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BERICHT
Diabetes Typ 2: Hit early – hit hard
Mit der richtigen Kombination zum Ziel
Bei Typ-2-Diabetes stiftet die Fülle immer neuer Präparate nicht selten Verwirrung. An den Medidays 2015 in Zürich wurden wichtige Kriterien für die Wahl des Behandlungsziels und die richtige Wahl der Antidiabetika vorgestellt.
Halid Bas
Aus epidemiologischen Untersuchungen sei bekannt, dass das Risiko für koronare Herzkrankheit (KHK) und die Mortalität schon ab einem HbA1c-Wert von 5,2 bis 5,3 Prozent ansteigen (1), erklärte Dr. med. Philipp A. Gerber, Klinik für Endokrinologie, Diabetolo-
MERKSÄTZE
O Ein höherer HbA1c-Wert geht mit einer höheren kardiovaskulären Morbidität und einer höheren Gesamtmortalität einher, eine intensivierte Therapie erhöht jedoch die beiden Risiken ebenfalls.
O Grundsätzliches Behandlungsziel ist ein HbA1c < 7 Prozent, tiefere Ziele (z.B. HbA1c 6,0–6,5%) sind je nach Alter und Risikokonstellation möglich, höhere Ziele (z.B. HbA1c 7,5–8,0%) im Alter oder bei hohem Hypoglykämierisiko nötig.
O Im Regelfall sollten maximal drei Antidiabetika gleichzeitig eingesetzt werden.
O Bei Beginn einer Therapie mit einem Basalinsulin muss die Medikamentenverordnung revidiert werden: Pioglitazon soll abgesetzt werden, bei Metformin kann im Verlauf ein Absetzversuch erfolgen.
O Bei unbefriedigender Einstellung bieten neuere Wirkstoffklassen (SGLT-2Hemmer, GLP-1-Analoga) zusätzliche Therapieoptionen.
gie und Klinische Ernährung, Universitätsspital Zürich. In der Praxis erreicht man solche tiefen HbA1c-Werte auch durch intensivierte Behandlung nicht. In der ACCORD-Studie lag das HbA1c in der intensivierten Gruppe bei 6,5 und in der Gruppe mit Standardtherapie bei 7,5 Prozent (2). Hauptergebnis war aber die Beobachtung, dass die Mortalität unter intensivierter Therapie erhöht war. Ursache waren die drei- bis viermal häufigeren Hypoglykämien. Diese rufen eine adrenerge Reaktion hervor, welche zu rhythmogenen Herzstörungen und beim häufig vorgeschädigten kardiovaskulären System zum plötzlichen Herztod führen kann. «Wir stehen in der Diabetesbehandlung also vor dem Dilemma, dass ein höheres HbA1c mit einer höheren kardiovaskulären Morbidität und einer erhöhten Gesamtmortalität einhergeht, eine intensivierte Therapie aber die beiden Risiken ebenfalls erhöht», bilanzierte Gerber. In der ACCORD-Studie fiel auch auf, dass die Patienten unter intensivierter Therapie eine schlechtere Hypoglykämiewahrnehmung hatten (3). Bekannt ist zudem, dass die Hypoglykämiewahrnehmung mit dem Alter abnimmt. Neueste Analysen der ACCORD-Studien haben gezeigt, dass diejenigen Patienten mit einem relativ hohen HbA1c bei gleichzeitig eher tiefen Nüchternblutzuckerwerten die höchste Mortalitätsrate hatten, also für Hypoglykämien besonders gefährdet waren (4).
Für die Festlegung der Zielwerte ist auch das sogenannte Glukosegedächtnis von Bedeutung. Danach spielt es keine Rolle, ob die hohe Glukoseexposition früh oder spät im Krankheitsverlauf auftritt – es geht um die akkumulierte Zeit mit erhöhter Glykämie (5). Dies gilt für Retinopathie, Neuropathie und auch Nephropathie. Damit lässt sich rechtfertigen, in der frühen Krankheitsphase intensiv zu therapieren, um das HbA1c sehr deutlich zu senken, um dann später, wenn das Hypoglykämierisiko ansteigt, ein weniger aggressives Therapieziel zu verfolgen («Hit early – hit hard»-Strategie). Gemäss Guidelines bedeutet dies: O grundsätzliches Ziel: HbA1c < 7 % O eventuell tieferes Ziel (z.B. HbA1c
6,0–6,5%) möglich O eventuell höheres Ziel (z.B. HbA1c
7,5–8,0%) nötig. Faktoren, die für die Festlegung der Therapieziele wichtig sind, zeigt Kasten 1.
Sinnvolle Kombinationen aus-
suchen, nicht sinnvolle vermeiden
In den aktuellen ADA/EASD-Guidelines gehe die Empfehlung dahin, bis zu maximal drei Antidiabetika einzusetzen (6), erklärte Prof. Dr. med. Peter Wiesli, Leitender Arzt Endokrinologie, Kantonsspital Frauenfeld. Immer sollte die Wahl der Therapie patientenzentriert erfolgen (7). Die Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie (SGED) hält ein für die Praxis formuliertes Papier zur Therapie des Typ-2-Diabetes auf ihrer Homepage bereit (8). Bei der heutigen Fülle von Antidiabetika (Kasten 2) ist es nicht immer einfach, sinnvolle Kombinationen auszuwählen und nicht sinnvolle zu vermeiden. Hierbei gilt: O Verboten sind Kombinationen von
Substanzen aus der gleichen Wir-
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Kasten 1:
Faktoren für die Festlegung der Behandlungsziele bei Typ-2-Diabetes
Motivation, Adhärenz Hypoglykämierisiko Krankheitsdauer Lebenserwartung wichtige Komorbiditäten vaskuläre Komplikationen Ressourcen, Support
HbA1c-Ziel tiefer
hoch tief kurz lang wenige wenige gut
HbA1c-Ziel höher
tief hoch lang kurz schwere schwere limitiert
Kasten 2:
Therapie des Typ-2-Diabetes: Die Palette wird immer grösser
Wirksubstanz
Präparatname
DPP-4-Hemmer:
Alogliptin
Vipidia®
Linagliptin
Trajenta®
Saxagliptin
Onglyza®
Sitagliptin®
Januvia®, Xelevia®
Vildagliptin®
Galvus®
Sulfonylharnstoff der Wahl*:
Gliclazid
Diamicron® oder Generika
Glinid (Alternative anstelle Sulfonylharnstoff)*:
Repaglinid
NovoNorm® oder Generika
Insulinanaloga, lang wirksam:
Degludec
Tresiba®
Detemir
Levemir®
Glargin
Lantus®
– Glargin 300
Toujeo®
– Glargin-Biosimilar
Abasaglar®
Insulinanaloga, Mischinsuline:
Lispro
Humalog® Mix
Aspart
NovoMix®
Degludec/Aspart
Ryzodeg®
Insulinanaloga, kurz wirksam:
Lispro
Humalog®
Aspart
NovoRapid®
Glulisin
Apidra®
Thiazolidindione:
Pioglitazon
Actos® oder Generika
SGLT-2-Hemmer:
Canagliflozin
Invokana®
Dapagliflozin
Forxiga®
Empagliflozin
Jardiance®
GLP-1-Analoga:
Albiglutid
Eperzan® (1 × pro Woche)
Dulaglutid
Trulicity® (1 × pro Woche)
Exenatid
Byetta® (2 × täglich)
– Exenatid für Depotinjektion Bydureon® (1 × pro Woche)
Liraglutid®
Victoza® (1 × täglich)
– in Kombination mit Insulin
Xultophy® (1 × täglich)
Degludec (IDegLira)
Kombination mit Metformin Vipdomet® Jentadueto® Kombiglyze® XR Janumet®, Velmetia® Galvumet®
Competact® Vokanamet® Xigduo®
* Erklärung siehe Text. DPP-4: Dipeptidylpeptidase 4; SGLT-2: Natrium («Sodium-»)Glukose-Kotransporter 2; GLP-1: «glucagon-like peptide 1»
kungsklasse, also DPP-4-Hemmer miteinander oder Sulfonylharnstoffe und Glinide. O Pathophysiologisch nicht sinnvoll ist die Kombination von (oralen) DPP4-Hemmern und (injizierten) GLP-1Analoga sowie von Sulfonylharnstoffen und Basis/Bolus-Mischinsulin. O Bei gewissen neuen Wirkstoffklassen (SGLT-2-Hemmer, DPP-4-Hemmer, GLP-1-Analoga) muss die Kassenzulässigkeit von Kombinationen im Einzelnen abgeklärt werden. Hier sind die Bestimmungen im Fluss.
Wann kommt beim Typ-2-Diabetes
eine Insulintherapie in Betracht?
Wiesli nannte die Situation, wenn mit zwei, allenfalls drei oralen Antidiabetika das HbA1c nicht in den Zielbereich gebracht werden kann. Dann ist es sinnvoll, ein Basalinsulin zur Injektion vor dem Zubettgehen zu verschreiben. Dies erfolgt meist in Kombination mit einer oralen Therapie. Seinerzeit hatte die Meldung eines möglicherweise erhöhten Blasenkrebsrisikos unter langfristiger Therapie mit Pioglitazon für Aufsehen gesorgt (6). Pioglitazon sollte spätestens mit Beginn von Insulininjektionen abgesetzt werden, um eine Flüssigkeitsretention zu vermeiden, mahnte Wiesli. «Nicht alle Sulfonylharnstoffe sind gleich, es sollten nur solche ohne aktive Metaboliten eingesetzt werden», sagte der Referent. Der Sulfonylharnstoff der Wahl ist daher Gliclazid, eine Alternative ist das Glinid Repaglinid. Eine Kombination mit einem Basalinsulin ist in beiden Fällen möglich, nicht jedoch mit einem Mischinsulin oder einer Basis-Bolus-Insulintherapie. Die Kombination von Basalinsulin und DPP-4-Hemmer ist sinnvoll, nicht jedoch diejenige mit Mischinsulin oder Basis-Bolus-Insulinen. So konnte eine Studie mit Sitagliptin und intensiv titriertem Insulin Glargin zeigen, dass die Kombination zu einem tieferen HbA1c, tieferen Nüchternblutzuckerwerten, weniger Insulinbedarf und weniger Hpyoglykämien führte (7). Werden Patienten mit Typ-2-Diabetes auf ein Mischinsulin oder eine BasisBolus-Insulintherapie umgestellt, kann Metformin weitergegeben oder ein Absetzversuch durchgeführt werden. Alle anderen oralen Antidiabetika sind abzusetzen. Als sekundäre Ergänzung kommt jedoch bei Spezialfällen (pro-
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blematisches Körpergewicht) die Verordnung eines SGLT-2-Hemmers in Betracht. Die Wirkung der SGLT-2Hemmer ist insulinunabhängig, also auch bei Insulinmangel oder Insulinresistenz gegeben.
Neue Kombinationen
bei unbefriedigender Einstellung
Bei ungenügender Einstellung trotz hoher Insulindosen ist die Kombination mit Metformin sinnvoll und gebräuchlich. Wie eine Studie mit Dapagliflozin nahelegt, kann in dieser Situation auch mit der Zugabe von SGLT-2-Hemmern eine bessere Stoffwechseleinstellung erzielt werden (11). Über zwei Jahre bewirkte Dapagliflozin eine bessere Glykämiekontrolle, stabilisierte die Insulindosis und führte zu einem Gewichtsverlust, ohne dass es zu häufigeren Hypoglykämien kam. Allerdings wurden vermehrte Genitalinfektionen und Harnwegsinfekte beobachtet – eine bekannte Nebenwirkung der SGLT-2-Hemmer. Als seltene, aber gefährliche Nebenwirkung unter SGLT-2Hemmern sind Fälle von euglykämischer Ketoazidose beobachtet worden. Symptome sind Übelkeit, Erbrechen, Kussmaulatmung, Bauchschmerzen und Verschlechterung des Allgemeinzustands. Die Störung ist nicht immer leicht zu erkennen, da der Blutzuckerspiegel normal ist; bei Verdacht muss in Urin oder Blut nach Ketokörpern gesucht werden. Die euglykämische Ketoazidose unter SGLT-2-Hemmern betraf überwiegend Typ-1-Diabetiker (bei denen diese Wirkstoffe nicht indiziert sind), aber auch einige Typ-2-Diabetiker. Wichtige Risikofaktoren sind schlechte
Insulinsekretion oder das Absetzen einer Insulintherapie. Bei den GLP-1-Analoga ist die Palette ebenfalls grösser geworden (Kasten 2). In Kombination mit einem Basalinsulin lässt sich eine bessere HbA1c-Senkung ohne Gewichtszunahme und ohne vermehrte Hypoglykämien erzielen, was auch für das Kombinationspräparat von Insulin Degludec mit Liraglutid (IDegLira) nachgewiesen wurde (12). Eine andere Möglichkeit ist die Kombination eines Basalinsulins mit einem kurz wirksamen GLP-1-Analogon, zum Beispiel Exenatid, anstatt eines kurz wirksamen Insulins als Bolus (13). Neuerdings gibt es auch die Option, das lang wirksame GLP-1-Analogon Dulaglutid mit einmal wöchentlicher Injektion anstelle eines einmal täglichen Basalinsulins einzusetzen und mit postprandialem Insulin Lispro zu kombinieren (14). Vorteile sind bessere HbA1c-Werte, weniger Hypoglykämien und weniger Gewichtszunahme. O
Halid Bas
Quellen: Vorträge von Dr. med. Philipp A. Gerber und Prof. Dr. med. Peter Wiesli an den Medidays 2015, 3. September 2015 in Zürich.
Literatur: 1. Selvin E et al.: Glycated hemoglobin, diabetes, and
cardiovascular risk in nondiabetic adults. N Engl J Med 2010; 362(9): 800–811. 2. Gerstein HC et al.: Action to Control Cardiovascular Risk in Diabetes (ACCORD) Study Group: Effects of intensive glucose lowering in type 2 diabetes. N Engl J Med 2008; 358(24): 2545–2559. 3. Seaquist ER et al.: The impact of frequent and unrecognized hypoglycemia on mortality in the ACCORD study. Diabetes Care 2012; 35(2): 409–414. 4. Hempe JM et al.: The hemoglobin glycation index identifies subpopulations with harms or benefits from intensive treatment in the ACCORD trial. Diabetes Care 2015; 38(6): 1067–1074. 5. Orchard TJ et al.: Cumulative glycemic exposure and microvascular complications in insulin-dependent diabetes mellitus. The glycemic threshold revisited. Arch Intern Med 1997; 157(16): 1851–1856. 6. Inzucchi S et al.: Management of hyperglycemia in type 2 diabetes, 2015: a patient-centered approach. Update to a position statement of the American Diabetes Association and the European Association for the Study of Diabetes. Diabetes Care 2015; 38: 140–149. 7. Standards of medical care in diabetes. 2015; 38 (Supplement 1): freely accessible online at care.diabetesjournals.org. 8. www.sgedssed.ch/fileadmin/files/dokumente/Thera pie_des_typ2_Diabetes.pdf. 9. Lewis JD et al.: Risk of bladder cancer among diabetic patients treated with pioglitazone: interim report of a longitudinal cohort study. Diabetes Care 2011; 34(4): 916–922. 10. Mathieu C et al.: A randomized clinical trial to evaluate the efficacy and safety of co-administration of sitagliptin with intensively titrated insulin glargine. Diabetes Ther 2015; 6(2): 127–142. 11. Wilding JP et al.: Dapagliflozin in patients with type 2 diabetes receiving high doses of insulin: efficacy and safety over 2 years. Diabetes Obes Metab 2014; 16(2): 124–136. 12. Buse JB et al.: Contribution of liraglutide in the fixedratio combination of insulin degludec and liraglutide (IDegLira). Diabetes Care 2014; 37(11): 2926–2933. 13. Diamant M et al.: Glucagon-like peptide 1 receptor agonist or bolus insulin with optimized basal insulin in type 2 diabetes. Diabetes Care 2014; 37(10): 2763–2773. 14. Blonde L et al.: Once-weekly dulaglutide versus bedtime insulin glargine, both in combination with prandial insulin lispro, in patients with type 2 diabetes (AWARD-4): a randomised, open-label, phase 3, noninferiority study. Lancet 2015; 385(9982): 2057–2066.
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