Transkript
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Kardiologie
PCI besser ohne routinemässige Thrombusaspiration
Was intuitiv plausibel erscheint, muss in der klinischen Realität noch lange nicht funktionieren, selbst wenn die Methode in einem anderen Fachgebiet Triumphe feiert. Anfang dieses Jahres änderten neurologische Fachgesellschaften ihre Empfehlungen zur Behandlung bei einem akuten ischämischen Schlaganfall. Die mechanische Thrombusaspiration, das heisst das «Herausziehen» eines Thrombus mit einem modernen Stent-Retriever-System soll nunmehr zusätzlich zur intravenösen Lyse durchgeführt werden (1). Kein Wunder, mag da so mancher denken, es ist doch auf jeden Fall gut, wenn man ein Blutgerinnsel aus der verstopften Arterie beseitigt, oder? In den Schlaganfallstudien der Neurologen war das tatsächlich so. In der Kardiologie hat sich nun aber gezeigt, dass die perkutane Koronarintervention mittels Ballondilation und Stent (PCI) mit zusätzlicher Thrombusaspiration für einen Herzinfarktpatienten keinen Vorteil gegenüber der PCI allein bietet. Und nicht nur das: Mit Thrombusaspiration stieg sogar das Risiko, in dem Jahr nach dem Eingriff einen Schlaganfall zu erleiden.
Das ergab das kürzlich publizierte Followup der TOTAL-Studie mit 10 064 Patienten, die nach einem STEMI entweder nur mit der üblichen PCI oder mit PCI plus Thrombusaspiration behandelt wurden (2). Als primärer Endpunkt zählten kardiovaskulär bedingter Tod, ein weiterer Herzinfarkt, ein kardiogener Schock oder Herzinsuffizienz der Klasse IV. Nach einem Jahr trat mit oder ohne Thrombusaspiration bei jeweils 8 Prozent der Patienten eines dieser Ereignisse ein, wobei der Anteil kardiovaskulär bedingter Todesfälle mit 4 Prozent ebenfalls in beiden Gruppen gleich hoch war. Die Thrombusaspiration brachte also keinen Zusatznutzen. Manchen Patienten schadete sie jedoch: Während in der PCI-Gruppe innert eines Jahres 36 Schlaganfälle (0,7%) auftraten, waren es bei PCI plus Thrombusaspiration 60 Patienten (1,2%). Das entspricht einer Steigerung des Risikos um 66 Prozent (HR: 1,66; 95%-Konfidenzintervall: 1,1–2,51, p = 0,015). Am wahrscheinlichsten sei, dass der Thrombus beim Zurückziehen des Katheters in die Blutbahn gerate, spekuliert man in einem begleitenden Editorial zur
Publikation der Studie in der Zeitschrift
«Lancet» (3).
Studien in der Vergangenheit hatten die
Hoffnung auf ein Ergebnis zugunsten der
zusätzlichen Thrombusaspiration bei einem
STEMI geweckt, obwohl diese Untersu-
chungen viel zu klein und nicht geeignet
gewesen waren, eine relevante Antwort auf
die Frage nach dem klinischen Zusatznut-
zen der Thrombusaspiration zu liefern. In-
sofern sei die TOTAL-Story auch eine War-
nung, neue Methoden nicht allzu rasch in
die klinische Praxis einzuführen, sondern
auf die Resultate adäquater Studien zu war-
ten (3).
RBOO
1. Schlaganfall: Thrombektomie bringt doch mehr als Lyse allein. ARS MEDICI 2015; 105(4): 190.
2. Jolly SS et al.: Outcomes after thrombus aspiration for ST elevation myocardial infarction: 1-year follow-up of the prospective randomised TOTAL trial. Lancet 2015, online first 13th Oct 2015.
3. Fröbert O, James SK: Coronary thrombus aspiration: a lesson for clinical medicine. Lancet 2015, online first 13th Oct 2015.
Psychiatrie
Mangelhafte Neuvernetzung des Gehirns bei Depression
Forscher des Universitätsklinikums Freiburg haben nachgewiesen, dass sich Nervenzellen im Gehirn während depressiver Episoden langsamer neu vernetzen und sich damit das Gehirn schlechter an neue Reize anpassen kann; die synaptische Plastizität ist herabgesetzt. Diese verminderte neuronale Anpassungsfähigkeit könnte viele Symptome einer Depression erklären. Das Team um Prof. Dr. Christoph Nissen am Universitätsklinikum Freiburg untersuchte, wie gut die Fähigkeit des Gehirns ausgeprägt ist, die Übertragung zwischen Nervenzellen an neue Reize anzupassen. Dieser Vorgang wird als synaptische Plastizität bezeichnet und ist die Grundlage von Lernen, Gedächtnisbildung und Anpassungsfähigkeit an eine sich verändernde Umwelt. Um die synaptische Aktivität zu ermitteln, untersuchten die Forscher je 27 gesunde
und depressive Personen. Sie reizten mithilfe einer Magnetspule über dem Kopf der Probanden ein bestimmtes motorisches Areal im Gehirn, das für die Steuerung eines Daumenmuskels zuständig ist. Dann massen sie, wie stark der Daumenmuskel dadurch aktiviert wird. Im zweiten Schritt kombinierten sie die Reizung mit einer wiederholten Stimulation eines Nervs am Arm, der Informationen ins Gehirn sendet. Hatte durch die Kopplung ein Lernvorgang in Form einer stärkeren Verknüpfung von Nervenzellen in der Gehirnrinde stattgefunden (synaptische Plastizität), war die Reaktion stärker als zu Beginn des Experiments. Tatsächlich wiesen die depressiven Probanden eine geminderte synaptische Plastizität auf als solche ohne eine depressive Episode. War die depressive Episode bei den erkrankten Probanden bei einer Folgemes-
sung einige Wochen später jedoch abgeklungen, zeigten sie auch eine normale Hirnaktivität. «Damit haben wir eine messbare Veränderung im Gehirn gefunden, die zeitlich mit dem klinischen Zustand übereinstimmt», so Nissen. Die Forscher gehen davon aus, dass es sich bei der verminderten synaptischen Plastizität um eine Ursache der Depression handelt und nicht nur um eine Folge. Neben Schlafentzug, einer etablierten Depressionstherapie, haben auch alle gängigen antidepressiv wirksamen Verfahren, einschliesslich Medikamenten, Elektrokrampftherapie und sportlicher Betätigung, eine positive Wirkung auf die synaptische Plastizität.
idw/RBOO
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ARS MEDICI 23 I 2015
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Pädiatrie
Schwangere sollen gar keinen Alkohol trinken
Nach Angaben der Stiftung Sucht Schweiz trinken 5 bis 6 Prozent der Schwangeren in der Schweiz mindestens einmal pro Monat beträchtliche Mengen Alkohol. Es ist nicht genau bekannt, wie viele Neugeborene wegen des Alkoholkonsums ihrer Mütter in der Schweiz Schäden davontragen. Man schätzt, dass in Europa 5 bis 20 von 10 000 Neugeborenen mit einem fetalen Alkoholsyndrom zur Welt kommen und 1 von 100 Neugeborenen von milderen Formen der pränatalen Alkoholschädigung betroffen ist, dem sogenannten FASD (fetal alcohol spectrum disorder). Zwar steht in den einschlägigen Ratgeberbroschüren, dass Schwangere nichts trinken sollten, in der Bevölkerung ist jedoch nach wie vor die Meinung weitverbreitet, dass das eine oder andere Glas schon nicht schaden könne. In der Tat passiert meistens nichts, und auch Kinder von alkoholabhängigen Frauen kommen glücklicherweise häufig gesund zur Welt, aber «wir können nicht voraussagen, wer zu jenen mit den schwerwiegenden Folgen gehört», so Dr. Reinhard Feldmann, Leiter einer FAS-Ambulanz in Deutschland (1).
Trinken in der Schwangerschaft sei wie Russi-
sches-Roulette-Spielen, meint Feldmann und
rät Schwangeren zur absoluten Abstinenz.
Auch Frauen mit Kinderwunsch sollten gar
keinen Alkohol trinken, um Schädigungen im
frühesten, noch unbemerkten Stadium der
Schwangerschaft auszuschliessen.
In einer kürzlich publizierten Übersichtsar-
beit zum FASD stellt ein US-amerikanisches
Team ebenfalls unmissverständlich klar, dass
Alkohol in der Schwangerschaft tabu sei (2).
Janet F. Williams und ihre Koautoren betonen,
dass keine noch so kleine Menge Alkohol in
der Schwangerschaft als «sicher» bezeichnet
werden dürfe. Genausowenig gebe es ein
«sicheres» Schwangerschaftstrimester, in
dem man ruhig etwas trinken dürfe, und alle
Formen von Alkohol seien gleichermassen
riskant, egal ob es sich dabei um Bier, Wein
oder Schnaps handelt.
RBOO
1. Null Promille für’s Kind: Es gibt kein ungefährliches Mass für Alkoholkonsum in der Schwangerschaft. Medscape, 4. November 2015.
2. Williams JF et al.: Fetal Alcohol Spectrum Disorders. Pediatrics 2015; 136(5): e1395-e1406.
Diabetologie
Rotwein auf Rezept
Über die segensreichen Wirkungen des Rotweins wurde schon viel geschrieben. Trotzdem wagen viele Leitlinienautoren nicht so recht, moderaten Rotweinkonsum als Heilmittel zu empfehlen – Alkohol bleibt Alkohol, und welcher Arzt mag diesen seinem Patienten bedenkenlos empfehlen? Vielleicht ändert sich das nun aufgrund der Studie eines Forscherteams an der Ben-Gurion-Universität in Israel. In einer randomisierten 2-Jahres-Studie mit 224 gut eingestellten Typ-2-Diabetikerinnen und -Diabetikern verordnete man zum Abendessen (mediterrane Ernährung) einer Gruppe 150 ml Rotwein täglich, der zweiten die gleiche Menge Weisswein und der dritten als Kontrollgruppe 150 ml Mineralwasser. Die Probanden erhielten dafür kostenlos Rot- oder Weisswein eines Winzers von den Golanhöhen oder ein bestimmtes Mineralwasser. Die leeren Flaschen mussten zu den Follow-up-Terminen mitgebracht werden, um die Therapietreue kontrollieren zu können, die nach Selbstauskunft der Probanden bei 80 bis 87 Prozent lag.
Die Studienteilnehmer hatten zuvor kaum Al-
kohol getrunken, im Durchschnitt 2,3 Gramm
Ethanol pro Tag, was etwa einem Glas Wein
pro Woche entspricht. So gesehen steigerten
sie ihren Alkoholkonsum in der Studie ganz
erheblich. Negative Folgen berichten die
Studienärzte trotzdem nicht: Die Anzahl der
Medikationen stieg nicht an, die Leberwerte
blieben im grünen Bereich, und es kam bei
den Neutrinkern auch nicht zu vermehrter
Adipositas im Vergleich mit der Kontroll-
gruppe. Vielmehr schliefen die Weintrinker
besser, und das Blutlipidprofil verbesserte
sich am deutlichsten in der Rotweingruppe.
Die Forscher untersuchten auch den Alkohol-
dehydrogenasestatus der Probanden und
fanden heraus, dass diejenigen mit einem
langsamen Alkoholmetabolismus deutlicher
von ihrer Weinkur profitierten als die Schnell-
metabolisierer.
RBOO
Gepner Y et al.: Effects of initiating moderate alcohol intake on cardiometabolic risk in adults with type 2 diabetes: a 2-year randomized, controlled trial. Ann Intern Med 2015 Oct 13.
Rückspiegel
Vor 10 Jahren
Gesichtstransplantation
Am Universitätsspital in Amiens transplantieren Bernard Devauchelle und sein Team am 27. November 2005 erstmals das Gesicht einer hirntoten Spenderin. Empfängerin ist die damals 38-jährige Isabelle Denoire, deren Gesicht durch einen Hundebiss entstellt worden war. Die Transplantation glückt. Nach einem halben Jahr kann die Empfängerin mit dem neuen Gesicht Berühungen, Kälte und Wärme spüren. Später kehrt auch die Mimik zurück sowie normales Sprechen, Essen und Trinken – und auch das Lächeln.
Vor 50 Jahren
Mobiler Defi
Stationäre Defibrillatoren gehören seit den 1950er-Jahren zur Routineausstattung vieler Spitäler. Der Mediziner Frank Pantridge baut gemeinsam mit dem Techniker Alfred Mawhinney und dem Assistenzarzt John Geddes am Royal Victoria Hospital in Belfast den ersten mobilen Defi. Er wiegt stattliche 70 Kilogramm und wird von zwei Autobatterien gespeist. Bereits drei Jahre später ist das Gerät nur noch 3 Kilogramm schwer – miniaturisierte Kondensatoren, die für die Nasa entwickelt worden waren, machen es möglich. Seine britischen Kollegen reagieren äusserst reserviert auf Pantridges Erfindung, sodass es, anders als beispielsweise in den USA, viele Jahre dauern wird, bis sich der mobile Defi im Vereinigten Königreich durchsetzt. Möglicherweise hat die mangelnde Begeisterung der britischen Mediziner auch mit Pantridges Ruf als Hierarchie-resistentem Querkopf zu tun, der sich mit so gut wie jedem seiner Vorgesetzten früher oder später überworfen hatte.
Vor 100 Jahren
Einstein in Berlin
Albert Einstein referiert in Berlin zu verschiedenen Aspekten der Relativitätstheorie. Er ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit einem Jahr Mitglied der Preussischen Akademie der Wissenschaften, zuvor war der Dozent an der ETH in Zürich. Einstein bleibt bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten Mitglied der Akademie. 1933 verlässt er Deutschland und lebt fortan in den USA.
RBO
ARS MEDICI 23 I 2015