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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Diabetologie
Stillen kann vor Diabetes schützen
Die Erkenntnis, dass Stillen die Mutter vor Diabetes schützen kann, wurde in einer erneuten Studie bestätigt, dieses Mal mit Frauen mit besonders hohem Diabetesrisiko (1). In der kürzlich publizierten USamerikanischen Studie untersuchte man Frauen mit Schwangerschaftsdiabetes, die vorwiegend Ethnien mit besonders hohem Diabetesrisiko angehörten (1). Wie bereits in früheren Studien zeigte sich, dass eine längere Stillzeit mit einem verminderten Diabetesrisiko post partum einhergeht. Die Autoren berichten von einer Verminderung des Diabetesrisikos in den zwei Jahren postpartum je nach Stilldauer: Im Vergleich mit einer Stilldauer von 0 bis 2 Monaten sank das Risiko für Diabetes um 45 Prozent, wenn 2 bis 5 Monate gestillt wurde, um 50 Prozent bei 5 bis 10 Monaten und um 57 Prozent bei über 10 Monate Stillen. Auch die Intensität des Stillens beeinflusste das Risiko; bei ausschliesslichem Stillen war der protektive Effekt deutlicher. Die Resultate dieser erneuten Studie seien insofern bedeutend, da man mit rund 1000 Teilnehmerinnen ein grösseres Kollektiv von Frauen mit Schwan-
gerschaftsdiabetes betrachtet habe als je zuvor und mögliche «confounder» besser kontrolliert worden seien als in den früheren Studien, so das Autorenteam um Dr. Erica Gunderson. Bereits vor gut zehn Jahren konnte man anhand der Daten der US-amerikanischen Nurses Health Study zeigen, dass das Diabetesrisiko bei Frauen umso geringer war, je länger sie stillten. Der Effekt war in den 15 Jahren nach Geburt und Stillzeit erkennbar, schien ab einer Stillzeit von 6 Monaten einzusetzen und mit der Zeit wieder zu verschwinden (2). In einer 2012 publizierten Studie aus Deutschland untersuchte man den Zusammenhang zwischen Stillen und Auftreten eines Typ-2-Diabetes post partum bei einem Mütterkollektiv mit besonders hohem Risiko, nämlich bei rund 300 Frauen, die einen Schwangerschaftsdiabetes entwickelt hatten (3). Das Follow-up dauerte bis zu 19 Jahre post partum. Innert 15 Jahren entwickelte gut 60 Prozent der Frauen einen Diabetes, insbesondere diejenigen, deren Schwangerschaftsdiabetes eine Insulinbehandlung
erfordert hatte; bei Letzteren entwickelten
90 Prozent innert 15 Jahren einen Diabetes,
und die mittlere diabetesfreie Zeit betrug
nur 2,5 Jahre post partum. Bei der Frage
nach einem protektiven Effekt des Stillens
wurden in dieser Studie die Frauen betrach-
tet, die keine Antikörper gegen Inselzellen
aufwiesen (Frauen mit solchen Antikörpern
entwickelten praktisch immer einen Diabe-
tes innert weniger Monate). Ein protektiver
Effekt des Stillens war in dieser Studie zu
erkennen, sofern mindestens 3 Monate lang
voll gestillt wurde.
Auf welchen physiologischen Mechanismen
der protektive Effekt des Stillens gegen Dia-
betes im Detail beruht, ist übrigens noch
nicht klar.
RBO/SMBO
1. Gunderson EP et al.: Lactation and progression to type 2 diabetes mellitus after gestational diabetes mellitus. A prospective cohort study. Ann Intern Med 2015; 15; 163(12): 889–898.
2. Stuebe AM etbal.: Duration of lactation and incidence of type 2 diabetes. JAMA 2005; 294: 2601–2610.
3. Ziegler AG et al.: Long-term protective effect of lactation on the development of type 2 diabetes in women with recent gestational diabetes mellitus. Diabetes 2012; 61: 3167–3171.
Gynäkologie
Kein Paroxetin im ersten Schwangerschaftstrimester
Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) gelten in der Schwangerschaft im Allgemeinen als relativ sichere Medikamente, obwohl bekannt ist, dass sie zu Anpassungsstörungen und weiteren Komplikationen beim Neugeborenen führen können. Die meisten Fachleute sind sich darin einig, dass man Antidepressiva bei Schwangeren trotzdem nicht reflexhaft absetzen sollte. Für Paroxetin ist bereits seit Jahren bekannt, dass es bei Einnahme in der Schwangerschaft mit einem erhöhten Missbildungsrisiko (Septumdefekte) einhergeht, dessen klinische Relevanz unterschiedlich beurteilt wird. Nach einer systematischen Sichtung der vorhandenen Literatur von 1966 bis 2015 kommt nun ein kanadisches Autorenteam um Dr. Anick Bérard zu dem Schluss, dass man Schwangeren bei leichter bis mittelschwerer Depression kein Pa-
roxetin und am besten gar keine SSRI geben sollte. Angesichts der Tatsache, dass der Nutzen von Antidepressiva und insbesondere der SSRI einschliesslich Paroxetin in der Schwangerschaft bestenfalls zweifelhaft sei, sei jeglicher damit verbundene Anstieg des Missbildungsrisikos zu hoch, so Bérard in einer Pressemitteilung anlässlich der Studienpublikation in der Zeitschrift «British Journal of Clinical Pharmacology». Vielmehr spreche die Risiko-Nutzen-Bilanz der Antidepressiva bei Frauen mit leichten bis mittelschweren depressiven Symptomen – was für 85 Prozent der Schwangeren mit Depressionen zutreffe – eher für andere Optionen wie Psychotherapie oder körperliches Training. Das Missbildungsrisiko durch Paroxetin im ersten Schwangerschaftstrimester wurde von den Autoren folgendermassen beziffert:
Im Vergleich mit keiner Exposition stieg das Risiko für jegliche grössere Missbildungen um 23 Prozent (Odds Ratio [OR]: 1,23; 95%Konfidenzinterfall [KI]: 1,10–1,38; n = 15 Studien). Für alle grösseren kardialen Missbildungen stieg es um 28 Prozent (OR 1,28; 95%-KI: 1,11–1,47; n = 18 Studien). Das Risiko für atriale Septumdefekte war mit Paroxetin doppelt so hoch als ohne (OR: 2,38; 95%-KI: 1,14–4,97; n = 4 Studien), ebenso für rechtsventrikuläre Missbildungen (OR: 2,29; 95%-KI: 1,06–4,93; n = 4 Studien).
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Bérard A et al.: The risk of major cardiac malformations associated with paroxetine use in the first trimester of pregnancy: A systematic review and meta-analysis. Brit J Clin Pharmacol 2016; DOI: 10.1111/bcp.12849
8 ARS MEDICI 1 I 2016
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Urologie
RückspiegelLeichte Blasenentzündung nur mit Ibuprofen behandeln?
In einer Studie, an der 42 Hausarztpraxen in Deutschland beteiligt waren, wurden 494 Frauen, die mit typischen Symptomen einer Blasenentzündung zum Arzt kamen, in zwei Gruppen randomisiert. Die Patientinnen in der ersten Gruppe erhielten eine Einmaldosis des Antibiotikums Fosfomycin (3 g), die Patientinnen in der zweiten Gruppe Ibuprofen (3 × 400 mg täglich für 3 Tage). In beiden Gruppen wurde die jeweils andere Medikation als Plazebo verabreicht, sodass weder Ärzte noch Patientinnen wussten, wer das Antibiotikum oder das Schmerzmittel erhielt. Falls die Symptome anhielten, wiederkehrten oder sich verschlechterten, wurde ein Antibiotikum verordnet. Primäre Endpunkte waren Antibiotikagebrauch in den Tagen 0 bis 28 sowie die Intensität der Symptome in den Tagen 0 bis 7. Die Frauen in der Ibuprofengruppe erhieltne weniger Antibiotika, hatten aber stärkere Beschwerden. Insgesamt wurden zwei Drittel der Ibuprofen-Patientinnen ohne Antibiotika-
therapie gesund. Bei fünf Frauen in der Schmerzmittelgruppe und einer Frau in der Antibiotikagruppe kam es zu einer Pyelonephritis; statistisch war dieser Unterschied jedoch nicht signifikant. Man müsse die Ergebnisse der Studie sorgfältig interpretieren, da sie möglicherweise nur für Frauen mit leichten bis mittelschweren Symptomen einer Blasenentzündung zuträfen, schreibt das Autorenteam im «British Medical Journal». Klar sei jedoch, dass «für sonst gesunde Frauen mit leichten bis mittelschweren Symptomen die symptomatische Behandlung häufig ausreichend ist und das Risiko von Komplikationen gering», so eine der Autorinnen, Dr. Jutta Bleidorn vom Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover, in einer Pressemitteilung.
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Gágyor I et al.: Ibuprofen versus fosfomycin for uncomplicated urinary tract infection in women: randomised controlled trial. BMJ 2015; 351: h6544.
Orthopädie
Radikulopathie wegen Diskushernie – operieren oder nicht?
Radikulopathien können konservativ oder operativ behandelt werden. In der Frühphase kommt meist eine konservative Behandlung zum Einsatz. Bei leichten Beschwerden ist das in der Regel ausreichend. Bei funktionell relevanten motorischen Ausfällen ist dagegen meist eine operative Behandlung angezeigt. In vielen Situationen ist unklar, welches die am besten geeignete Behandlung ist. Die neuen Empfehlungen des Swiss Medical Board beruhen auf einer Sichtung der einschlägigen Literatur sowie Stellungnahmen von medizinischen Fachgesellschaften, Therapeuten, Kostenträgern und Patienten. Da die Datenlage zur Fragestellung sowohl für die konservative als auch die operative Therapie lückenhaft und älteren Datums sei, sei es umso wichtiger gewesen, dass Informationen aus der Praxis zu den aktuell in der Schweiz angewendeten Standards in die Betrachtungen miteinbezogen werden konnten, heisst es in einer Pressemitteilung des Swiss Medical Board. Das Expertengremium hat folgende Empfehlungen formuliert:
O Patienten mit akuten (Ͻ6 Wochen) oder subakuten (Ͻ12 Wochen) lumbalen Radikulopathien wegen Diskushernien ohne funktionell relevante motorische Ausfälle und Beschwerden sind im Rahmen eines interdisziplinären Therapieansatzes zu behandeln, wobei einer konservativen Behandlung Priorität einzuräumen ist.
O Die Patienten sind mit geeigneten Mitteln ausführlich über die jeweiligen Vor- und Nachteile, insbesondere auch über Art und Häufigkeit möglicher unerwünschter Wirkungen der verschiedenen Behandlungsansätze aufzuklären.
O Im Hinblick auf die ungenügende Evidenzlage sind in der Schweiz eine Reihe von Forschungsansätzen notwendig, die in dem Bericht näher erläutert werden.
Der Bericht «Akute oder subakute lumbale Radikulopathien wegen Diskushernien: konservative versus operative Behandlung» steht unter www.medical-board.ch zur Verfügung.
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Vor 10 Jahren
Plazebo: Nadel besser als Pille
Ein Team an der Harvard Medical School in Boston vergleicht die Wirkung einer Scheinakupunktur mit einem Pillenplazebo bei Patienten mit chronischen Unterarmschmerzen. In den ersten zwei Wochen sind beide Plazebos gleich wirksam, danach verliert die Pille an Wirkung, während die Nadelung weiterhin gute Erfolge zeitigt. Die Autoren führen das auf das Ritual und die Anwesenheit des Arztes beim Nadeln zurück. Die Plazebopille nahmen die Patienten wie üblich alleine zu Hause ein.
Vor 50 Jahren
International gegen Suizid
Das «British Medical Journal» stellt den Vorstand der im Vorjahr in Los Angeles neu gegründeten International Association for Suicide Prevention vor. Neben Vertretern aus Österreich, England, Schweden und den USA gehört dem Vorstand der Psychiater Walter J. Pöldinger an, der sich zu dieser Zeit an der Universität Basel habilitiert. Pöldinger ist Schatzmeister der neuen Organisation.
Vor 100 Jahren
Sauerbruch in Zürich
Der Chirurg Ferdinand Sauerbruch (1875– 1951) arbeitet von 1910 bis 1918 an der Chirurgischen Klinik und Poliklinik am Universitätsspital in Zürich und wird deren Direktor.
1916 publiziert er den ersten Teil seiner Arbeit zu einer von ihm entwickelten Handprothese: «Die willkürlich bewegbare künstliche Hand». Das Foto zeigt Sauerbruch an einer Vorlesung im USZ (Foto: Wikimedia Commons).
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ARS MEDICI 1 I 2016