren demgegenüber mit signifikant häufigeren Raten von Vorhofflimmern und Herzinsuffizienz sowie einem Trend zu höherer Mortalität assoziiert. In einer Metaanalyse von elf Studien mit individuellen Daten waren höhere TSH-Werte mit einem Trend zu höheren kardialen Risiken und höherer kardialer Mortalität assoziiert. Signifikant erhöht waren Morbidität und Mortalität bei TSH-Werten über 10 mU/l. Die Analyse der individuellen Daten aus sechs prospektiven Kohortenstudien mit über 25 000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern im Durchschnittsalter von 70 Jahren ergab eine klare Assoziation zwischen TSH-Spiegel und steigendem Risiko für eine symptomatische Herzinsuffizienz. Teilnehmer mit subklinischer Hypothyreose in der Altersgruppe 65 bis 79 Jahre wiesen jedoch kein grösseres Herzinsuffizienzrisiko auf.
TSH-Werte und Hirn
Eine etablierte Hypothyreose zeigt Verbindungen zu Depression und eingeschränkter kognitiver Funktion. Zwar gibt es manche Studien zur Beziehung zwischen subklinischer Hypothyreose und Kognition, deren widersprüchliche Ergebnisse dürften aber zu einem guten Teil auf unzulänglicher Methodik und inadäquaten Parametern für die kognitive Funktion beruhen. Die wenigen Teilnehmer in der Leiden-85Plus-Studie, die, basierend auf einer einzelnen TSH-Messung, eine subklinische Hypothyreose aufwiesen, unterschieden sich in der kognitiven Funktion nicht von euthyreoten Vergleichspersonen in weit fortgeschrittenem Alter. In der LASA (Longitudinal Aging Study Amsterdam)-Untersuchung zeigten die fünf Prozent der Teilnehmer mit einer subklinischen Hypothyreose über einen Beobachtungszeitraum von me-
dian 10,7 Jahren keine Assoziation mit schlechter kognitiver Funktion oder Depression. Diese und weitere Studien mit etwas abweichenden Ergebnissen lassen keine abschliessende Beurteilung des tatsächlichen klinischen Effekts einer subklinischen Hypothyreose bei älteren Menschen zu.
Wie vorgehen bei Verdacht auf Hypothyreose?
Bei der Beurteilung erhöhter TSH-Werte sind die Differenzialdiagnosen zu berücksichtigen. Das sind einerseits die Hashimoto-Thyreoiditis, eine inadäquate Substitutionstherapie mit Levothyroxin, eine vorangegangene Hyperthyreosetherapie mit Radiojod und der Morbus Basedow. Andererseits können auch etliche Medikamente zu hohen TSH-Werten und Schilddrüsendysfunktion führen, beispielsweise Lithium, Amiodaron oder der Tyrosinkinasehemmer Sunitinib. Ein vorübergehender TSH-Anstieg kommt auch bei der Erholung von nicht die Schilddrüse betreffenden Erkrankungen sowie nach Applikation von jodhaltigen Kontrastmitteln vor und steht nicht in Zusammenhang mit einer Schilddrüsenaffektion. Die Symptome einer Schilddrüsenunterfunktion umfassen Müdigkeit, Kälteintoleranz, Verstopfung, Muskelschmerzen, Haarverlust und trockene Haut. Oft sind diese Zeichen wenig stark ausgeprägt und können gerade bei Senioren übersehen oder einfach dem Alter zugeschrieben werden. Obwohl Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kamen, gilt als gesichert, dass bei älteren Menschen die Schilddrüsenfunktion nicht allein auf Basis von Symptomen beurteilt werden kann und die TSH-Werte hinzugezogen werden müssen. Trotzdem wird ein TSH-Screening der Allgemeinbevölkerung sehr kritisch diskutiert. Dasselbe gilt für die Frage der Indikationsstellung zur Substitutionstherapie mit Levothyroxin bei individuell erhobenen TSH-Werten zwischen 4,5 und 10 mU/l, während die Indikation bei TSH von 10 mU/l oder höher und normalem fT4 unbestritten ist. Zwar kann die Besserung von Hypothyreosesymptomen ein Therapieziel sein, eine Substitutionstherapie soll aber vor allem der Verhinderung einer Progression zur etablierten Hypothyreose dienen. Heute wird empfohlen, bei asymptomatischen Patienten mit einem TSH-Wert oberhalb der Normgrenze eine zweite Hormonbestimmung sechs bis zwölf Monate später durchzuführen, um eine transiente TSH-Erhöhung auszuschliessen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass ein gewichtiger Anteil von Patienten mit initial erhöhten TSH-Werten in der Nachbeobachtung wieder zu normalen Werten zurückkehrte, und dies galt auch für ältere und betagte Menschen. Hilfreich kann auch die Bestimmung von Schilddrüsenantikörpern sein. Erreichen diese hohe Titer, ist das Risiko einer Progression zur manifesten Hypothyreose grösser.
Substitutionstherapie im Alter
Individuen mit bestätigten TSH-Werten über 10 mU/l sind immer Kandidaten für eine therapeutische Intervention, um das Morbiditätsrisiko zu senken. Generell müssen bei subklinischer Hypothyreose die Nutzen und Risiken einer Behandlung oder blossen Beobachtung («watchful waiting») gegeneinander abgewogen werden. Bei älteren Menschen sind ausserdem vorbestehende Herzleiden und andere Begleiterkrankungen zu berücksichtigen.
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Kasten:
Präparate zur Substitutionsbehandlung bei Hypothyreose mit Levothyroxin
Präparat Dosierungen
Eltroxin® 50 µg, 100 µg
Euthyrox® 25 µg, 50 µg, 75 µg, 100 µg, 125 µg, 150 µg, 175 µg, 200 µg
Tirosint® 13 µg, 25 µg, 50 µg, 75 µg, 80 µg, 100 µg, 112 µg, 125 µg, 137 µg, 150 µg, 175 µg, 200 µg
Levothyroxin (Kasten) hat einen engen therapeutischen Bereich, und die optimale Dosis muss sorgfältig gesucht werden. Aktuelle Guidelines empfehlen bei Patienten zwischen 50 und 60 Jahren oder Älteren eine Anfangsdosis von 50 µg pro Tag, sofern keine Herz-Kreislauf-Erkrankung bekannt ist. Bei vorbestehender kardiovaskulärer Erkrankung sollte die Anfangsdosis hingegen niedriger gewählt werden (12,5– 25 µg). Als TSH-Zielwerte werden zwischen 60 und 75 Jahren 3–4 mU/l, bei über 75-Jährigen 4–6 mU/l empfohlen. Neuere Studien fanden für die Normalisierung der TSHWerte durch Levothyroxin bei subklinischer Hypothyreose vielfältige positive Effekte auf Begleiterkrankungen bei älteren Menschen. Dazu gehörten eine Verbesserung der Hämoglobinwerte bei leichter Anämie, eine Reduktion ischämischer kardialer Ereignisse und eine Abschwächung bei der
Abnahme der glomerulären Filtrationsrate. In einer Ver-
gleichsstudie zwischen Levothyroxin und Plazebo bei älteren
Patienten mit subklinischer Hypothyreose ergab sich hin-
sichtlich Kognition und Depression kein eindeutiger Unter-
schied. Allerdings basierte die Diagnose auf einer einmaligen
TSH-Bestimmung, und bei vielen Studienteilnehmern in der
Plazebogruppe normalisierten sich die TSH-Werte im Ver-
lauf, was darauf hindeutet, dass in vielen Fällen gar keine
wirkliche Schilddrüsenunterfunktion vorlag.
Im Rahmen der Substitutionstherapie ist auch immer das
Risiko einer Überbehandlung zu berücksichtigen; es wird auf
20 Prozent geschätzt. In einer grossen Studie hatten mit
Levothyroxin substituierte Patienten über 60 Jahre bei TSH-
Werten über 4 mU/l oder unter 0,03 mU/l ein grösseres Risiko
für kardiovaskuläre Ereignisse, Arrhythmien und Frakturen.
Diese Resultate unterstreichen, dass gerade im Alter eine
sorgfältige Therapieüberwachung erfolgen muss. Da die ver-
schiedenen synthetischen Levothyroxinpräparate sich in der
Bioverfügbarkeit unterscheiden, wird empfohlen, keine Prä-
paratewechsel vorzunehmen. Ist ein Präparatewechsel not-
wendig, sollte das TSH engmaschig kontrolliert und die
Dosis gegebenenfalls angepasst werden.
O
Halid Bas
Quelle: Hennessey JV et al.: Diagnosis and management of subclinical hypothyroidism in elderly adults: a review of the literature. J Am Geriatr Soc 2015; 63: 1663–1673.
Interessenkonflikte: Die Originalpublikation von Hennessey et al. entstand mit finanzieller Unterstützung von AbbVie.
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