Transkript
FORTBILDUNG
Prostatakarzinome richtig einschätzen
Das Ende von Überdiagnostik und Übertherapie ist absehbar
Die Diskussionen über Sinn und Unsinn der PSA-Bestimmungen liegen hinter uns. Die Spreu lässt sich vom Weizen trennen, indem wir immer klarer erkennen, welche Prostatakarzinompatienten von einer kurativen Therapie langfristig profitieren. Entscheidend dazu beigetragen hat die multiparametrische Magnetresonanztomografie (mpMRI) der Prostata.
Jean-Luc Fehr
Abbildung 1: Negative Selektion durch TRUS-Biopsie bei einem Patienten mit PSA 4,2 ng/ml und Prostatahyperplasie; die TRUS-Biopsie liefert 3-mm-Infiltrat eines Karzinoms Gleason 3 + 3 = 6 in 1 von 12 Stanzen; kein signifikanter Tumor vorhanden, aber Diagnose insignifikanter Tumoren (grün).
Die Prostatakarzinomprävalenz ist sehr hoch, jedoch erkranken nur 8 Prozent dieser Männer ernsthaft, das heisst an einem signifikanten Prostatakarzinom (PCA). Trotzdem ist das Prostatakarzinom die zweithäufigste Tumortodesursache der Männer. Nur Männer mit einem signifikanten Prostatakarzinom profitieren von einer kurativen Therapie. Entscheidend sind deshalb die Selektionskriterien für eine weiterführende Diagnostik und in zweiter Linie die Tumorselektionskriterien für eine kurative Therapie (Kasten). Ziel einer guten Selektion ist, möglichst wenig insignifikante Tumoren (Gleason 6 und kleinvolumige Gleason 7; Low-risk-Tumoren) zu diagnostizieren respektive zu therapieren, dafür die Rate der Detektion der signifikanten Tumoren (Gleason 7 und höher; Intermediate/High-risk-Tumoren) zu erhöhen.
MERKSÄTZE
O Die transrektale, ultraschallgeführte TRUS-Biopsie, welche bei erhöhten PSA-Werten empfohlen wird, kann sowohl relevante Prostatakarzinomherde verfehlen als auch zu einer Übertherapie aufgrund irrelevanter Befunde führen.
O Die multiparametrische Magnetresonanztomografie (mpMRI) der Prostata erleichtert die Lokalisation und den Nachweis eines Prostatakarzinoms, und sie ermöglicht eine gezielte Biopsie.
O Wir befinden uns gegenwärtig in einer Übergangsphase, da die mpMRI-Technologie erst an wenigen Zentren zuverlässig und mit genügender Erfahrung angeboten werden kann.
TRUS-Biopsie
MRI-gezielte Biopsie
Abbildung 2: TRUS-Biopsie (links) versus gezielte MRI-Biopsie (rechts); rot: signifikanter Tumor; grün: insignifikante Tumoren; mit der TRUS verpasst man das Karzinom, typischerweise geschieht dies bei anterior gelegenen Karzinomen.
Überdiagnostik und Übertherapie
Die PSA-Bestimmung ist eine einfache und kostengünstige sowie für den Patienten unbelastende Massnahme. Hingegen ist die Aussagekraft des Wertes häufig ungenügend; diese wird besser, wenn man auf einige Werte im Verlauf zurückblicken kann. Hauptproblem der PSA-Wert-Diskussionen der letzten Jahre war nicht der Laborwert an und für sich, sondern die daraus folgende Massnahme einer transrektalen, ultraschallgeführten Mehrfachbiopsie der Prostata (TRUS-Biopsie) bei Werten über 3 oder 4 ng/ml. Einerseits werden damit die in der Prostata anterior gelegenen Tumoren verfehlt, andererseits werden per Zufall («Schrotflinte») insignifikante Tumorherde (Gleason 6) nachgewiesen (Abbildung 1 und 2), was in der Folge zu einer Übertherapie führt. Diese Form der Übertherapie wurde in den letzten zehn Jahren durch die «Active Surveillance Strategy» (aktive Nachsorge mit der Möglichkeit einer späteren kurativen Therapie im Falle eines Krankheitsprogresses) gemildert. Die kalkulierte Rate der Übertherapie wird in der Studie von Loeb et al. mit 5 bis 46 Prozent beziffert (1).
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FORTBILDUNG
Kasten:
Selektionskriterien
Patientenselektionskriterien für eine Diagnostik im Hinblick auf eine kurative Therapie O Lebenserwartung von mehr als 10 Jahren O keine belastenden Komorbiditäten O bis 75 Jahre (cave: biologisches Alter entscheidend!)
Tumorselektionskriterien für eine kurative Therapie O Gleason-Score 7 und höher
Neu: MRI-Selektionskriterien für gezielte Biopsie O pathologische Herdbefunde, nach PI-RADS* klassifiziert
(Stadium 1–5) – 1 bis 2: signifikantes Karzinom unwahrscheinlich (keine Biopsie) – 3: leicht bis mässiggradig suspekter Herdbefund – 4: karzinomverdächtiger Herdbefund – 5: dringend karzinomverdächtiger Herdbefund O Zusatzinformation und Kriterien für kurative Therapie: – Tumorvolumen – Tumorlokalisation – Einzelherd versus multilokuläre Herdbefunde – Prostatakapselinfiltration, Samenblaseninfiltration – Lymphknotenstatus
* PI-RADS: Prostate Imaging Reporting and Data System; eine Klassifikation verdächtiger Prostatabefunde im MRI von 1 (klinisch signifikantes Karzinom sehr unwahrscheinlich) bis 5 (klinisch signifikantes Karzinom sehr wahrscheinlich)
Als mpMRI wird eine Kombination morphologischer Sequenzen und funktioneller Bildgebungstechniken definiert, bei einer Feldstärke von 3 Tesla und einer endorektalen Spule. Mit der T2-gewichteten Darstellung wird die Morphologie der Prostata dargestellt. Funktionelle Untersuchungen umfassen die diffusionsgewichtete Bildgebung (DWI) und die dynamische Kontrastmittelverstärkung (DCE), während die MR-Spektroskopie aufgrund der Datenanalyse in den meisten Fällen keine wesentliche Aussagekraft hat und darum in den Beurteilungsklassifikationen (PI-RADS: Prostate Imaging Reporting and Data System) nicht mehr berücksichtigt wird (Abbildung 3). Frühere Befürchtungen, das mpMRI könnte zur vermehrten Diagnostik insignifikanter Tumoren führen, haben sich nicht bewahrheitet; im Gegenteil lassen sich die insignifikanten Tumoren in der Prostata bildmässig kaum darstellen. Dies ist der Grund, dass mit dem mpMRI eine positive Selektion (verpasst die meisten Low-risk-Tumoren) bewirkt wird.
Von der Mehrfachbiopsie (TRUS) zur gezielten Biopsie
Beim Nachweis eines pathologischen Herdbefunds kann dieser gezielt biopsiert werden (Abbildung 4). Dies erfolgt entweder durch direkte Punktion im MRI («in-bore») oder durch eine Bildfusion des MRI mit dem transrektalen Ultraschall der Prostata (z.B. Artemis- oder Koëlis-System); Letzteres verhindert eine erneute MRI-Untersuchung. Die MRI-gestützte Biopsie vermindert die Diagnose eines Low-risk-Prostatakarzinoms um 89,4 Prozent gegenüber der TRUS-Biopsie. Die gezielte Biopsie erhöht die Diagnose eines Intermediate- und High-risk-Prostatakarzinoms um 17,7 Prozent gegenüber der TRUS-Biopsie (2).
Primäre Diagnostik mit dem mpMRI
(vor einer bioptischen Abklärung)
Aufgrund des günstigen Selektionseffekts durch das mpMRI drängt sich diese Methode für die Primärdiagnostik auf. Bei einem pathologischen Tastbefund der Prostata oder einer pathologischen PSA-Konstellation kann als erste Massnahme ein mpMRI durchgeführt werden anstatt einer Mehrfachbiopsie (TRUS-Biopsie). Falls im mpMRI ein suspekter Herd nachgewiesen wird, kann dieser in der Folge gezielt punktiert werden. Der diagnostische Einsatz des mpMRI als erste Massnahme verhindert die Durchführung einer Prostatabiopsie in 51 Prozent der Fälle (2). Viele Männer haben aufgrund ihrer Prostatahyperplasie einen pathologischen PSA-Wert und weisen im mpMRI keinerlei Anzeichen eines relevanten pathologischen Herdbefunds auf; all diesen Männern kann eine Biopsie erspart werden.
Abbildung 3: mpMRI der Prostata; A: T2-Gewichtung; B: DWI (diffusionsgewichtete Bildgebung, Darstellung der Brownschen Molekularbewegung); C: ADC (apperent diffusion coefficient; Darstellung des Fliessverhaltens); D: DCE (dynamische Kontrastmittelverstärkung)
Multiparametrische MRI der Prostata (mpMRI) und gezielte Biopsie Neu kommt ein entscheidendes Selektionskriterium ins Spiel, das multiparametrische MRI der Prostata (mpMRI) (Kasten).
Sechs Jahre Erfahrung mit mpMRI
in der Primärdiagnostik
Im Zentrum für Urologie Zürich (Klinik Hirslanden) wurde das mpMRI im Jahre 2007 standardisiert; die hohe Korrelation zwischen Untersuchung und Prostatektomiepräparaten führte nachfolgend zur raschen Etablierung der MRI-gesteuerten Biopsie. Diese wurde vorerst lediglich bei Patienten eingesetzt, welche bereits negative TRUS-Biopsien hatten. Gegenüber der TRUS-Biopsie konnte eine deutlich höhere Detektionsrate nachgewiesen werden, und dies mit gesamthaft deutlich weniger Biopsien. Aufgrund der günstigen
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FORTBILDUNG
Abbildung 4: Beim Nachweis eines pathologischen Herdbefunds im mpMRI kann dieser gezielt biopsiert werden.
Abbildung 5: Von der aktiven Überwachung «Active Surveillance» zur MRI-Überwachung «MRI-Surveillance»
Tabelle:
Erfahrungen mit mpMRI
Epstein (< 0,2 ml, kein Gleason 4 oder 5) Stamey (< 0,5 ml, kein Gleason 4 oder 5) Wolters (< 2,5 ml, kein Gleason 4 oder 5) AS-Patienten, radikal prostatektomiert eigene Zahlen n = 170 insignifikante Tumoren n = 0 (0%) n = 0 (0%) n = 1 (0,59%) n = 0 (0%) Martini-Klinik (3) n = 913 insignifikante Tumoren 1% 2,8% 8,8% 14,7% Resultate wurde seit 2010 das mpMRI in der Primärdiagnostik eingesetzt (erste Massnahme bei pathologischem PSA und/oder pathologischem Tastbefund). Unsere Studie über radikal prostatektomierte Patienten der letzten beiden Jahre, welche ausschliesslich durch das mpMRI in der Primärdiagnostik detektiert wurden (n = 170), ergab in keinem Fall ein insignifikantes Karzinom im Prostatapräparat (0%) (Tabelle). Die Signifikanz der Karzinome wurde analog zu den Epstein- und Stamey-Kriterien analysiert. In dieser Serie konnte kein Patient für eine «Active Surveillance» rekrutiert werden, da die nicht relevanten Tumoren im mpMRI mehrheitlich nicht diagnostiziert werden. Zusammenfassend wird einerseits eine Übertherapie verhindert, andererseits wird vielen Patienten eine «Active Surveillance» erspart. Die Tabelle zeigt unsere Resultate im Vergleich zur MartiniKlinik in Hamburg (3). Mit den höchsten Fallzahlen europaweit und dokumentierter Behandlungsqualität gilt diese Klinik als unbestrittene Referenzklinik. Allerdings ist die Zahl operierter Patienten aus dem «Active Surveillance»-Kollektiv nicht unbedeutend. Von der «Active Surveillance» zur «MRI-Surveillance» Ein Patient in der «Active Surveillance» hat ein nachgewiesenes niedriggradiges Karzinom und ist wegen der Erkrankung und der Nachsorge mit TRUS-Biopsien in seiner Lebensqualität entsprechend belastet. Die psychische Belastung führt bei den Patienten gelegentlich zum Wunsch einer kurativen Therapie, obschon lediglich ein nicht signifikantes Karzinom vorliegt. Die «MRI-Surveillance» wird alle zwei Jahre durchgeführt, sofern die folgenden Kriterien zutreffen: O bei steigendem PSA-Wert trotz primär negativem MRI O bei pathologischem Herdbefund im MRI und negativer gezielter Biopsie O mpMRI statt TRUS-Biopsie in der «Active Surveillance». Fokale Therapie Bei einer fokalen Therapie wird lediglich der maligne Hauptbefund an der Prostata behandelt (Indexläsion) in der Hoffnung auf weniger therapiespezifische Nebenwirkungen. Eine fokale Therapie ist lediglich bei Intermediate-risk-Tumoren angezeigt (Gleason 7; Low-risk-Tumoren brauchen keine Therapie, sondern Überwachung; High-risk-Tumoren brauchen ein kuratives, langfristig gesichertes Therapieverfahren). Fokale Energiequellen sind: O HIFU (hochintensiver fokussierter Ultraschall) O Cyberknife (stereotaktische Radiotherapie: Punktbestrahlung) O Kryoablation O gezielte intraprostatische Laserablation O Nanoknife (Elektroporose). Die fokalen Therapie hat jedoch auch Nachteile: O keine gesicherten Langzeitergebnisse – onkologischer Verlauf? kurativ? – funktionelle Resultate (Kontinenz, Potenz)? O Das Prostatakarzinom ist in 80 Prozent der Fälle multilokulär. Derzeitiger Stand Wegen des ungünstigen Selektionseffekts haben wir in unserem Zentrum die Mehrfach-TRUS-Prostatabiopsie vor fünf Jahren durch die gezielte Biopsie ersetzt. Wir befinden uns ge- 60 ARS MEDICI 2 I 2016 FORTBILDUNG genwärtig in einer Übergangsphase, da die mpMRI-Technologie erst an wenigen Zentren zuverlässig und mit genügender Erfahrung angeboten werden kann. Entsprechend ist die TRUS-Biopsie in den deutschen und europäischen Leitlinien noch als primäre Diagnostik bei pathologischem PSA oder pathologischem Tastbefund empfohlen. Ein grossse Aufgabe steht bevor, die Qualität des Prostata-MRI flächendeckend zu etablieren. Aufgrund der Komplexität dieser Untersuchung werden, analog zur Mammografie, zertifizierte Zentren entstehen. Schlussfolgerungen und Ausblick Das mpMRI … … erleichtert die Lokalisation und den Nachweis eines Pro- statakarzinoms. … ist die Voraussetzung für eine gezielte Biopsie. … erlaubt eine zuverlässigere Führung und Information des Patienten. … ermöglicht die Planung im Hinblick auf eine Da-Vinci- Prostatektomie (Landkarte), indem es die bevorzugte Lokalisation der Schnellschnittuntersuchung zeigt und die Planung des Ausmasses einer Gefässnervenschonung ermöglicht. … bietet zusätzliche Sicherheit für Patienten in der «Active Surveillance»; bei uns ersetzt das mpMRI die Re-Biopsie in der «Active Surveillance» weitgehend «MRI-Surveillance». … dient als MRI-Verlaufskontrolle bei negativer Biopsie trotz pathologischer PSA-Konstellation, suspektem Tastbefund, pathologischem MRI-Herdbefund (PI-RADS 3-5). Die MRI-gesteuerte Biopsie … … erhöht die Detektionsrate gegenüber der TRUS-Biopsie. … führt zu weniger Probeentnahmen gegenüber TRUS- Biopsien. Cave! Auch mittels mpMRI der Prostata können relevante Karzinome verpasst werden. Gemäss neuester Literatur werden damit 3 bis 8 Prozent der Intermediate-/High-riskTumoren verpasst. Dies entspricht einem negativ prädiktiven Wert (NPV) von 92 bis 97 Prozent. Das mpMRI ist ein noch junges Verfahren und hat dementsprechend ein grosses Entwicklungspotenzial. Somit ist zu erwarten, dass sich der negative prädiktive Wert in den nächsten Jahren noch weiter verbessern wird; zusätzlich werden in Zukunft vermehrt Biomarker im Sinne genomischer Gewebsanalysen Hinweise auf die Signifikanz und Prognose eines Prostatakarzinoms geben können. Die dargestellte Entwicklung in der Prostatakarzinomdiagnostik ist ganz im Sinne der «Smarter Medicine»-Kampagne der SGIM zu sehen (4). Weniger Medizin kann mehr sein. Umgesetzt auf die Diagnostik des Prostatakarzinom heisst dies: differenzierte PSA-Bestimmung und multiparametrisches MRI in der Primärdiagnostik anstatt einer MehrfachTRUS-Prostatabiopsie. Der Effekt: O 50 Prozent weniger Biopsien O höhere Detektionsrate für relevante Tumoren O keine Übertherapie O kleinere Kollektive von Patienten in «Active Surveillance». Offen bleibt die Frage, ob wir uns nun weg von einer Über- therapie, aber hin zu einer Untertherapie bewegen. O Dr. med. Jean-Luc Fehr Zentrum für Urologie Klinik Hirslanden Witellikerstrasse 40 8032 Zürich E-Mail: jean-luc.fehr@hirslanden.ch Interessenkonflikte: keine deklariert. Die mpMRI der Prostata in der Primärdiagnostik … … führt zu einer 50-prozentigen Reduktion von Prostata- biopsien. … verhindert eine Übertherapie durch positive Selektion (die meisten Low-risk-Tumoren sind im MRI nicht diagnostizierbar). … vermindert die Anzahl von Patienten in einer «Active Surveillance». Literatur: 1. Loeb S et al.: Overdiagnosis and overtreatment of prostate cancer. Eur Urol 2014; 65(6): 1046–1055. 2. Pokorny MR et al.: Prospective study of diagnostic accuracy comparing prostata can- cer detection by transrectal ultrasound-guided biopsy versus magnetic resonance (MR) imaging with subsequent MR-guided biopsy in men without previous prostate biopsis. Eur Urol 2014; 66(1): 22–29. 3. Huland H, Graefen M: Changing trends in surgical management of prostate cancer: the end of overtreatment? Eur Urol 2015; 68(2): 175–178. 4. Schweizerische Ärztezeitung 2014; 95: 20. ARS MEDICI 2 I 2016 61