Transkript
FORTBILDUNG
Hypertonie: Chancen und Grenzen der Therapie
Bei der Hälfte der Hypertoniker sind die Blutdruckwerte nicht unter Kontrolle
Weniger Schlaganfälle, weniger Herzinfarkte und weniger
Herzinsuffizienz: Eine gute Blutdruckeinstellung würde
das kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Risiko von
Hypertonikern erheblich senken. Dennoch bleibt der Blut-
hochdruck bei rund 50 Prozent der Betroffenen unkontrol-
liert – woran liegt das?
E-Journal of the ESC Council for Cardiology Practice
Die arterielle Hypertonie gilt heute als gravierendes globales Gesundheitsproblem. Ihre Prävalenz wird auf etwa 20 bis 45 Prozent geschätzt, die Inzidenz der Hypertonie steigt mit der zunehmenden Lebenserwartung steil an. Im Jahr 2000 wurde die Anzahl der Erwachsenen mit Hypertonie auf 972 Millionen geschätzt, bis zum Jahr 2025 soll sich diese Zahl um etwa 60 Prozent auf 1,56 Milliarden erhöhen. Der kontinuierliche Zusammenhang zwischen Blutdruck und kardiovaskulären sowie renalen Ereignissen klassifiziert die Hypertonie als einen der wichtigsten Risikofaktoren für kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität. Daher sind die Früherkennung und Behandlung der arteriellen Hypertonie entscheidend, um die Prognose der Patienten zu verbessern. Dieses Ziel lässt sich mithilfe der verschiedenen verfügbaren Therapieoptionen erreichen. Ein kürzlich im E-Journal des ESC Council for Cardiology erschienener Beitrag fasst Nutzen und Grenzen der antihypertensiven Therapie zusammen.
Chancen der antihypertensiven Behandlung Die Therapie der Hypertonie und die Blutdruckkontrolle reduzieren sowohl bei Männern als auch bei Frauen kardiovaskuläre und zerebrovaskuläre Ereignisse sowie die kardio-
MERKSÄTZE
O Bis heute sind die Ergebnisse der Blutdruckkontrolle eher entmutigend.
O Es sind erhebliche Anstrengungen seitens der Patienten und der Behandler erforderlich, um Therapie und Kontrolle der Blutdruckwerte zu verbessern und Morbidität und Mortalität der betroffenen Patienten zu reduzieren.
vaskuläre Morbidität und Mortalität. Die Evidenz hierzu ist geradezu überwältigend. Bereits eine Senkung des systolischen Blutdrucks um nur 2 mmHg verringert das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse um bis zu 10 Prozent. Die antihypertensive Behandlung insgesamt wurde mit einer signifikanten Reduktion der Schlaganfallinzidenz um 35 bis 40 Prozent, der Herzinfarktinzidenz um 20 bis 25 Prozent und der Herzinsuffizienzinzidenz um mehr als 50 Prozent assoziiert. Darüber hinaus besteht Evidenz, dass die blutdrucksenkende Behandlung einen Rückgang von Zielorganschäden induziert, da verschiedene Studien und Metaanalysen eine therapieassoziierte signifikante Reduktion von linksventrikulärer Hypertrophie, Proteinausscheidung im Urin, Intima-MediaDicke in den Karotiden sowie der Pulswellengeschwindigkeit gezeigt haben. Zudem gibt es Hinweise, dass verschiedene Medikamentenklassen pleiotrope Effekte haben, die über die Blutdruckkontrolle hinausgehen, beispielsweise eine Verbesserung der Endothelfunktion, ein Anstieg der Bradykininspiegel sowie eine Abnahme des Sympathikotonus. Dadurch kommt es insgesamt zu signifikanten antioxidativen, antiinflammatorischen, antithrombotischen, antiatherosklerotischen und antifibrotischen Effekten. Doch weisen die Autoren darauf hin, dass der Hauptnutzen einer antihypertensiven Therapie aus der Blutdrucksenkung per se resultiert und weitgehend unabhängig von den Medikamenten ist, die zu diesem Zweck eingesetzt werden. Die Wahl des blutdrucksenkenden Mittels sollte sich nach den Komorbiditäten des jeweiligen Patienten und/oder nach möglichen Kontraindikationen richten. Erst wenn der Blutdruck kontrolliert ist, können zusätzliche pleiotrope Effekte beurteilt werden.
Arterielle Hypertonie: Grenzen der Behandlung
Trotz der eindeutigen Vorteile der Blutdruckkontrolle und der Effektivität der verfügbaren Therapien sind die Raten der Hypertoniker, die ihre Blutdruckziele erreichen, weltweit entmutigend. Daten des National Health and Nutrition Examination Survey (NHANES) aus den Jahren 2007 bis 2010 zeigen, dass bei etwa 50 Prozent der Hypertoniker die Blutdruckwerte nicht kontrolliert waren. Wahrscheinlich sind mehrere Faktoren für dieses Phänomen verantwortlich, doch gehen die Autoren davon aus, dass ärztliche Trägheit und geringe Therapieadhärenz die wichtigsten Gründe hierfür sind. Darüber hinaus scheint eine exzessive Blutdrucksenkung schädlich zu sein – insbesondere bei älteren Menschen sowie bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit (J-KurvenPhänomen).
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FORTBILDUNG
Ärztliche Trägheit und geringe Rate
an Blutdruckkontrolle
Wenn die Blutdruckwerte über den Zielwerten liegen, aber keine therapeutischen Konsequenzen folgen, liegt definitionsgemäss «ärztliche Trägheit» vor. Dieses Phänomen ist ausgeprägter als erwartet. Beispielsweise ergab eine Studie, in der die Betreuung von 800 männlichen Hypertonikern über den Verlauf von zwei Jahren bewertet wurde (durchschnittliche Anzahl der Arztbesuche > 6, insgesamt 6391 Arztbesuche im Zusammenhang mit der Hypertonie), dass 40 Prozent dieser Patienten Blutdruckwerte > 160/90 mmHg hatten und die medikamentöse Therapie nur bei 6,7 Prozent dieser Arztbesuche intensiviert wurde. Weitere Studien bestätigen dieses Phänomen. Ein ärztlicher Mangel an Leitlinienwissen erklärt dieses Phänomen nur teilweise. Ärztliche Trägheit wird hauptsächlich darauf zurückgeführt, dass Mediziner eine Gewebs- oder Organhypoperfusion befürchten (J-KurvenEffekt, siehe unten) oder mit Nebenwirkungen rechnen. Ausserdem scheinen Ärzte die Risiken erhöhter Blutdruckwerte (insbesondere bei Älteren) zu unterschätzen oder eine schlechte Verträglichkeit der Antihypertensiva zu befürchten. Und schliesslich äussern Ärzte Bedenken, wenn Patienten Begleiterkrankungen aufweisen.
Schlechte Therapieadhärenz
Eine mangelhafte Therapieadhärenz stellt eine wesentliche Hürde für die Blutdrucksenkung und -kontrolle dar. Es wird geschätzt, dass etwa 40 Prozent der Patienten innerhalb von 2 Jahren nach Beginn der Therapie ihre Behandlung abbrechen. Dieser Anteil steigt innerhalb von 10 Jahren auf bis zu 61 Prozent. Betrachtet man das alltägliche Patientenverhalten, vergessen etwa 10 Prozent der Patienten, ihr(e) Medikament(e) einzunehmen. Die wichtigsten Gründe für schlechte Therapieadhärenz sind: O Nebenwirkungen, schlechte Verträglichkeit O Komplexität des Medikationsplans und Anzahl der ver-
ordneten Medikamente O (partielle) Ineffektivität der Medikation (im Hinblick auf
die Blutdrucksenkung), was Patienten bei mehrfacher Umstellung der Therapie demotivieren kann.
Nicht adhärente Patienten sind Hypertoniker, die ihre Medikation unregelmässig einnehmen oder ganz absetzen. Erwartungsgemäss steigert eine schlechte Therapieadhärenz die kardiovaskuläre Morbidität und Mortalität. In einem Register, das über 18 800 Hypertoniker umfasste, führte eine geringe Therapieadhärenz zu einem Anstieg von kardiovaskulären Ereignissen um 38 Prozent.
Das J-Kurven-Phänomen
Zwar gibt es einen kontinuierlichen Zusammenhang zwischen Blutdruck und kardiovaskulären Ereignissen, und eine Blutdrucksenkung ist sicherlich vorteilhaft. Doch gibt es einen kritischen Punkt, ab dem eine weitere Blutdrucksenkung schädlich sein könnte, was hauptsächlich auf eine Hypoperfusion vitaler Organe zurückgeführt wird. Tatsächlich beschreibt die J-Kurve den Zusammenhang zwischen Blutdrucksenkung und dem Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse, während die J-Form das erhöhte Risiko bei hohen und sehr niedrigen Blutdruckwerten widerspiegelt. Trotz der
Tatsache, dass die J-Kurven-Theorie hauptsächlich auf Posthoc- und Metaanalysen basiert (nur wenige prospektive Studien haben sich dieses Themas angenommen), scheint sie bei älteren Patienten und bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit oder mit peripherer arterieller Verschlusskrankheit valide zu sein. Da ein hoher Prozentsatz an Hypertonikern zusätzlich unter diesen Begleiterkrankungen leidet, müssen die behandelnden Ärzte auf der Hut sein und eine exzessive Blutdrucksenkung vermeiden, die diesen Patienten irgendwann schaden könnte.
Vorschläge zur Lösung dieser Probleme
Um der ärztlichen Trägheit entgegenzuwirken und die The-
rapieadhärenz der Patienten zu verbessern, wurden ver-
schiedene Lösungsmöglichkeiten vorgeschlagen. Schulungs-
programme für Ärzte scheinen die Zögerlichkeit der Kolle-
gen zu verbessern – wenn auch nicht ganz in dem erwarteten
Umfang. Zudem könnte es auch der ärztlichen Trägheit ent-
gegenwirken, wenn das Verständnis der Patienten für die
Ziele und den Nutzen der Blutdrucksenkung verbessert wird,
da auf diese Weise die Interaktion und die Zusammenarbeit
zwischen Arzt und Patient profitieren dürften.
Die aktuellen ESH/ESC-Leitlinien befürworten die Vertei-
lung von Informationsmaterial an Patienten und an Anbieter
von gesundheitsbezogenen Leistungen, um die Motivation
und die klinische Trägheit ebenso wie die Therapieadhärenz
zu verbessern. Der Patient sollte an der Bewertung und Be-
handlung des Blutdrucks beteiligt werden (Blutdruckselbst-
messung, Selbstmanagement mithilfe eines einfachen, patien-
tengesteuerten Systems); dies könnte zu einer weiteren Ver-
besserung der Blutdruckkontrolle führen.
Eine geringe oder fehlende Therapieadhärenz ist hauptsäch-
lich durch die Komplexität und durch schlechte Verträglich-
keit oder Nebenwirkungen der verordneten Therapiesche-
mata bedingt. Eine Vereinfachung der Therapie, etwa durch
Einsatz von Fixkombinationen, könnte die Adhärenz zusätz-
lich verbessern. Die Gabe von Fixkombinationen verbessert
die Therapieadhärenz signifikant (um 29%), und sie redu-
ziert das Risiko der Noncompliance im Vergleich zu den
entsprechenden freien Medikamentenkombinationen um
24 Prozent. Zudem verbessern Fixkombinationen den blut-
drucksenkenden Effekt im Vergleich zu den jeweiligen Ein-
zelstoffen, was die Inzidenz von Nebenwirkungen senkt und
auch die Therapiekosten verringert.
O
Andrea Wülker
Kallistratos MS et al.: Arterial hypertension: benefits and limitations of treatment. E-Journal of the ESC Council for Cardiology Practice, Vol 13, No 28, 11. Aug 2015.
Interessenlage: Die Autoren haben keine Interessenkonflikte deklariert.
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