Transkript
FORTBILDUNG
Serie: Palliativmedizin in der Praxis
Physiotherapie bei Atemnot
Stellenwert und Umsetzung in der Praxis
Dyspnoe wird als Atemnot, Atemlosigkeit oder Lufthunger übersetzt und bezeichnet eine unangenehm erschwerte Atemtätigkeit. Sie ist das Kardinalsymptom bei Atemwegsrestriktionen (Lungen, Bronchien) und Sauerstoffkapazitätsproblemen (Herz/Kreislauf). Dyspnoe ist neben Schwäche, Müdigkeit, Fatigue und Schmerzen eines der häufigsten Symptome in der Palliative Care (1). Physiotherapeutische Massnahmen sind ein wichtiger Teil der Palliative Care mit dem Ziel, Patienten und Angehörigen wirksame Strategien zur Linderung der Atemnot zu vermitteln.
Bei der Behandlung der Dyspnoe als komplexes Symptombild geht es in erster Linie darum, dem Patienten Strategien zu Selbstmanagement und Coping bezüglich der Bewältigung seiner Atemnot nahezubringen. Einfache Informationen zur Anatomie und Physiologie der Atmung, die Bedeutung der Aktivität, insbesondere der aeroben Trainingstherapie, zur Ökonomisierung der Anstrengung (Pacing) und zum Coping sowie die Aufklärung über Risikofaktoren (insbesondere Rauchen) sind die Pfeiler der Schulung sowohl der Betroffenen als auch der Angehörigen und der betreuenden Personen. Ein frühzeitiges Erkennen respiratorischer Probleme und ihrer Auswirkung auf den Alltag des Patienten sind ausschlaggebend für ein optimales Dyspnoemanagement (4).
Henri A. Emery
Dyspnoe ist immer Teil eines Symptomenkomplexes, wie zum Beispiel Dyspnoe, Angst und Fatigue; multifaktorielle physische, psychische, emotionale, existenzielle und spirituelle Komponenten sind unauflöslich miteinander verbunden (2). Das klinische Bild ist häufig instabil; die Belastung durch die Symptome zieht oft Bewegungsvermeidung und Isolation nach sich (3), welche auch der auftretenden Angst und Panik geschuldet sind. Der Physiotherapeut ist in diesem Setting ein Teil des behandelnden Palliative-Care-Teams und auf die enge Zusammenarbeit mit den weiteren betreuenden Personen angewiesen.
MERKSÄTZE
O Der Schwerpunkt effektiver Atemkontrolltechniken liegt in einer Verlängerung der Exspirationsphase.
O Bewältigungsstrategien und Zielvereinbarungen sind individuell unterschiedlich.
O Training im aeroben Bereich unterstützt die Atemkontrolle.
O Die Intensität des Trainings soll im «Wohlfühlbereich» liegen und muss immer den individuellen limitierenden Faktoren angepasst werden. Ein Low-level-Training kann auch aus zehn Schritten vom Bett bis zum Fenster bestehen!
O Die Atemtherapie führt nicht zu einer Verbesserung der Ausdauerkapazität, kann aber eine Verbesserung der Lungenfunktionswerte bewirken.
Atemkontrolltechniken
Der empfundene Lufthunger bei Atemnot verleitet die Betroffenen, instinktiv tiefer einzuatmen. Eine einfach verständliche Erklärung der Anatomie und der Physiologie der Atmung ist häufig eine Voraussetzung für das Verständnis effektiver Atemkontrolltechniken, deren Schwerpunkt in einer Verlängerung der Exspirationsphase liegt. Gleichzeitig kann dem Patienten durch die Erklärung der physiologischen Zusammenhänge geholfen werden, das Auftreten von Angst und Panik und die damit verbundene Erhöhung der Atemfrequenz als reflektorische Reaktion auf Bedrohung zu verstehen. Die Verlängerung der Exspirationsphase lässt sich einfach mit einer Synchronatmung mit dem Therapeuten demonstrieren: Der Patient legt seine Hände seitlich auf die Rippen des Therapeuten und lernt so, langsam auszuatmen. Gleichzeitig erlebt der Patient, dass sich der Brustkorb nach Ende der Exspiration durch die Rückstellkraft sofort wieder weitet. Die Exspiration mithilfe von «positive exspiratory pressure» (PEP) ermöglicht den Betroffenen ein längeres und leichteres Ausatmen. Durch die erzeugte exspiratorische Stenose entsteht ein innerer positiver Druck, der das Kollabieren der Atemwege auch bei forcierter Exspiration verhindert. Die einfachste Form des PEP ist die Lippenbremse (Abbildung 1). Die gängigsten Hilfsmittel sind der Flutter, das Cornet, das Acapella oder die altbewährte Blubberflasche (grosse halbgefüllte Flasche mit einem Kunststoffschlauch). Sie werden auch zur Sekretmobilisation benutzt. Andere effiziente Instrumente, um die Atemfrequenz zu beruhigen, sind das Atemnotgedicht (Kasten), welches sich leicht merken und Vers um Vers von den Patienten oder Begleitpersonen ruhig rezitieren lässt, sowie die Atmungshand (Abbildung 2), bei der die Betroffenen mit dem Zeigefinger
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der einen Hand der Kontur der anderen Hand gemächlich folgen und jeweils bei jedem Finger regelmässig ein- und ausatmen.
Thorax- und Rumpfmobilisation
Eine starre Körperhaltung kann durch Angst vor Anstrengung, durch stetig abnehmende funktionelle Aktivität und durch zunehmenden Konditionsverlust entstehen. Entspannungsübungen sind der erste Schritt zum Abbau der Spannungen in Kiefer, Gesicht, Schultern, Armen, Brustkorb und Wirbelsäule. Darauf aufbauend kann die Mobilisation passiv durch den Therapeuten oder aktiv durch den Patienten mit rhythmischen Bewegungen erreicht werden, die im Liegen oder im Sitzen durchgeführt werden können. Die Übungen beginnen mit kleinen Bewegungen im Gesicht und Kopfbereich, gehen über die Schultern zu den Armen und enden in der Lateralflexion, der Rotation, der Flexion und der Extension des Rumpfes. Rumpfübungen haben eine zweifache Wirkung: Durch den Elastizitätsgewinn im Thoraxbereich und durch die Einwirkung auf die Mechanorezeptoren in Interkostalmuskulatur und Zwerchfell vergrös-
Atemnotgedicht
Sei still – sei ruhig Lass die Schultern fallen Seufze tief aus – und – aus Hör Deinen leisen Atem – Haaaah – leicht und ruhig Nun hast Du es wieder in der Hand Friedvoll und beschützt
J.M. Taylor 2005, übersetzt von R. Simader (10)
sern sie die Lungenkapazität und machen Bewegungen wieder möglich, die oft seit Langem vermieden worden sind (2). Wenn zusätzlich Schulter-Arm-Bewegungen in grossem Umfang durchgeführt werden, werden die (Dehn-)Wirkung auf den Brustkorb unterstützt und die Muskelfunktion und Belastbarkeit verbessert, womit Verspannungen der sekundären Atemhilfsmuskulatur entgegengewirkt wird und der Einstieg in ein vorsichtiges Training gegeben ist (Abbildung 3).
Abbildung 1: Die einfachste Form von PEP (positive exspiratory pressure) ist die Lippenbremse.
Abbildung 2: Die Atmungshand, bei der die Betroffenen mit dem Zeigefinger der einen Hand der Kontur der anderen Hand gemächlich folgen und jeweils bei jedem Finger regelmässig ein- und ausatmen.
Aerobes Ausdauertraining
Training im aeroben Bereich unterstützt die Atemkontrolle (5). Wenn es langsam und mit bewusstem Pacing aufgebaut wird, kann es die Leistungsgrenze erweitern. Trooster et al. (6) stellen fest, dass «exercise training» ein Eckpfeiler der pulmonalen Rehabilitation ist. Sie schreiben, dass ein Training komplementär zu einer pharmakologischen Therapie wirkt. Letztere bewirkt vor allem eine Verbesserung der Lungenfunktion, der entzündlichen Prozesse und der dynamischen Überblähung während eines Trainings, derweil die pulmonale Rehabilitation in erster Linie die systemischen, nicht direkt lungenbezogenen Auswirkungen der Dyspnoe in physiologischer und psychologischer sowie auch in der Dimension der erlebten Symptome beeinflusst. Sie stellen fest, dass zum heutigen Zeitpunkt eine Kombinationstherapie, bestehend aus einer optimalen Pharmakotherapie und einer pulmonalen Rehabilitation, das Mass der Dinge ist. Die Ziele sind eine Leistungsverbesserung bezüglich Kraft, Ausdauer und Koordination sowie eine bessere Sauerstoffauswertung in der Gesamtmuskulatur, ein Abbau der Angst vor Belastung, eine Stärkung des Selbstbewusstseins und eine Reduktion der Atemnot. All das wirkt sich positiv auf die Alltagsaktivitäten aus. Wie Trainingseinheiten im Detail aufgebaut werden sollen, wird in der Literatur kontrovers diskutiert. Intervalltraining in Kombination mit Krafttraining der peripheren Muskulatur sowohl der unteren als auch der oberen Extremitäten wird häufig genannt. Ein Ausdauertraining auf dem Veloergometer, dem Stepper, oder gar ein für den Patienten intensives Walkingtraining an der frischen Luft sind valable Alternativen. Ein Low-level-Training kann aber auch aus einem fünfmaligen Aufstehen und Hinsetzen vom und auf den Stuhl und aus zehn Schritten vom Bett bis zum Fenster bestehen! Die Intensität des Trainings muss immer den individuellen limitierenden Faktoren angepasst werden. Der Physiotherapeut beobachtet während der Belastung stets die Atemfrequenz des Patienten und arbeitet in dessen «Wohlfühlbereich». Eine
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Abbildung 3: Rumpfübungen bei Atemnot
zusätzliche Kontrolle der Sauerstoffsättigung mittels Fingeroximeter kann für manche Patienten einen zusätzlich beruhigenden Effekt bewirken.
Pacing und adaptive Strategien bei Atemnot
Atemnot ist wie Schmerz ein subjektives Symptom: Atemnot ist das, was der Patient so bezeichnet, und nicht das, was ein therapeutisches Assessment ergibt. Die Symptome reichen von Dyspnoe bei Anstrengung bis zu Atembeschwerden beim Sprechen, Essen oder Trinken. Bewältigungsstrategien und Zielvereinbarungen sind dementsprechend individuell unterschiedlich und sollten nicht für den Patienten, sondern stets mit dem Patienten vereinbart werden, um Krisen, Demoralisierung und angstbedingtem Vermeidungsverhalten vorzubeugen. Peinlichkeit und Scham über die gegebenen Einschränkungen im täglichen Leben sind ein immer wiederkehrendes Thema, aufklärende Gespräche und Tipps, die andere Patienten selbst für sich ausprobiert und als wirksam erlebt haben, können eine wirksame Hilfe darstellen. Ein schöner Vergleich, um den Patienten zu zeigen, wie sie mit einer eingeschränkten Atemkapazität umgehen sollen, ist die Analogie: «Sie sind das Auto, und Ihre Atemluft ist das Benzin». Wenn die Treibstoffanzeige auf Reserve steht, würden Sie mit Vollgas bis zur nächsten Tankstelle fahren? Wie würden Sie alternativ fahren und warum?» So kann der Therapeut einem Patienten, der möglichst schnell die Treppen hochsteigen will, um rasch oben zu sein, erklären, warum er besser langsam und mit allfällig notwendigen Pausen sein Ansinnen in Angriff nehmen sollte. In Anlehnung an J. Taylor (2) sind weitere Pacing-Strategien bei Dyspnoe: O langsam und mit vielen Pausen essen und trinken, da bei
jedem Schlucken die Luft angehalten wird O in kurzen Sätzen sprechen und von der Familie Verständ-
nis und ausreichend Zeit für den Wortwechsel erbitten O bei Anstrengungen Pausen machen, sobald die Atemfre-
quenz ansteigt O Atemkontrolltechniken zur Verlängerung der Exspiration
anwenden, bis sich die Atemfrequenz normalisiert hat, dann weitermachen.
Beispiele adaptiver Strategien bei Dyspnoe sind: O An- und Ausziehen im Sitzen vornehmen O Schuhe mit Schnürsenkel vermeiden O elektrische statt Handzahnbürste verwenden O Anstrengungen durch Einsatz von Hilfsmitteln vermindern:
– Aufstehsessel – erhöhter Toilettensitz – Gehstock oder Rollator – Rollstuhl für längere Distanzen – Greifzange – langer Schuhlöffel und Strumpfanzieher.
Atemtherapie
Generell wird bei Dyspnoepatienten eine Basisatemtherapie durchgeführt, deren Hauptziele eine Ökonomisierung und eine Automatisierung der Tiefenatmung in Ruhe sind, bei der die thorakale und die abdominale Atmung synchron verlaufen und sich die Lunge optimal ausdehnen kann. Diese sogenannte mühelose Zwerchfellatmung besteht aus einem langsamen und sanften Atemfluss, einer Bauchexpansion während der Inspiration, einer postinspiratorischen Pause und einer Exspirationsphase, die bei Anwendung der Lippenbremse signifikant länger ist als die Inspirationsphase. Die Atemtherapie führt nicht zu einer Verbesserung der Ausdauerkapazität, kann aber eine Verbesserung der Lungenfunktionswerte bewirken. Die unterstützenden atemtherapeutischen Massnahmen werden analog zu den verschiedenen Phasen für ein produktives Husten eingeteilt: effektive Inspiration, effektiver Glottisverschluss, effektive Exspiration und Vermeidung eines Tracheobronchialkollapses (7). Die Betonung der Inspiration und der Exspiration wird häufig über taktile Stimulation induziert. Die Hände des Therapeuten liegen auf Abdomen, Sternum oder den Flanken des Patienten und geben einen führenden Widerstand gegen die Inspiration, einen Haltewiderstand am Ende der Inspiration und zuletzt eine manuelle Kompression bei der Exspiration. Packgriffe und dosierter Inspirationswiderstand, passive Traktionen der Extremitäten und Inspiration in diversen Ausgangsstellungen können die Atemwahrnehmung vertiefen und die Atemtiefe verstärken.
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Abbildung 4: Der Kutschersitz (a) erleichtert die Atmung; (b): Varianten im Stehen.
Ein unvollständiger Glottisverschluss kann die Ursache für einen unproduktiven Hustenstoss darstellen. Aus diesem Grund soll der Patient lernen, die Ausatmung bei offenem Mund und bei diversen Manövern willkürlich zu unterbrechen. Das Erlernen des Huffens (forciertes Ausatmen bei offener Glottis) kann unter Umständen als «Hustenersatz» hilfreich sein, besonders bei bestehendem Risiko eines exspiratorischen Tracheobronchialkollapses. Bei tracheobronchialer Instabilität werden die oben erwähnten PEP-Massnahmen und -Hilfsmittel verwendet. Sie können mit Inhalationen, Drainagelagerungen und weiteren sekretolytischen Massnahmen ergänzt werden. Die Kombination von Atemtherapie und PEP ist sehr wirksam, da Stenosen reflektorisch die Atemwege für den nächsten Atemzug öffnen (7). Ein Sekretproblem kann zu einer Verstärkung einer Atemwegsobstruktion führen. Die Inhalationstherapie mit Mukolytika ist eine häufig notwendige Vorbereitung zur physiotherapeutischen Sekretolyse. Die Mobilisation des Sekretes kann auf verschiedene Arten unterstützt werden. Drainagelagerungen, Vibrationen (manuell, mit Vibrationsgeräten oder mit Klangschale) und Tapotage («Abklopfen») werden zwar kontrovers diskutiert, aber häufig von den Patienten als angenehm und hilfreich bezeichnet. Welche Sekretolysetechnik angewendet wird, hängt nicht zuletzt von der Lokalisation des Sekretes ab. In den zentralen Atemwegen ist die forcierte Exspiration, wie zum Beispiel Husten, die wichtigste Technik. Bei den peripheren Atemwegen wird eher eine vertiefte Inspiration angewendet, wie zum Beispiel das «air stacking», bei dem der Patient mehrmals einatmet, ohne wieder auszuatmen, und so möglichst viel Luft hinter das Sekret bringt; danach folgt eine dosierte tiefe Exspiration, um einen Bronchialkollaps zu vermeiden. Bei aktiven und belastbaren Betroffenen werden körperliche Aktivität und Ausdauertraining als sekretfördernde Therapie eingesetzt.
Anfallschulung
Bei exazerbierender Dyspnoe werden die supportiven Massnahmen der nicht medikamentösen Therapie vom St. Christopher’s Hospice, London, wie folgt beschrieben (8):
O Ventilator: Ein Tischventilator oder ein Handgerät werden auf das Gesicht gerichtet. Äste des N. trigeminus werden stimuliert, die auf mechanische und thermische Reize reagieren. Die subjektiv wahrgenommene Atemnot nimmt ab.
O Kalte Kompresse: Ein weiches Tuch wird in Eiswasser getaucht und zum Kühlen auf das Gesicht gelegt; das bewirkt vermutlich analog zum Tauchreflex eine Senkung der Herzfrequenz und spart Sauerstoff.
O Lagerung: aufrecht oder halb zurückgelehnt im Sessel oder Bett lagern; Kopf, Arme und LWS-Lordose mit Kissen unterstützen. Durch anatomisch korrekte Unterstützung wird der Brustkorb geöffnet, das Zwerchfell kann tiefer treten, und die Thoraxkapazität nimmt zu.
O Entspannung: Umgebung als ruhigen, ungestörten Ort warm und gemütlich gestalten. Massage, Aromatherapie, Entspannungsmusik, Meditation, Hypnotherapie. Entspannung wird über afferente Impulse an das Zentralnervensystem vermittelt. Durch Abnahme von Stress und Anspannung nimmt die Herzfrequenz ab, und die Atmung wird ruhiger.
O Rückversicherung und Dasein: Rufglocke, Berührung und so weiter vermitteln Nähe. Im offenen Gespräch mit dem Patienten, seiner Familie und den Betreuungspersonen können vom medizinischen Team individuelle Möglichkeiten zur Behebung von Ängsten eruiert werden.
O Akupressur: Sedierung des Lungenmeridians an der vorderen Schulter bis zum Daumen durchführen. Von der Axilla bis zum Daumennagel streichen, 60 Sekunden auf Daumennagel und Handgelenkfalte auf der Kleinfingerseite drücken, dann langsam loslassen. Das fördert die Endorphinausschüttung, welche die Entspannung erleichtert und die Atemnot lindert. 70 Prozent der Patienten berichten über kurzzeitigen Erfolg ohne Nebenwirkungen.
O TENS: Elektroden beidseits des dritten Brustwirbelkörpers setzen, 20 Minuten im Burst-Modus. Bei Anwendung an Akupunkturpunkten entspricht die Wirkung der Akupressur. Keine Nebenwirkungen, patientenkontrolliert durchführbar.
O Singen: einzeln oder in der Gruppe. Geführtes oder eigenständiges Singen unterstützt die Lungenfunktion und die Atemkontrolle, verbessert die Selbstsicherheit und die Stimmung.
Je nach Situation empfiehlt der Autor zudem atemerleichternde Entlastungstellungen in diversen Ausgangsstellungen, die den Einsatz der Hilfsatemmuskulatur erleichtern. Zum Beispiel ist der Kutschersitz eine definierte Körperhaltung, welche die Atmung erleichtert. Dabei wird der Brustkorb vom Gewicht der Arme entlastet, denn erst wenn die Arme abgestützt sind, kann die Atemhilfsmuskulatur des Brustkorbes die Atmung unterstützen. Der Patient setzt sich dazu leicht breitbeinig auf die vordere Hälfte eines Stuhles und stützt sich mit den Ellbogen auf den Oberschenkeln oder auf einem Tisch ab. Der Kopf wird nach vorne hängen gelassen und bequem gehalten. Beim Kutschersitz vergrössert sich die Atemfläche durch die Dehnung des Brustkorbs, er ermöglicht dadurch ein besonders tiefes Durchatmen. Diese Haltung bringt Erleichterung bei Atemnot und begünstigt das tiefe Atmen vor dem Abhusten (Abbildung 4a). Damit der Patient seine Atmung besser spürt, kann eine betreuende Person ihre
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Hand auf seine Flanken legen. Der Kutschersitz wird oft mit der Lippenbremse kombiniert. Bei Sitzproblemen oder einem Anfall unterwegs kann eine Variante im Stehen angewendet werden (Abbildung 4b).
Die Schulung nicht nur der Betroffenen, sondern auch der
Angehörigen und der betreuenden Personen ist eine wichtige
Aufgabe des Physiotherapeuten, um zu einer erhöhten
Lebensqualität aller Beteiligten beizutragen.
O
Terminale Phase
Am Lebensende spielen aktive therapeutische Massnahmen eine zunehmend kleinere Rolle. Entspannung, Beruhigung und Linderung von Angst und Depression treten in den Vordergrund (9). Physiotherapeutische Massnahmen in Form atemerleichternder Lagerungen, Aromatherapiemassage, Ausstreichungen oder Applikation von Wärme oder Kälte tragen zur Erleichterung bei. Ist es der Wunsch des Patienten, zu Hause zu sterben, liegt es in der Verantwortung des Palliative-Care-Teams und somit auch des Physiotherapeuten, die Versorgung mit den geeigneten Massnahmen und den notwendigen Hilfsmitteln zu gewährleisten.
Zusammenfassung
Dyspnoe ist in der Regel Teil eines multidimensionalen Syndroms, bei dem der Physiotherapeut als Teil des Behandlungsteams über breite Kenntnisse der nicht pharmakologischen Massnahmen verfügt. Er ist auf eine enge Zusammenarbeit mit dem übrigen Team angewiesen, insbesondere mit dem verordnenden Arzt. Die Kernkompetenzen des Physiotherapeuten liegen in der Beurteilung der möglichen Belastbarkeit des Betroffenen durch einen physiotherapeutischen Befund, in einer entsprechenden Instruktion bezüglich des Dyspnoemanagements, in praktischen Interventionen im Rahmen der Atemtherapie und der Sekretolyse sowie in einer adäquaten Betreuung bei einem möglichen Ausdauertraining oder einer Aktivitätssteigerung. Der Physiotherapeut verfügt über Interventionsmassnahmen von Beginn der Erkrankung bis zur Terminalphase, in der eine Betreuung im Rahmen einer Domizilbehandlung gewährleistet sein kann.
Henri A. Emery
Physiotherapeut MSc., MAS in Palliative Care
Therapie im Park-Hotel
Badstrasse 44, 5330 Bad Zurzach
E-Mail: physio-emery@hin.ch
Literatur: 1. Aulbert E et al.: Symptombehandlung in der Palliativmedizin. In: Lehrbuch der Palliativ-
medizin, Hrsg. Aulbert, Nauck, Radbruch; 2. Auflage 2007, Schattauer, Stuttgart: 139–147. 2. Taylor J: Atemnot und Angst. In: Was wir noch tun können: Rehabilitation am Lebensende, Hrsg. Nieland, Simader, Taylor; 1. Auflage 2013, Elsevier GmbH, München: 91–103. 3. Ek K, Ternestedt B: Living with chronic obstructive airways disease at the end of life: a phenomenological study. J Adv Nurs 2008; 62: 470–478. 4. Currow DC et al.: A community population survey of prevalence and severity of dyspnea in adults. J Pain Symptom Manage 2009; 38: 533–545. 5. Nici L et al.: American Thoracic Society/European Respiratory Society statement on pulmonary rehabilitation. Am J Respir Crit Care Med 2006; 173: 1390–1413. 6. Troosters T et al.: Exercise training and pulmonary rehabilitation: new insights and remaining challenges. Eur Respir Rev 2010; 19(115): 24–29. 7. Van Gestel AJR et al.: Atemtherapeutische Massnahmen. In: Physiotherapie bei chronischen Atemwegs- und Lungenerkrankungen, Hrsg. Van Gestel, Teschler; 2010, SpringerVerlag, Berlin Heidelberg: 213–223. 8. St Christopher's Hospice London: Supportive Massnahmen beim Angst- und Dyspnoe-Management. In: Was wir noch tun können: Rehabilitation am Lebensende, Hrsg. Nieland, Simader, Taylor; 1. Auflage 2013, Elsevier GmbH, München: 98. 9. Wilkinson SM et al.: Effectiveness of aromatherapy massage in the management of anxiety and depression in patients with cancer: a multicenter randomized controlled trial. J Clin Oncol 2007; 25(5): 532–539. 10. Taylor JM, Simader R: Atemnotgedicht. In: Was wir noch tun können: Rehabilitation am Lebensende, Hrsg. Nieland, Simader, Taylor; 1. Auflage 2013, Elsevier GmbH, München: 101.
Wir danken Herrn Dr. med. Markus Denger, wissenschaftlicher Beirat von ARS MEDICI, Frau Dr. med. Heike Gudat, Vorstandsmitglied von palliative.ch, und Dr. med. Klaus Bally, Institut für Hausarztmedizin der Universität Basel, für ihre Unterstützung bei der Konzeption und Planung unserer Serie «Palliativmedizin in der Praxis».
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