Transkript
FORTBILDUNG
Tipps für Gipfelstürmer
Was ist bei Reisen in grosse Höhen zu beachten?
Trekking in den Anden, Rundreise in Ladakh, Sightseeing in Lhasa – die Angebote für Reisen in grosse Höhen nehmen zu, entsprechend auch die Anfragen in der Hausarztpraxis, ob man denn eine solche Reise antreten könne und wie gefährlich die Höhenkrankheit sei. Doch was rät man dem 50-Jährigen, der im zweiten Frühling zum Gipfelstürmer mutiert? Und was der Rentnerin, die aufs Dach der Welt will?
Angelika Ramm-Fischer
Die Beratung zu Reisen in grosse Höhen ist gar nicht so einfach, denn bisher wurden die Erfahrungen und Studiendaten in erster Linie bei professionellen Bergsteigern gewonnen. Zudem ist die Datenlage bei Personen, die bereits eine chronische Erkrankung, vor allem der Lunge oder des Herz-Kreislauf-Systems, haben, eher dürftig.
Dreierlei Höhenkrankheiten Die progressive Abnahme des Sauerstoffpartialdrucks in der Höhe führt zu einer zunehmenden Hypoxie, die der zentrale Faktor für die Entstehung der Höhenerkrankungen ist. Nach neueren Erkenntnissen tragen hypoxievermittelte maladaptive Prozesse mit Störungen der Vasomotorik und/oder der Gefässpermeabilität zur Pathogenese dieser schweren Störungen bei. Das individuelle Risiko vor einer geplanten Höhenexposition ist im Flachland kaum abschätzbar, als
MERKSÄTZE
O Das individuelle Risiko einer geplanten Höhenexposition ist im Flachland nur schwer abschätzbar.
O Neben gewissen Risikofaktoren gilt eine durchgemachte Höhenerkrankung in der Vergangenheit als zuverlässigster prädiktiver Marker.
O Die relativ häufige akute Bergkrankheit (AMS: acute mountain sickness) kann durch eine sorgfältige Akklimatisationsstrategie weitgehend vermieden werden.
O Bei Verdacht auf Hirn- oder Lungenödem (HACE/HAPE) gilt: Absteigen! Und zwar sofort und so tief wie möglich.
zuverlässigster prädiktiver Marker gilt eine durchgemachte Höhenerkrankung in der Vergangenheit. Bei der spezifischen Höhenkrankheit werden drei verschiedene Krankheitsbilder unterschieden: O die akute Bergkrankheit (acute mountain sickness, AMS),
gekennzeichnet durch selbstlimitierende Kopfschmerzen und Befindlichkeitsstörungen O das lebensbedrohliche Höhenhirnödem (high altitude cerebral edema, HACE) O das ebenfalls lebensbedrohliche Höhenlungenödem (high altitude pulmonary edema, HAPE).
Wie sich die Hypoxie pathophysiologisch auswirkt, hängt von der Höhe über dem Meeresspiegel, von der Aufstiegsgeschwindigkeit, von der individuellen Empfindlichkeit sowie von weiteren Risikofaktoren ab (Tabelle).
Akklimatisation als Prophylaxe
Prinzipiell kann die AMS durch eine sorgfältige Akklimatisationsstrategie weitgehend vermieden werden, indem das Aufstiegsprofil an die absolute Höhe beziehungsweise die klinische Symptomatik angepasst wird mit Ruhetagen und zwischenzeitlichem Abstieg bei Persistenz der Symptome. Das physiologische Phänomen der Höhenakklimatisation wird im Kasten beschrieben. Als Faustregel gilt, dass ab einer Höhe von 2500 m der Höhengewinn zwischen zwei konsekutiven Übernachtungen nicht mehr als 300 bis 500 m betragen sollte und dass alle vier bis fünf Tage ein Ruhetag ohne weiteren Höhengewinn (bezogen auf den Übernachtungsort) eingeplant wird. Die ohne Höhensymptome tolerierte Aufstiegsgeschwindigkeit hängt von der individuell sehr unterschiedlichen Höhentoleranz ab. Diese kann durch häufiges Bergsteigen mit wiederholter Höhenexposition verbessert werden. Diese «Vorakklimatisation» erlaubt dann einen schnelleren Aufstieg in grössere Höhen.
Häufigste Höhenkrankheit: AMS
Auf 2500 m entwickeln 10 bis 25 Prozent der nicht akklimatisierten Personen innerhalb von sechs bis zwölf Stunden nach dem Aufstieg eine akute Bergkrankheit (AMS); die Inzidenz steigt auf 50 bis 85 Prozent nicht akklimatisierter Personen zwischen 4500 und 5500 m (1). Die Symptome der AMS sind unspezifisch: Kardinalsymptome sind Kopfschmerzen, oft begleitet von Übelkeit, Schwindel, selten Erbrechen, Schlafstörungen, Abgeschlagenheit und Ödemen im Gesicht (am häufigsten) sowie an Händen und Füssen.
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Tabelle:
Inzidenz der Höhenkrankheiten in Abhängigkeit der Meereshöhe
Meereshöhe AMS (6–12 h)
0–1500 m
< 2500 m < 3500 m > 4000 m
– 5–10%1 15–30% 50–85%1
HACE (> 48 h) HAPE (24–48 h)
––
– Einzelfälle
Einzelfälle
selten
0,5–1%2
höhen-/zeitabhängig2
1 Nicht akklimatisierte Personen, schneller Aufstieg 2 Bei Aufstieg auf 4500 m in 4 Tagen: 0,2%; bei Aufstieg auf 5500 m in 7 Tagen: 2%; bei Aufstieg auf 5500 m in 1 bis 2 Tagen: 6–15% AMS: akute Bergkrankheit (acute mountain sickness); HACE: Hirnödem (high-altitude cerebral edema); HAPE: Höhenlungenödem (high-altitude pulmonary edema) Quelle: mod. nach (1)
Kasten:
Wie passt sich der Körper grossen Höhen an?
Physiologie der Höhenanpassung Verschiedene Kompensationsmechanismen tragen dazu bei, die physiologischen Auswirkungen des reduzierten Sauerstoffpartialdrucks in der Höhe zu minimieren:
1. Durch hypoxische Stimulation der Chemorezeptoren kommt es zu einer Steigerung der alveolären Ventilation mit vermehrtem Sauerstoffangebot und Erhöhung des arteriellen Sauerstoffpartialdruckes durch vermehrte Abatmung von CO2.
2. Durch Flüssigkeitsverlust (Hyperventilation, Konvektion) in der Höhe und hypoxische Stimulation der renalen Erythropoietinsekretion nimmt mittelfristig die Hämoglobinkonzentration und damit die Sauerstofftransportkapazität im Blut zu.
3. Durch Sympathikusaktivierung steigt das Herzzeitvolumen mit konsekutiver Verbesserung des Sauerstoffangebots im Gewebe.
4. Längerfristig (für Bergtouristen nicht relevant) bewirkt die Aktivierung Hypoxie-sensitiver Transkriptionsfaktoren eine Verbesserung der zellulären Sauerstoffutilisation und eine gesteigerte Kapillardichte, die zum Teil auf die vermehrte Sekretion von VEGF (Endothelwachstumsfaktor) beziehungsweise Stickstoffmonoxid (NO) zurückgeführt wird.
Diese physiologischen Akklimatisationsmechanismen, die individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sind und ihre volle Wirksamkeit mit zeitlicher Verzögerung entfalten, reduzieren die Auswirkungen der Hypoxie bei verlängertem Aufenthalt in der Höhe. Bei dauerhaftem (bzw. lebenslangem) Aufenthalt in grosser Höhe können chronische Höhenkrankheiten (insbesondere Polyglobulie, Hypoventilation [Atemdepression] und pulmonalarterielle Hypertonie) infolge maladaptiver Prozesse auftreten (4).
Die Prognose der AMS ist grundsätzlich gut, und die Beschwerden verschwinden von allein; in der Regel innerhalb von ein bis zwei Tagen bei Verzögerung des weiteren Aufstiegs. Die Kopfschmerzen und die Übelkeit können bei Bedarf durch symptomatische Massnahmen (z.B. nicht ste-
roidale Analgetika und/oder Antiemetika) gelindert werden. Schlafstörungen sind bei Personen, die aus dem Unterland anreisen, bereits auf Höhen über 1600 m in den ersten Nächten nach Ankunft sehr häufig. Der oberflächliche, nicht erholsame Schlaf mit gehäuftem Erwachen kann für sich allein oder auch im Rahmen einer AMS oder eines Höhenlungenödems auftreten. Zudem kann das periodische Atemmuster (Wechsel von Hyperpnoe und Hypopnoe-/Apnoephasen), das typischerweise in der Höhe (ab 1600 m) auch bei Gesunden beobachtet wird, die Schlafqualität beeinträchtigen. Die Atemaussetzer können zum Erwachen mit Erstickungsgefühl beziehungsweise Lufthunger führen. Acetazolamid wird vor allem zur Prophylaxe der AMS genommen und stabilisiert auch wirksam die oben erwähnte periodische Atmung; die Dosierung beträgt 125 bis 250 mg zweimal täglich, je nach Endhöhe beziehungsweise Höhendifferenz. Einer darüber hinausgehenden Dosissteigerung sind durch Nebenwirkungen einschliesslich Parästhesien und Polyurie Grenzen gesetzt. Wegen Intoleranz von Acetazolamid (Nausea) und seltener Kreuzallergie mit Sulfonamiden wird die Testung der Verträglichkeit vor dem Aufstieg empfohlen (1). Bei Unverträglichkeit von Acetazolamid wird alternativ Dexamethason (2 × 4 mg/Tag) eingesetzt.
Hirn- und Lungenödem:
die gefährlichen Höhenkrankheiten
Die Übergänge zwischen der akuten Bergkrankheit und dem Höhenhirnödem (HACE) sind fliessend. Ein voll ausgeprägtes HACE ist selten: Bei weniger als 1 Prozent der Personen kommt es erst ab Höhen von über 4000 m nach zwei Tagen zu dieser lebensbedrohlichen Höhenkrankheit, die zusätzlich zu den Kopfschmerzen und Allgemeinsymptomen der AMS durch Fieber, Erbrechen, Rumpfataxie und Bewusstseinstrübung bis zum Koma gekennzeichnet ist. Wird ein HACE nicht frühzeitig erkannt und wirksam behandelt, droht der Tod durch Einklemmung des Hirnstamms in das Foramen magnum. Ebenfalls gefährlich wird es beim Höhenlungenödem (HAPE), das sich unabhängig von der AMS entwickeln kann. Als erste Symptomatik berichten Patienten mit HAPE einen für Höhe und Trainingszustand unangemessenen Leistungsabfall und Anstrengungsdyspnoe. Im weiteren Verlauf treten Fieber, Tachykardie, Tachypnoe, blutig tingiertes Sputum, Orthopnoe und schwere Hypoxämie auf, mit unbehandelt tödlichem Ausgang. Klinisch ist die Unterscheidung von einem kardialen Lungenödem schwierig bis unmöglich, weitere Differenzialdiagnosen sind Pneumonie und Lungenembolie. Unterhalb von 2500 m ist das Auftreten eines HAPE ungewöhnlich, darüber spielen die Aufstiegsgeschwindigkeit und die erhöhte Anfälligkeit (Hinweis: vorausgegangenes HAPE) eine entscheidende Rolle. Bei Verdacht auf HAPE oder HACE gilt: Absteigen! Und zwar sofort und so tief wie möglich. Wenn es gar nicht anders geht auch per (Helikopter-)Evakuierung. Parallel dazu können unterstützende medikamentöse Massnahmen zum Einsatz kommen (z.B. Dexamethason) und, falls vorhanden, die direkte Erhöhung des Sauerstoffpartialdrucks durch exogene Zufuhr (Sauerstofftanks) oder Überdrucksack, wie sie gelegentlich bei professionellen Bergsteigertouren mitgeführt werden.
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Höhenreisende mit chronischen Erkrankungen
Der Hausarzt ist in Sachen Höhenmedizin am meisten gefordert bei Patienten, die Vorerkrankungen, besonders des Herzens oder der Lunge, haben. Die Datenlage ist dürftig, und Empfehlungen aus der Flugmedizin können nicht extrapoliert werden, da der Kabinendruck bei Linienflügen einer Meereshöhe von maximal etwa 2400 m entspricht – bei alpinen Bergtouren oder bei Reisen in die Gebirgsregionen Asiens oder Südamerikas geht es aber meistens deutlich höher hinauf. Bereits bei Gesunden nimmt die kardiopulmonale Leistungsfähigkeit in der Höhe ab, da sowohl die Reserven des HerzKreislauf-Systems durch die höhenabhängige Sympathikusaktivierung mit Steigerung des Herzzeitvolumens als auch der pulmonale Gasaustausch durch die hypoxiebedingte Steigerung der Ventilation und die limitierte Diffusion reduziert sind. Es gibt nur wenige absolute Kontraindikationen für die Höhenexposition ab 3000 m wie: O dekompensierte Herzinsuffizienz O akute Koronarsyndrome O akute Lungenembolien O schwere pulmonale Hypertonie O fortgeschrittene chronisch-obstruktive Lungenkrankheit
(COPD Gold IV) O Bullae/Pneumothorax.
Aber sogar diesen Patienten mit schweren kardiopulmonalen Erkrankungen kann, zumindest in ausgewählten Fällen, mittels besonderer Vorkehrungen (z.B. eine kontinuierliche Sauerstofftherapie mit mobilem Konzentrator oder Flüssigsauerstoff) eine Reise in die Berge ermöglicht werden.
Anders sieht es bei den relativen Kontraindikationen aus. Hier lässt sich keine allgemeingültige Empfehlung geben, allenfalls sollten sich vorerkrankte Patienten keinen extremen körperlichen Belastungen aussetzen und unterhalb von 3000 m Höhe bleiben (2, 3). Vielmehr müssen hier die Patienten mit gut eingestellter, chronischer kardiopulmonaler Erkrankung und guter Leistungsfähigkeit im Tiefland individuell beraten werden. Dabei sollten für die Risikoeinschätzung verschiedene kardiopulmonale Funktionsparameter wie LV-Funktion, Lungenfunktionsprüfung und die arterielle Blutgasanalyse berücksichtigt werden. Zur Risikoeinschätzung gehören auch die Rettungsinfrastruktur und die Situation der medizinischen Versorgung am Reiseziel. In den Touristenregionen der Alpen ist diese meist gut ausgebaut, anders sieht es bei den Fernreisezielen im Himalaja oder in den Anden aus. Auf jeden Fall sollte die höhenmedizinische Beratung auch die konkrete Akklimatisationsplanung (Aufstiegsprofil, Ruhetage, Übernachtungshöhe) einschliessen. O
Angelika Ramm-Fischer
Literatur: 1. Bärtsch P, Swenson ER: Acute high-altitude illnesses. N Engl J Med 2013; 369:
1666–1667. 2. Rimoldi SF et al.: High-altitude exposure in patients with cardiovascular disease: risk
assessment and practical recommendations. Prog Cardiovasc Dis 2010; 52: 512–524. 3. Luks AM, Swenson ER:Travel to high altitude with pre-existing lung disease. Eur Respir
J 2007; 29: 770–792. 4. Leon-Velarde F et al.: Consensus statement on chronic and subacute high altitude
diseases. High Alt Med Biol 2005; 6: 147–157.
Interessenkonflikte: keine
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 8/2015. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autorin.
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