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STUDIE REFERIERT
Leitlinien zur kardiovaskulären Primärprävention mit Statinen
Welcher Risiko-Score ist treffsicherer?
Die neuen Kriterien des American College of Cardiology (ACC) und der American Heart Association (AHA) für eine Primärprävention mit Statinen sind umstritten, weil nach deren Umsetzung mehr Personen als bis anhin behandelt werden müssten. In einer bevölkerungsbasierten Kohortenstudie zeigte sich jetzt, dass die ACC/AHA-Kriterien eine genauere Identifizierung von Personen mit einem erhöhten Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse und einer subklinischen Koronarkalzifizierung ermöglichen als die Kriterien des älteren «Third Report of the High Blood Cholesterol in Adults» (ATP III).
JAMA
Die Bemühungen zur Prävention kardiovaskulärer Erkrankungen konzentrierten sich in der Vergangenheit vor allem auf die Behandlung traditioneller Risikofaktoren. Dazu gehört auch das Management des Serumcholesterins mit einer das LDL-Cholesterin senkenden Statintherapie. Die Entscheidung für oder gegen Statine wurde in den USA anhand von risikobasierten LDLCholesterin-Grenzwerten entsprechend den Leitlinien des «National Cholesterol Education Program» von 2001 und dem 2004 aktualisierten «Third Report of the High Blood Cholesterol in Adults» (ATP III) getroffen. Im Jahr 2013 haben das American College of Cardiology (ACC) und die American Heart Association (AHA) in ihren Leitlinien zum Management des Serumcholesterins jedoch neue Eignungskriterien für eine Statinbehand-
MERKSÄTZE
O Die ACC/AHA-Kriterien sind treffsicherer für die Identifikation von Patienten mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko als die ATP-III-Kriterien.
O Das ist vor allem für Personen mit mittlerem Framingham-Risiko-Score von Bedeutung, da bei ihnen die Entscheidung für oder gegen Statine am schwierigsten ist.
lung formuliert, die sich zusätzlich am kardiovaskulären Gesamtrisiko entsprechend einem Score zur Einschätzung des 10-Jahres-Risikos für eine atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung (10-Jahres-ASCVD-Risiko) orientieren. Diese Ausweitung der Indikation wird kontrovers diskutiert. Eine Analyse des National Health and Nutrition Examination Survey ergab, dass in den USA bei Umsetzung der ACA/AHA-Kriterien 12,8 Millionen mehr Erwachsene eine Statinbehandlung erhalten müssten als bei einer Patientenauswahl entsprechend der älteren ATP-III-Leitlinie. Die ACA/AHA-Experten verteidigen ihr Konzept mit dem Argument, dass die neuen Kriterien eine genauere Identifizierung von Personen ermöglichen, die ein kardiovaskuläres Ereignis erleiden werden. Das stellt ihrer Ansicht nach eine Verbesserung gegenüber den älteren Richtlinien dar. US-amerikanische Wissenschaftler verglichen jetzt die Treffsicherheit der ATP-III-Kriterien und der ACC/AHAKriterien zur Identifizierung von Personen mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko in einer grossen prospektiven, longitudinalen, bevölkerungsbasierten Kohortenstudie. An der Studie nahmen asymptomatische Kinder und Enkel von Patienten der Framingham Heart Study (FHS) teil. Als primären Endpunkt definierten die Forscher die Inzidenz
kardiovaskulärer Ereignisse (Myokardinfarkt, Tod aufgrund einer koronaren Herzerkrankung, ischämischer Schlaganfall). Zu den sekundären Endpunkten gehörten koronare Ereignisse (Herzinfarkt, Tod aufgrund einer koronaren Herzerkrankung) und die Koronararterienverkalkung (CAC = coronary artery calcification) entsprechend dem Agatston-Score.
ATP-III-Kriterien
Bei Umsetzung der ATP-III-Leitlinie erhalten Patienten eine Statintherapie, wenn sie mindestens eine der folgenden Kriterienkombinationen aufweisen: O LDL-Cholesterin ≥100 mg/dl
(2,6 mmol/l) und Diabetes mellitus oder periphere arterielle Erkrankung oder ein 10-Jahres-Framingham-Risiko-Score (FRS) für eine koronare Herzerkrankung von ≥ 20 Prozent O LDL-Cholesterin ≥130 mg/dl (3,38 mmol/l) und FRS höher als 10 Prozent, aber unter 20 Prozent und 2 oder mehr Risikofaktoren O LDL-Cholesterin ≥160 mg/dl (4,16 mmol/l) und FRS unter 10 Prozent und 2 oder mehr Risikofaktoren O LDL-Cholesterin ≥ 190 mg/dl (4,94 mmol/l) und weniger als 2 Risikofaktoren. Die zu berücksichtigenden Risikofaktoren sind Zigarettenrauchen, Bluthochdruck (≥ 140/90 mmHg oder die Einnahme von Blutdrucksenkern), niedrige HDL-Cholesterin-Werte (< 40 mg/dl [1,04 mmol/l]), familiäre vorzeitige koronare Herzerkrankung (bei männlichen Verwandten ersten Grades < 55 Jahre, bei weiblichen Verwandten ersten Grades < 65 Jahre) und das Alter (Männer ≥ 45 Jahre, Frauen ≥ 55 Jahre).
ACA/AHA-Kriterien
Bei Anwendung der ACC/AHA-Leitlinien werden die für eine Statinbehandlung geeigneten Patienten anhand der Zugehörigkeit zu vier Gruppen identifiziert: O Patienten mit klinisch manifester
atherosklerotischer kardiovaskulärer Erkrankung O Patienten mit LDL-CholesterinWerten ≥190 mg/dl (4,94 mmol/l) O Diabetiker im Alter zwischen 40 und 75 Jahren und LDL-CholesterinWerten im Bereich von 70 bis 189 mg/dl (1,82–4,914 mmol/l)
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STUDIE REFERIERT
O Patienten ohne klinische atherosklerotische kardiovaskuläre Erkrankung oder Diabetes, mit LDL-Cholesterin-Werten von 70 bis 189 mg/dl (1,82–4,914 mmol/l) und einem ASCVD-Risiko von 7,5 Prozent oder höher.
Das 10-Jahres-ASCVD-Risiko wird mithilfe eines speziellen Risikokalkulators (pooled cohort calculator) ermittelt.
Kardiovaskuläre Ereignisse
Die Wissenschaftler schlossen 2435 nicht mit Statinen behandelte Personen mit einem durchschnittlichen Alter von 51,3 Jahren in ihre Untersuchung ein. Der Beobachtungszeitraum betrug im Durchschnitt 9,4 Jahre. Währenddessen erlitten 74 Patienten (3%) ein kardiovaskuläres Ereignis. Dabei handelte es sich um 40 nicht tödliche Herzinfarkte, 31 nicht tödliche Schlaganfälle und 3 tödliche koronare Ereignisse. Entsprechend den neuen ACA/AHAKriterien wurden 39 Prozent (941/ 2435) der Teilnehmer für eine Statinbehandlung ausgewählt, entsprechend den älteren ATP-III-Kriterien jedoch nur 14 Prozent (p < 0,001). Von den Personen, die nach den ATPIII-Kriterien Statine erhalten sollten, erlitten 6,9 Prozent ein kardiovaskuläres Ereignis, von denen, die nach ATP III keine erhalten sollten, waren 2,4 Prozent betroffen (Hazard Ratio [HR] 3,1; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,9–5,0). Von den Patienten, die entsprechend den ACC/AHA-Kriterien für Statine infrage kamen, erlitten 6,3 Prozent ein kardiovaskuläres Ereignis, jedoch nur 1,0 Prozent der Patienten, die keine Statine erhalten sollten (HR 6,8; 9%-KI: 1,9–5,0). Somit war die kardiovaskuläre Risikoeinschätzung gemäss ACC/ AHA-Kriterien im Vergleich mit den älteren ATP-III-Kriterien statistisch signifikant besser (p < 0,001). Ähnliche Ergebnisse wurden in Untergruppenanalysen bei Personen mit mittlerem Framingham-Risiko-Score und im Hinblick auf koronare Ereignisse beobachtet.
Mittleres Framingham-Risiko
Bei 38 Prozent der Studienteilnehmer lag ein mittlerer Framingham-RisikoScore von 6 bis 20 Prozent vor. Bei Anwendung der ACC/AHA-Kriterien kamen die meisten dieser Patienten
(80%) für eine Statinbehandlung infrage, entsprechend den ATP-III-Kriterien dagegen nur 27 Prozent (p < 0,001). Zwischen den nach ATP III für Statine ausgewählten und nicht ausgewählten Patienten gab es keinen signifikanten Unterschied bezüglich der Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse (3,6% vs. 4,0%; HR 0,9; 95%-KI: 0,4–1,9; p = 0,77). Bei den nach ACC/AHA für eine Statinbehandlung ausgewählten Teilnehmern war die Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse dagegen signifikant höher als bei Patienten, die keine Statine erhalten sollten (4,8% vs. 0,5%; HR 9,3; 95%-KI: 1,3–67,8; p = 0,03).
Koronarkalzifizierung
Bei 42 Prozent der 2435 Teilnehmer wurde eine Koronarkalzifizierung nachgewiesen (CAC-Score > 0), und bei 8 Prozent der Patienten lagen sehr hohe CAC-Scores > 300 vor. Von allen Patienten mit einer Koronarkalzifizierung wurden anhand der ACC/AHA-Kriterien signifikant mehr einer Statintherapie zugeordnet als bei Anwendung der ATP-III-Kriterien (63% vs. 23%; p < 0,001). Von den 186 Patienten mit einem CAC-Score > 300, die mit einer Ereignisrate von 8,5 Prozent das höchste kardiovaskuläre Risiko aufwiesen, wurden anhand der ACC/ AHA-Kriterien fast alle (85%) einer Statintherapie zugeordnet, bei einer Patientenauswahl entsprechend den ATP-III-Kriterien jedoch nur 34 Prozent (p < 0,001).
Number Needed To Treat
Von den 593 Personen (24 Prozent), die anhand der ACC/AHA-Kriterien zusätzlich für eine Statinbehandlung ausgewählt wurden, erlitten 5,7 Prozent ein kardiovaskuläres Ereignis. Unter der Annahme einer relativen Risikoreduzierung von 30 bis 45 Prozent errechneten die Autoren, dass 39 bis 58 der neu hinzugekommenen Personen mit Statinen behandelt werden müssten (number needed to treat), um im Verlauf des Beobachtungszeitraums von 9,4 Jahren ein kardiovaskuläres Ereignis verhindern zu können.
Diskussion
Aus der Studie geht hervor, dass die gemäss ACC/AHA-Kriterien für eine Primärprävention mit Statinen ausgewählten Personen ein höheres kardio-
vaskuläres Risiko haben als Personen, die gemäss ATP-III-Kriterien ausgewählt werden. Die ACC/AHA-Kriterien sind demnach treffsicherer. Ähnliche Ergebnisse wurden in allen Untergruppenanalysen beobachtet. Diese genauere Identifizierung gefährdeter Personen ist nach Ansicht der Autoren vor allem bei Patienten mit mittlerem Framingham-Risiko von Bedeutung, da bei ihnen die Entscheidung für oder gegen eine Statintherapie am schwierigsten ist. Insgesamt gehen die Forscher davon aus, dass die Umsetzung der ACC/ AHA-Leitlinien im Vergleich zur Umsetzung der ATP-III-Leitlinie präventiv wirksamer sein wird. Bei einer Übertragung der Studienergebnisse auf die annähernd 10 Millionen zusätzlichen US-Amerikaner, die nach den neuen Leitlinien eine Statinbehandlung erhalten müssten, könnten in den USA innerhalb von zehn Jahren zwischen 41 000 und 63 000 kardiovaskuläre Ereignisse vermieden werden. Des Weiteren weisen die Autoren darauf hin, dass bei Anwendung der ACA/AHA-Kriterien auch eine bessere Übereinstimmung mit dem Ausmass der subklinischen Koronarkalzifizierung beobachtet wurde. Das verdeutlicht ihrer Ansicht nach eine mechanistische Verbindung zwischen dem kardiovaskulären Gesamtrisiko und der Inzidenz kardiovaskulärer Ereignisse. Zudem stimmt dieses Ergebnis mit den Resultaten älterer Kohortenstudien überein, in denen das kardiovaskuläre Gesamtrisiko viel enger mit der Koronarkalzifizierung verbunden war als mit den LDL-Cholesterin-Spiegeln. O
Petra Stölting
Quelle: Pursnani A et al.: Guideline-based statin eligibility, coronary artery calcification, and cardiovascular events. JAMA 2015; 314(2): 134–141.
Interessenkonflikte: 1 der 5 Studienautoren hat Gelder von Siemens Healthcare und Genentech erhalten.
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