Transkript
STUDIE REFERIERT
Wirkungen und Nebenwirkungen von Alphablockern bei Harnwegsbeschwerden
Wie hoch ist das Sturzrisiko wirklich?
In einer bevölkerungsbasierten Kohortenstudie waren prostataspezifische Alpha-1-Rezeptor-Antagonisten bei älteren Männern zu Behandlungsbeginn mit einem geringfügig – aber signifikant – erhöhten Risiko für Stürze, Frakturen und Kopfverletzungen verbunden. Dies ist vermutlich auf Hypotonien im Zusammenhang mit diesen Wirkstoffen zurückzuführen.
British Medical Journal
Viele ältere Männer mit benigner Prostatahyperplasie (BPH) leiden unter Harnwegsbeschwerden wie einer erhöhten Miktionsfrequenz, übermässigem Harndrang, Nykturie oder abgeschwächtem Harnstrahl. Zur Behandlung sind 5-alpha-Reduktase-Hemmer und Alpha-1-Rezeptor-Antagonisten zugelassen. Alphablocker bewirken eine Entspannung der glatten Muskulatur in der Prostata und verbessern so die Harnflussrate (1). Nicht spezifische Alphablocker wie Doxazosin (Cardura® CR, Generika) und Terazosin (Hytrin BPH®) binden an alle Alpha-1-Rezeptor-Subtypen (alpha1A, alpha1B, alpha1D). Diese Substanzen werden bei benigner Prostatahyperplasie, aber auch als Antihypertensiva angewendet. Um unerwünschte hypotoniebedingte Ereignisse zu vermeiden, ist zu Behandlungsbeginn eine Dosistitration über 1 bis 2 Wochen erforderlich.
Mittlerweile erhalten Männer mit BPH-assoziierten Harnwegsbeschwerden meist prostataspezifische Alphablocker wie Alfuzosin (Xatral®, Generika), Tamsulosin (Pradif T®, Generika) oder Silodosin (nicht im AK der Schweiz; USA: Rapaflo®, EU: Urorec®). Hier ist keine Dosistitration erforderlich, da diese Substanzen aufgrund des verminderten Alpha1B-Antagonismus eine weniger ausgeprägte Blutdrucksenkung bewirken. Allerdings sind auch prostataspezifische Alphablocker mit Schwindel und Hypotonie und daher möglicherweise mit einem erhöhten Sturzrisiko verbunden. In einer retrospektiven Kohortenstudie untersuchten Blayne Welk von der University of Western Ontario (Kanada) und seine Arbeitsgruppe das Sturz- und Frakturrisiko bei Männern ab 66 Jahren in einem Zeitraum von 90 Tagen nach Behandlungsbeginn mit einem prostataspezifischen Alphablocker.
MERKSÄTZE
O Prostataspezifische Alphablocker bewirken eine Entspannung der glatten Prostatamuskulatur, erhöhen den Harnfluss und verbessern das Wasserlassen.
O Zu den Nebenwirkungen dieser Substanzen gehören Schwindel und Hypotonie.
O Prostataspezifische Alphablocker erhöhen bei Behandlungsbeginn geringfügig das Risiko für Stürze, Frakturen und Kopfverletzungen.
Ergebnisse
Zunächst ermittelten die Wissenschaftler aus Verwaltungsdaten der Provinz Ontario die Daten von 147 084 männlichen Patienten, die zwischen Juni und Dezember 2013 erstmals einen prostataspezifischen Alphablocker erhalten hatten. Anschliessend stellten sie eine Kontrollgruppe aus ebenfalls 147 084 Männern mit vergleichbaren Eigenschaften zusammen, die nicht mit dieser Substanzklasse behandelt wurden. Das durchschnittliche Alter der Patienten lag bei 75 Jahren (Interquartilbereich: 70–80 Jahre). Am häufigsten kam Tamsulosin (n = 123 537; 84%) zur Anwendung. Alfuzosin (n = 20 827;
14%) und Silodosin (n = 2720; 2%) wurden wesentlich seltener verschrieben. Bei Männern, die einen Alphablocker erhalten hatten, zeigte sich im Vergleich zur Kontrollgruppe ein signifikant höheres Risiko für eine sturzbedingte Hospitalisierung. Die Odds Ratio (OR) betrug 1,14 (95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,07–1,21). Das absolute Risiko hatte um 0,17 Prozent (0,08–0,25%) zugenommen. Das Frakturrisiko war unter den Alphablockern ebenfalls signifikant höher als bei den Vergleichspatienten (OR: 1,16; 1,04–1,29). Die Zunahme des absoluten Frakturrisikos betrug 0,06 Prozent (0,02–0,11%). Die meisten Frakturen (80%) standen in Zusammenhang mit einem Sturz. Auch hypotoniebedingte Notfälle (OR: 1,80; 1,59–2,03) oder Kopfverletzungen (OR: 1,15; 1,04–1,27) wurden bei den mit Alphablockern behandelten Männern signifikant häufiger beobachtet als in der Kontrollgruppe.
Diskussion
In ihrer Datenanalyse beobachteten Welk und sein Team eine geringe, aber signifikante Zunahme des Risikos für Stürze, Frakturen und Kopfverletzungen. Bei älteren Patienten halten sie auch dieses geringfügig erhöhte Risiko für bedeutsam, denn gemäss Schätzungen ist eine sturzbedingte Hospitalisierung bei ihnen innerhalb des ersten Folgejahres mit einer Mortalität von 50 Prozent verbunden. Das Sterblichkeitsrisiko infolge von Frakturen ist bei älteren Menschen ebenfalls erhöht. Als Stärke ihrer Studie erachten die Autoren die grosse Patientenkohorte. Zudem sind Observationsstudien ihrer Ansicht nach – im Gegensatz zu randomisierten Studien – sehr gut zur Evaluierung seltener, aber schwerer Nebenwirkungen geeignet. Da hier auch Patienten vertreten sind, die aus randomisierten Studien meist ausgeschlossen werden, kann das tatsächliche Risiko der Alphablocker im klinischen Alltag besser erfasst werden. Allerdings wurden in der Datenauswertung nur ältere Männer ab 66 Jahren berücksichtigt, von denen die meisten Tamsulosin erhalten hatten. Somit sind die Ergebnisse möglicherweise nicht auf jüngere Männer oder Personen übertragbar, die mit Alfuzosin oder Silodosin behandelt werden.
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STUDIE REFERIERT
Zur Vermeidung hypotoniebedingter Ereignisse empfehlen die Autoren eine abendliche Einnahme der Alphablocker. Des Weiteren sollten Autofahren und potenziell gefährliche Aktivitäten bei Behandlungsbeginn vermieden werden.
Kommentar
Im Editorial gehen Timothy Wilt und Kristine Ensrud vom Center for Chronic Disease Outcomes Research in Minneapolis (USA) der Frage nach, wie sich die Ergebnisse der Datenauswertung in eine bessere Patientenversorgung umsetzen lassen (2). Meist bestehen die Behandlungsziele darin, die Symptome zu lindern, die klinische Progression aufzuhalten und eine akute Harnretention oder die Notwendigkeit chirurgischer Eingriffe zu verhindern. Bei der Auswahl geeigneter Medikamente ist zu beachten, dass Alphablocker zwar die Beschwerden lindern, die Progression jedoch nicht aufhalten. Im Gegensatz dazu verlangsamen 5-alphaReduktase-Hemmer das Fortschreiten der BPH, verbessern aber nicht die Symptomatik.
Welks Empfehlungen zur Einnahme der Alphablocker halten die Kommentatoren für nicht hilfreich, da mit der abendlichen Applikation die Anzahl der hypotoniebedingten Stürze beim nächtlichen Toilettengang erfahrungsgemäss nicht verringert werden kann. Eine Vermeidung des Autofahrens über einen Zeitraum von 90 Tagen erscheint ihnen in vielen Fällen als nicht realistisch. Zur Verbesserung der Versorgung älterer Männer mit BPH-bedingten Harnwegsbeschwerden sollten Ärzte ihrer Ansicht nach vor allem Komorbiditäten behandeln und Medikationen verändern, die zu den Harnwegsbeschwerden beitragen. Des Weiteren können Lebensstilmodifizierungen wie Einschränkungen des Kaffee- und Alkoholkonsums empfohlen werden. Für Patienten, die trotz dieser Massnahmen unter beträchtlichen Symptomen leiden, kann eine Behandlung mit Alphablockern erwogen werden, sofern der Nutzen die Risiken überwiegt. Bei rascher Progression der Symptomatik kann ein 5-alpha-Reduktase-Hemmer zugefügt werden.
Insgesamt halten Wilt und Ensrud das
Studienergebnis der kurzfristigen Zu-
nahme des Risikos für Stürze, Fraktu-
ren und Kopfverletzungen für relevant
und realistisch. Ob dieses Risiko auch
über einen längeren Behandlungszeit-
raum bestehen bleibt, sollte ihrer Mei-
nung nach in weiteren Studien geklärt
werden.
O
Petra Stölting
Quellen: 1. Welk B et al.: The risk of fall and fracture with the
initiation of a prostate-selective α antagonist: a population based cohort study. BMJ 2015; 351: h5398. 2. Wilt TJ, Ensrud KE: Balancing the benefits and harms of drug treatments for older men with lower urinary tract symptoms. BMJ 2015; 351: h5608.
Interessenkonflikte: Zu 1.: 1 der 7 Autoren hat Forschungsgelder von Astellas erhalten, ein weiterer ist als Berater für Amgen tätig. Zu 2.: Wilt erstellt im Auftrag der US Agency for Healthcare Research and Qualitity (AHRQ) einen systematischen Review zu neuen pharmakologischen Interventionen bei BPH; Ensrud war an einer von Merck Sharpe and Dohme finanzierten Phase-III-Studie zu Osteoporosemedikamenten bei postmenopausalen Frauen beteiligt.
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