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BERICHT
Was tun bei chronischen Schmerzen?
Medikamentöse Schmerztherapie ist individuell und bedarf regelmässiger Kontrolle und Anpassung
Die Mechanismen chronischer, nicht tumorbedingter Schmerzen sind komplex, und die Behandlung gestaltet sich oft schwierig. «Es gibt für diese Patienten nicht immer genügend gute Schmerzmedikamente», sagte Monika Jaquenod-Linder, Wirbelsäulen- und Schmerz-Clinic Zürich, Klinik Hirslanden. Die Schmerzspezialistin skizzierte einige wichtige Grundsätze der medikamentösen Schmerzbehandlung.
Uwe Beise
«It’s a human right for pain relief!» Diese Forderung hat vor Jahren die Internationale Schmerzgesellschaft formuliert, doch ganz eingelöst werden konnte sie in der Praxis nicht. Bei Patienten mit chronischen Schmerzen stösst die medikamentöse Therapie immer wieder an ihre Grenzen. «Es fehlen beispielsweise Medikamente, die das Schmerzgedächtnis modulieren oder neuropa-
thische Schmerzen gut behandeln können», sagte Jaquenod-Linder, und daran werde sich in absehbarer Zukunft auch nichts ändern. Inzwischen haben die Schmerzgesellschaften der Realität Rechnung getragen. Es gibt ein Menschenrecht auf Schmerzbehandlung, heisst es auch heute, eine Garantie für Schmerzfreiheit gibt es jedoch nicht.
MERKSÄTZE
O Schmerzpatienten sollen – auch bei Restschmerzen – frühzeitig ihre Alltagsaktivitäten wieder aufnehmen (auch bei verbliebenem Schmerz), um Dekonditionierung zu verhindern.
O Bei chronischem Schmerz sind immer die langfristigen Auswirkungen der medikamentösen Therapie zu bedenken. Regelmässige Kontrollen und bei Bedarf Anpassungen sind notwendig.
O Bei neuropathischen Schmerzen sind Antidepressiva und Antiepileptika als Adjuvanzien indiziert.
O Ohne gute Gründe sollte bei nicht malignem Schmerz eine Morphinäquivalentdosis von 100 mg/Tag nicht überschritten werden.
O Kurz wirksame Opioidformen sind selten indiziert und wegen Toleranz-/Suchtentwicklung gefährlich.
O Schmerzmedikamente allein genügen nicht – die Behandlung ist ganzheitlich. Entscheidende Bedeutung hat die Aktivierung des Patienten.
O Das Führen von Aktivitätstagebüchern ist sinnvoller als das von Schmerztagebüchern.
Die Strategie der medikamentösen Schmerztherapie richtet sich grundsätzlich nach der Art des Schmerzes. Patienten mit akuten Schmerzen müssten «offensiv» behandelt werden, sagte Jaquenod-Linder. Es komme darauf an, die Patienten rasch in den Alltag zurückzuführen und danach die Schmerzmedikation wieder abzusetzen. Bei Patienten mit Tumorschmerzen sei das Ziel die Schmerzfreiheit, was fast immer gelinge. Im Terminalstadium gibt es das Problem der Toleranzentwicklung gegenüber den Opioiden nicht mehr, häufig werden dort die potenten kurz wirksamen Formen der Opioide eingesetzt. Dagegen kann sich die Behandlung bei Patienten mit chronischen, nicht malignen Schmerzen schwierig gestalten. Angesichts der biopsychosozialen Dimension des chronischen Schmerzleidens (Abbildung) liegt es auf der Hand, dass Schmerzfreiheit allein mit Schmerzmitteln nicht zu erzielen ist. Patienten und Ärzte müssten damit umgehen lernen, dass der Behandlung gewisse Grenzen gesetzt seien, sagte JaquenodLinder.
«Dekonditionierung ist der Feind
der Schmerztherapie»
Bei Schmerzpatienten geht es zunächst darum, neuropathische von nozizeptiven Schmerzformen zu unterscheiden. Nicht selten liegen gemischte Formen vor. Wichtiges Ziel ist es, dass die Patienten früh ihre Alltagsaktivitäten wieder aufnehmen, um eine Chronifizierung zu verhindern. Auch bei noch bestehenden Schmerzen wird also körperliche, soziale und berufliche Aktivierung angestrebt. «Dekonditionierung ist der Hauptfeind der Verbesserung», sagte Jaquenod-Linder. Analgetika sollten bei chronischem, nicht malignem Schmerz an die Tages-
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SCHMERZ
Abbildung: Die biopsychosoziale Dimension chronischer Schmerzen
(nach M. Jaquenod-Linder; Grafik Rosenfluh; Foto: ©Artem Furman – Fotolia.com)
struktur und die Lebensumstände des Patienten angepasst werden. Dabei ist eine Opioiddurchbruchmedikation anders als bei Tumorschmerzen meist nicht indiziert. Jaquenod-Linder betonte, dass eine Schmerzlinderung insbesondere in der Nacht gewährleistet sein müsse: «Wenn während der Nacht nicht geschlafen wird, hat das Auswirkungen auf den Tag, an dem dann Schmerzen verstärkt wahrgenommen werden.» Die medikamentöse Steuerung, die sich an den individuellen Schmerzphasen orientiert, gelingt laut Jaquenod-Linder mit Retardpräparaten viel besser als etwa mit einem Opioidpflaster – anders also als bei Tumorpatienten, wo man in der Terminalphase keinen Opiatentzug riskieren will.
Aktivitätstagebücher sind besser
als Schmerztagebücher
Entscheidend für den Patienten mit chronischen Schmerzen sind positive «Inputs» im Alltagsleben, die den Patienten vom Schmerzerleben wegführen. Die fortwährende Fokussierung auf den Schmerz «wird im Gehirn breit abgelegt», sagte Jaquenod-Linder. Aus diesem Grund sprach sich die Schmerzspezialistin auch gegen das Führen von Schmerztagebüchern aus, weil das die Fixierung auf den Schmerz begünstige. Stattdessen seien Aktivitätstagebücher viel sinnvoller.
Der Nutzen von Schmerztagebüchern wird auch dadurch limitiert, dass sich aus ihnen für den Therapeuten nicht immer eindeutige Konsequenzen für die medikamentöse Therapie ableiten lassen. «Schmerztagebücher sind dann sinnvoll, wenn gute weitere Therapieoptionen bestehen», sagte JaquenodLinder. Doch bei einer Opioidtherapie zum Beispiel könne man bei einer Schmerzverstärkung nicht immer sofort die Opioide erhöhen, sonst erreiche man langfristig zu hohe Dosen. «Wir wollen ja die Opioiddosis plafonieren und nicht über die nächsten Jahre dauernd steigern. Sonst haben wir irgendwann keine Mittel mehr in der Hand.»
Nebenwirkungen limitieren
den Schmerzmittelgebrauch
bei chronischen Schmerzen
Die Therapie bei chronischen Schmerzen hat damit zu kämpfen, dass praktisch alle Analgetika bei dauernder Einnahme nur eingeschränkt verträglich sind, weshalb immer individuelle Lösungen gefragt sind und die Medikation den Umständen angepasst werden muss: O NSAR sind wegen ihrer entzündungs-
hemmenden Eigenschaften teilweise besser wirksam als Opioide, haben aber bekanntlich ein toxisches Nebenwirkungsprofil. Während die
Verträglichkeit bei kurzzeitigem Einsatz akzeptabel ist, ist die Langzeiteinnahme problematisch und bedarf einer kritischen individuellen Abwägung von Nutzen und Risiken. Grosse Vorsicht ist bei Patienten mit Magen-Darm-, Nieren- und Herzkrankheiten angebracht. Überdosierungen sind unbedingt zu vermeiden. Eine Möglichkeit der Gefahrenbegrenzung sei, regelmässige Therapiepausen einzulegen, also beispielsweise NSAR nur 2- bis 3-mal pro Woche einzunehmen. Der COX-1Hemmer Naproxen (Proxen®) und der COX-2-Hemmer Etoricoxib (Arcoxia®) haben laut JaquenodLinder gewisse Vorteile. Naproxen ist weniger kardiotoxisch als andere konventionelle NSAR, und Etoricoxib hat Vorzüge hinsichtlich der Magen-Darm-Verträglichkeit. O Auch Paracetamol ist bei längerfristigem Einsatz nicht unproblematisch: Über einer Tagesdosis von 2 g kann es langfristig zu ähnlichen Nebenwirkungen kommen wie bei NSAR, ab 4 g ist Paracetamol potenziell lebertoxisch. Eine Komedikation mit NSAR sollte gemäss Pharmakologen vermieden werden, doch in der Klinik sehe man immer wieder eine bessere Wirkung mit der Kombination. O Metamizol ist ein Schmerzmedikament, das immer häufiger verschrieben wird. Allein zwischen 2000 und 2010 stieg der Verbrauch des Pyrazolonderivats um das Achtfache. In seltenen Fällen kann Metamizol aber zu Agranulozytose führen. In der Schweiz wurden beispielsweise 3 Fälle im Jahr 2009 registriert. So gilt auch für Metamizol das Abwägen zwischen Vor- und Nachteilen.
Auf eine Frage aus dem Auditorium stellte Jaquenod-Linder klar, dass Benzodiazepine bei Schmerzpatienten meist keinen Platz haben. Zum einen sind sie keine Analgetika, zum anderen spricht die grosse Suchtgefahr generell gegen einen längerfristigen Einsatz. «Benzodiazepinentzüge sind viel schwieriger als Opiatentzüge», so die Schmerzexpertin. Trotzdem mache sie hin und wieder bei alten Patienten in bestimmten Situationen eine Ausnahme, da durch die beruhigende Wirkung der Benzodiazepine auch die Schmerzwahrnehmung nachlasse.
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Tabelle:
Antiepileptika bei neuropathischen Schmerzen
O Pregabalin (Lyrica®)
O Gabapentin (Neurotonin®)
O Oxcarbazepin (Trileptal®)
O Lamotrigin (Lamictal®)
O Topiramat (Topamax®)
Psychische Effekte:
O Lamotrigin: antidepressiv
O Carbamazepin/Oxcarbazin: O stimmungsstabilisierend
O Gabapentin/Pregabalin: anxiolytisch
Adjuvanzien bei neuropathischen Schmerzen Neuropathische Schmerzen, die auf Irritationen oder Schädigungen von Nerven beruhen, sind «schwierig zu behandeln» und selten gut mit konventionellen Schmerzmitteln einzustellen. Bei diesen Patienten sind Antidepressiva (Trizyklika, SRNI, SSRI) oder Antiepileptika (Tabelle) als Adjuvanzien indiziert, die Wahl des Medikaments erfolgt individuell. Als ein «gutes Medikament» bezeichnete Jaquenod-Linder das Antikonvulsivum Pregabalin. Ein Vorteil dieser Substanz sei, dass sie auch über anxiolytische Eigenschaften verfüge. Als eines der wenigen Medikamente verbessere Pregabalin zudem die Schlafarchitektur und fördere den Tiefschlaf, sodass sich auch die tiefe, autochtone Muskulatur nachts entspannen könne.
Pregabalin hat allerdings den Nachteil, dass es die Gewichtszunahme fördert. Darüber müsse der Patient aufgeklärt werden, und man müsse ihn motivieren, dieser Nebenwirkung durch ein angepasstes Essverhalten entgegenzuwirken. Gewichtszunahme erzeuge ein schlechtes Körpergefühl und erschwere die notwendige Aktivität. «Für den Patienten geht es darum, Muskeln aufzubauen. Nur ein kräftiger Muskel kann sich auch gut entspannen», sagte die Schmerzspezialistin. Auf einem ähnlichen Mechanismus beruht die Wirkung von Gabapentin. «Bei manchen wirkt Pregabalin besser, bei anderen Gabapentin», sagte Jaquenod-Linder. Die Medikamente müssten langsam aufdosiert werden. Bei sehr empfindlich reagierenden Patienten könne man beispielsweise mit einer Pregabalindosis von 25 mg über 4 Tage einsteigen, die übliche Anfangsdosis beträgt aber 50 mg. Jaquenod-Linder empfahl, alle 4 Tage die Dosis um 50 mg zu erhöhen, bei Nebenwirkungen müsse gewartet werden, bis diese abgeklungen seien. Anschliessend könne die Dosis weiter gesteigert werden – bis zur Zieldosis von 300 bis 600 mg. Erweist sich die Behandlung als unwirksam, sollte sie abgesetzt und ein anderes Präparat gewählt werden.
Opioide: Vorsicht bei kurz
wirksamen Präparaten
Die Angst vor Opioiden gehört der Vergangenheit an. Zwischen 2000 und 2010 ist der Opioidverbrauch in der Schweiz um das Vierfache angestiegen. Die Schweiz rangiert im Opiatverbrauch weltweit auf Platz 7. Das hat of-
fenbar einerseits mit mangelnden Alter-
nativen zu tun, andererseits auch
damit, dass etwa das Fentanylpflaster
(Durogesic®) und Oxycodon/ Naloxon
(Targin®) breit eingesetzt werden.
Jaquenod-Linder warnte vor dem un-
kritischen Einsatz der aus dem Blick-
winkel von Suchtmedizinern überwie-
gend gefährlichen Opioidtropfen bei
chronischem Schmerz: «Wer einmal
auf Tropfen eingestellt ist, lässt sich
kaum mehr auf ein retardiertes Opioid
umstellen.» Kurz wirksame Opioide
bergen eine hohe Suchtgefahr, die sich
aus der Pharmakokinetik ableitet. Je
schneller das Opiat an den Rezeptor ge-
langt, desto grösser ist das Suchtpoten-
zial. Die starke Toleranzentwicklung
hat zudem eine Dosissteigerung zur
Folge. Es gilt aber der Grundsatz: «Eine
Dosis über 100 mg Morphinäquivalent
pro Tag sollte nur mit guten Gründen
gegeben werden», sagte Jaquenod-Lin-
der. Schmerzspitzen müssten deshalb
von Patienten mit chronischen Schmer-
zen möglichst durch andere Massnah-
men bewältigt werden. Und: «Die Opiat-
therapie muss funktionelle Verbesse-
rungen ermöglichen und nicht nur den
Schmerz bekämpfen. Tut sie das nicht,
muss sie abgesetzt werden.»
Grundsätzlich sollte bei Patienten mit
chronischen Schmerzen gelegentlich
ein Versuch unternommen werden, die
Dosis auch wieder zu reduzieren. Das
bedürfe teilweise einer guten Motiva-
tion des Patienten.
O
Uwe Beise
Quelle: Workshop «Medikamentöse Schmerzbehandlung – Update 2015», beim Rheuma Top, 20. August 2015 in Pfäffikon.
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