Transkript
BERICHT
Notfall Anaphylaxie – wenn die Zeit zählt
Bei schweren Verläufen sofort Adrenalin intramuskulär injizieren
Bei einem anaphylaktischen Schock heisst es schnell zu handeln. Allerdings hängt die verbleibende Zeit – von wenigen Minuten bei Insektenstichen bis zu mehreren Stunden bei Nahrungsmitteln – stark von der Art des auslösenden Allergens ab. So oder so: Bei schweren Verläufen helfe nur die sofortige intramuskuläre Injektion von Adrenalin, erklärte am 5. Burghalde-Symposium in Lenzburg der Allergologe Dr. med. Paul Scheidegger aus Brugg.
Klaus Duffner
Was ist ein anaphylaktischer Schock? Laut der WHO handelt es sich dabei um eine «schwere, akute, lebensbedrohliche generalisierte oder systemische Überempfindlichkeitsreaktion» (1). Allerdings sehe man derzeit ein Sammelsurium an Diagnosen, so Dr. med. Paul Scheidegger aus Brugg am allergologischen Burghalde-Symposium in Lenzburg, «und vieles, was als Anaphylaxie deklariert wird, ist vielleicht eine vagovasale Reaktion oder eine hysteriforme Konversionsreaktion gewesen. Das kann bei der Wahl der Therapie Schwierigkeiten bereiten», warnte der Allergologe.
MERKSÄTZE
O Nur die intramuskuläre Adrenalininjektion sorgt innert Minuten für ausreichend hohe Plasmaspiegel.
O Adrenalin wird immer noch zu selten und zu spät eingesetzt.
O Ein Patient im anaphylaktischen Schock darf keinesfalls aufgerichtet werden, sondern muss mit hochgelagerten Beinen liegen bleiben.
O Patienten, die bereits eine anaphylaktische Allgemeinreaktion erlebt haben, sollten immer ein Notfallset dabeihaben.
Urtikaria, Erbrechen und
Blutdruckabfall
Heute wird die Definition Anaphylaxie breiter gefasst als früher (2): 1. plötzliches Auftreten einer Erkran-
kung mit Haut- beziehungsweise Schleimhautbeteiligung (urtikarielles Exanthem) plus Dyspnoe oder eine Urtikaria mit Blutdruckabfall 2. plötzliches Auftreten zweier oder mehrerer der folgenden Symptome nach Exposition eines Pseudoallergens oder eines anderen Triggers: gastrointestinale Beschwerden, Blutdruckabfall, Dyspnoe (Asthma), Urtikaria und Angioödeme 3. Blutdruckabfall nach einer Exposition gegenüber einem bestimmten Allergen innerhalb kurzer Zeit ohne weitere Symptome. Zu den objektiv fassbaren Symptomen einer echten (und keiner psychogen getriggerten) Anaphylaxie zählen Urtikaria, Angioödem, Konjunktivitis, Rhinitis, Stridor, Tachykardie und Blutdruckabfall. Die Betroffenen schildern auch Parästhesie, Dyspnoe, Juckreiz, Schwindel, Nausea, Erbrechen, Diarrhö, Synkope oder Angst. Als Grundlage der therapeutischen Entscheidungen werden die Symptome in vier Schwergrade eingeteilt (Tabelle). Allerdings müssen die Betroffenen nicht notwendigerweise alle vier Stadien durchlaufen, sondern weisen im schlimmsten
Dr. med. Paul Scheidegger
Fall sofort die stärksten Symptome (IV) auf und können damit sofort in eine lebensbedrohliche Situation kommen.
Beine hoch! Selbstverständlich muss die unter Verdacht stehende auslösende Ursache der Anaphylaxie schnellstmöglich beseitigt werden. Bei Patienten mit einer allergischen Reaktion sollte nach einer kurzen Basisuntersuchung das Leitsymptom und der Grad der Bedrohung bestimmt werden. Bei Kreislaufsymptomen ist die richtige Lagerung des Betroffenen entscheidend. «Intuitiv würde man eigentlich den Oberkörper aufrichten, aber das ist ganz falsch. Bei einer echten Anaphylaxie haben wir ein Leck in der Peripherie, und deshalb müssen wir versuchen, den Patienten wieder zu zentralisieren», erklärte Scheidegger. Die erste Massnahme bei Anaphylaxie ist daher die Schocklagerung. Der Betroffene muss auf dem Rücken liegen und die Beine hochlegen. Versucht in dieser Situation jemand aufzustehen oder sich auch nur aufzurichten, kann das durch einen plötzlich einsetzenden Blutdruckabfall in Sekundenschnelle tödlich enden.
208
ARS MEDICI 5 I 2016
BERICHT
Keine Angst vor Adrenalin
Wegen der ausgezeichneten Wirkung ist bei einer Anaphylaxie die möglichst rasche Applikation von Adrenalin das Mittel der ersten Wahl (Erwachsene: 0,3 mg bis 0,5 mg; Kinder: 0,1 mg/10 kg Körpergewicht). Das sollte wegen des wesentlich rascheren Wirkungseintritts intramuskulär und am besten im anterolateralen Bereich des Oberschenkels (im Notfall durch die Kleidung hindurch) erfolgen. Während die maximale Plasmakonzentration bei intramuskulärer Applikation schon nach acht Minuten erreicht ist, benötigt die maximale Absorption nach einer subkutanen Injektion 34 Minuten (5). Die Inhalation von Adrenalin ist ebenfalls keine Alternative, da sie systemisch nach einem anaphylaktischen Schock nur sehr begrenzte Wirksamkeit hat. Auch Glukokortikoid- beziehungsweise Antihistaminikumpräparate benötigen mindestens eine halbe Stunde Wirkzeit – diese Zeit steht oft nicht zur Verfügung. «Haben Sie keine Angst vor der i.m.-Applikation des Adrenalins», sagte Scheidegger: «Vorausgesetzt, dass es sich tatsächlich um einen anaphylaktischen Schock handelt und nicht zum Beispiel um eine vagovasale Reaktion, können Sie praktisch keinen Schaden
anrichten – sogar bei Patienten mit Herzkrankheiten.» Innert Minuten die maximale Plasmakonzentration zu erreichen, gehe eigentlich nur mit einem Adrenalinautoinjektor, meinte Scheidegger. Mit seiner Nadellänge von 1,58 Zentimeter sorgt beispielsweise der EpiPen® dafür, dass das injizierte Adrenalin bis zu 2,78 Zentimeter tief in die Oberschenkelmuskulatur penetriert. Scheidegger berichtete, dass er zur Sicherheit immer einen weiteren Autoinjektor zur Hand habe, weil die therapeutische Wirkung der ersten Injektion bei manchen Patienten ungenügend sei. Falls sich während eines Notfalls der Schock innerhalb von 10 bis 15 Minuten nicht löse, sei eine zweite Injektion erforderlich. Insgesamt werde bei allergischen Reaktionen Adrenalin immer noch zu selten und zu spät eingesetzt. In der Schweiz ist neben dem EpiPen®- auch der Jext®Pen zugelassen.
Insektenstiche
mit Minutenwirkung
Je nachdem mit welchem Allergen die Betroffenen es zu tun haben, kann die Latenzzeit bis zum Auftreten der ersten Reaktionen sehr unterschiedlich sein. Bei Hymenopterengiften, also nach Sti-
chen von Biene, Wespe, Hornisse oder Hummel, kann die Spanne zwischen Allergenexposition und dem Auftreten ernsthafter Symptome mit sehr wenigen Minuten extrem kurz sein (5). Dagegen beträgt die Latenzzeit bei einem Medikamentenschock rund 20 Minuten und bei Nahrungsmitteln 30 Minuten bis 6 Stunden nach der Einnahme. Für die ärztliche Anamnese ist wichtig, daran zu denken, dass Nahrungsmittelallergien auch mit langen Verzögerungen auftreten können. Nahrungsmittelallergiker haben durch diese lange Verzögerung beim Erscheinen der ersten leichten Symptome (z.B. in Form eines pelzigen Gefühls im Mund) durch eine Glukokortikoid- beziehungsweise Antihistaminikumtablette die Chance, das weitere Voranschreiten der allergischen Reaktion rechtzeitig abzumildern.
Anaphylaxien durch Hyme-
nopterengifte am häufigsten
Die Inzidenz lebensbedrohlicher Anaphylaxien wird in der Schweiz auf jährlich 10 Personen (anderen Angaben zufolge auf 7,9 bis 9,6) pro 100 000 Einwohner geschätzt (6, 7). Pro Million Einwohner versterben hierzulande pro Jahr 1 bis 3 Personen nach einer schweren allergischen Reaktion (6).
Tabelle:
Schweregradskala zur Klassifizierung anaphylaktischer Reaktionen
Grad I II III IV
Haut- und subjektive Allgemeinsymptome
Juckreiz Flush Urtikaria Angioödem
Juckreiz Flush Urtikaria Angioödem
Juckreiz Flush Urtikaria Angioödem
Juckreiz Flush Urtikaria Angioödem
Abdomen –
Respirationstrakt –
Herz-Kreislauf –
Nausea Krämpfe Erbrechen
Erbrechen Defäkation
Erbrechen Defäkation
Rhinorrhö Heiserkeit Dyspnoe
Larynxödem Bronchospasmus Zyanose
Atemstillstand
Tachykardie (Anstieg > 20/min) Hypotension (Abfall > 20 mmHg systolisch) Arrhythmie
Schock
Kreislaufstillstand
Klassifizierung nach den schwersten aufgetretenen Symptomen, kein Symptom ist obligatorisch (modif. nach Ring und Messmer 1977) (3)
210
ARS MEDICI 5 I 2016
BERICHT
Im Rüebli-Land
Nachdem in den vergangenen Jahren die kaisertreuen Österreicher, die weissbiertrinkenden Bayern oder die singenden Italienerinnen das Motto der Burghalde-Symposien bestimmt hatten, zeigte man sich am vergangenen 5. allergologischen Symposium unter dem Motto «Gemischtes aus dem Rüebli-Land» heimattreu. Dazu wurden von den Organisatoren Markus Streit, Jürgen Grabbe und Anita Richner feine Aargauer (Rüebli)-Spezialitäten und von der Mundartgruppe Trionettli auch pfiffige Volkslieder präsentiert.
Verantwortlich für diese Anaphylaxien waren gemäss einer dreijährigen Studie im Kanton Bern in 59 Prozent der Fälle Hymenopterengifte, gefolgt von Medikamenten (18%), Nahrungsmitteln (10%), Naturlatex (3%), körperlichen Anstrengungen (2%), Kälte (0,4%) und weiteren Ursachen (7). Prinzipiell sind laut einer Analyse der Anaphylaxieregister der drei deutschsprachigen Länder Erwachsene häufiger von Insektengiftallergien betroffen als Kinder (8). Letztere reagieren dagegen eher auf Nahrungsmittel. Unter den Nahrungsmitteln besitzen Erdnüsse das höchste
Allergenpotenzial (20%), gefolgt von
Nüssen (14%), Crustaceen (10%),
Mollusken (6%), Weizen (6%), Kuh-
milch (5%), Sellerie (5%), Sesam (3%)
und anderem. Patienten, die eine All-
gemeinreaktion schon einmal erlebt
haben, sollten immer ein Notfallset mit
Glukokortikoid- und Antihistamini-
kumtabletten sowie einen Adrenalin-
pen und einen Anaphylaxieausweis da-
beihaben.
O
Klaus Duffner
Vortrag von Paul Scheidegger: «Anaphylaxie, wenn die Zeit zählt». 5. Burghalde-Symposium, Lenzburg, 10. September 2015.
Literatur: 1. Simons FE et al., J Allergy Clin Immunol 2011; 127:
587–593. 2. Simons FE et al., World Allergy Organ J 2014; 7: 9. 3. Ring J et al: Lancet 1977; 1: 466–469. 4. Simons FE et al., J Allergy Clin Immunol 1998; 101:
33–37. 5. Roherer et al., Schweizer Med Wochenschrift 1998;
128: 53–63. 6. Helbing A et al., Schweiz Med Forum 2011; 11(12):
206–212. 7. Helbing A et al., Clin Exp Allergy 2004; 34: 285–290. 8. Hompes et al., Pediatr Allergy Immunol 2011; 22:
568–574.
Fotos: Klaus Duffner
212
ARS MEDICI 5 I 2016