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BERICHT
Update zur Antikoagulation 2015
Eigenschaften, Vorteile und Nachteile der verschiedenen Antikoagulanzien
Die vier derzeit in der Schweiz erhältlichen direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) haben das Interesse an der Antikoagulation neu belebt. Obschon er die Gerinnung als «trockenes, undankbares Thema» bezeichnete, verstand es Dr. Jan-Dirk Studt, Oberarzt Klinik für Hämatologie, Universitätsspital Zürich, an der Fortbildung Medidays Zürich 2015, seine Zuhörer mit einer Übersicht über die aktuelle Antikoagulation für den korrekten Umgang mit gerinnungshemmenden Medikamenten zu sensibilisieren.
Von Alfred Lienhard
Bei der Auswahl eines geeigneten Gerinnungshemmers gilt es, die Eigenschaften der verschiedenen Antikoagulanzien mit ihren Vor- und Nachteilen zu berücksichtigen: O Beim Wirkmechanismus kann es sich
um eine Hemmung der Gerinnungsfaktorensynthese handeln (VitaminK-Antagonisten) oder um eine Hem-
MERKSÄTZE
O Anders als bei Vitamin-K-Antagonisten ist bei direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) kein Monitoring erforderlich. Ein Monitoring ist aber auch bei DOAK möglich.
O Bei DOAK ist der Plasmaspiegel nicht konstant, sondern es kommt zu Spitzenspiegeln (2 bis 4 h nach der Einnahme) und zu Talspiegeln.
O DOAK beeinflussen Routinegerinnungstests in unterschiedlichem Ausmass. Hinter einem normalen Quick kann sich durchaus eine relevante Konzentration eines DOAK verbergen.
O Faktor-Xa-Antagonisten können Verfälschungen bei der Thrombophilieabklärung bewirken (z.B. Lupus-Antikoagulans-Test).
mung des Faktors Xa (niedermolekulare Heparine, Danaparoid, Fondaparinux, Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban) oder wie bei unfraktioniertem Heparin, Dabigatran, Bivalirudin und Argatroban um eine Thrombinhemmung (Faktor IIa). O Direkte Antikoagulanzien wie Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban, Dabigatran, Bivalirudin und Argatroban wirken unabhängig von Antithrombin, während indirekte Antikoagulanzien obligat Antithrombin benötigen (niedermolekulare Heparine, unfraktioniertes Heparin, Danaparoid, Fondaparinux). O Zu den peroral verabreichbaren Antikoagulanzien gehören Vitamin-KAntagonisten, Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban und Dabigatran. Parenteral anzuwenden sind unfraktioniertes Heparin, niedermolekulare Heparine, Danaparoid, Fondaparinux, Bivalirudin und Argatroban. O Ein Monitoring ist immer nötig bei der Behandlung mit Vitamin-K-Antagonisten, unfraktoniertem Heparin, Bivalirudin und Argatroban. Ein Monitoring ist zwar möglich, in der Regel aber nicht nötig bei Verwendung von Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban, Dabigatran, niedermolekularen Heparinen, Danaparoid und Fondaparinux.
O Ein spezifisches Antidot ist vorhanden für unfraktioniertes Heparin (Protaminchlorid) und für VitaminK-Antagonisten (wenn es nicht eilt: Vitamin K, wenn es eilt: Prothrombinkomplexkonzentrat [PCC], das die Wirkung von Vitamin-K-Antagonisten innerhalb weniger Minuten komplett neutralisiert). Ein spezifisches Gegenmittel ist nicht vorhanden (bzw. derzeit noch nicht verfügbar) für Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban (inaktives Faktor-XMolekül Andexanet in Entwicklung), Dabigatran (neutralisierendes Antikörperfragment Idarucizumab in Entwicklung), Fondaparinux, Danaparoid, Bivalirudin, Argatroban.
O Die unterschiedlichen Halbwertszeiten (HWZ) stellen besonders wichtige Eigenschaften der verschiedenen Antikoagulanzien dar. Kurz ist die HWZ der hirudinartigen Antikoagulanzien Bivalirudin (0,5 h) und Argatroban (1 h), was angesichts fehlender Gegenmittel erfreulich sei und im Blutungsfall das Zuwarten ermögliche, so der Referent. Kurz ist die HWZ auch beim unfraktionierten Heparin (1–2 h). Lang ist die HWZ der Vitamin-K-Antagonisten (HWZ von Phenprocoumon: 80–240 h). Die ungünstige Kombination einer langen HWZ und fehlender Gegenmittel liegt bei Danaparoid (HWZ: 19–25 h) und Fondaparinux (HWZ: 17–21 h) vor. Eine mittlere HWZ besitzen niedrigmolekulare Heparine (3–7 h) sowie die vier neuen Antikoagulanzien Apixaban (10 h), Edoxaban (10–14 h), Rivaroxaban (7–11 h) und Dabigatran (9–13 h).
Indikationen der direkten oralen
Antikoagulanzien (DOAK)
Für alle vier derzeit in der Schweiz erhältlichen neuen Antikoagulanzien
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Tabelle 1:
Aktuelle Zulassungssituation von direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) in der Schweiz
Apixaban Edoxaban Rivaroxaban Dabigatran
Prophylaxe venöser Thromboembolien nach orthopädischen Operationen
Ja
–
Ja
–
Akuttherapie und Sekundärprophylaxe venöser Thromboembolien
Ja
Ja
Ja
Ja
Embolieprophylaxe bei nicht valvulärem Vorhofflimmern
Ja Ja Ja Ja
O Keine Zulassung zur Thromboembolieprophylaxe bei medizinischen oder allgemeinchirurgischen Patienten.
O Keine Zulassung beziehungsweise Kontraindikation bei mechanischen Herzklappenprothesen.
(nach Dr. Jan-Dirk Studt)
Kasten:
Quantifizierung der Anti-Faktor-Xa-Wirkung
O Der Anti-Faktor-Xa-Routinetest (für Monitoring niedrigmolekularer Heparine gebräuchlich) kann zur Orientierung verwendet werden als Ausschlusstest. Ein normwertiges Testresultat bedeutet, dass keine relevante Konzentration eines FaktorXa-Antagonisten vorhanden ist.
O Speziell für das entsprechende Medikament kalibrierte Tests, zum Beispiel Biophen DiXal® für Rivaroxaban.
Tabelle 2:
Welches orale Antikoagulans wurde eingenommen?
Routinetests der Gerinnung als Orientierungshilfe
Vitamin-K-Antagonisten Dabigatran Faktor-XaAntagonisten
Quick/INR
Thrombinzeit
starker Einfluss praktisch kein Einfluss unterschiedlich ausgeprägter Einfluss
kein Einfluss starker Einfluss kein Einfluss
Anti-Faktor-XaAktivität kein Einfluss kein Einfluss starker Einfluss
(nach Dr. Jan-Dirk Studt)
wurden gross angelegte Studienprogramme zur Thromboembolieprophylaxe bei orthopädischen Operationen und – kommerziell besonders interessant – zur Embolieprophylaxe bei Vorhofflimmern sowie zur Akuttherapie und Sekundärprophylaxe venöser Thromboembolien durchgeführt. Ebenfalls untersucht wurde die Zugabe dieser neuen Substanzen zur Thrombozytenaggregationshemmung als Sekundär-
prophylaxe nach einem akuten koronaren Ereignis. Beispielsweise wurde Rivaroxaban in niedriger Dosierung (2-mal 2,5 mg pro Tag) zusammen mit einer Thrombozytenaggregationshemmung geprüft, wobei die Zulassung für diese Indikation noch nicht erfolgt ist. Studien zur Thromboseprophylaxe bei akut kranken medizinischen Patienten (z.B. MAGELLAN-Studie mit Rivaroxaban einmal 10 mg pro Tag) zeigten
zwar im Vergleich zu Plazebo eine höhere Wirksamkeit, aber auch eine höhere Blutungsrate (keine Zulassung). Auch für die Thromboseprophylaxe in der Allgemeinchirurgie besteht keine Zulassung. Weil es zum Beispiel mit Dabigatran (2-mal 150 mg pro Tag) in der RE-ALIGN-Studie bei Patienten mit mechanischen Herzklappenprothesen im Vergleich zu Vitamin-K-Antagonisten nicht nur zu mehr Embolien, sondern auch zu mehr Blutungen kam, liegt hier eine Kontraindikation vor (Tabelle 1). Apixaban und Dabigatran sind zweimal täglich einzunehmen, Edoxaban und Rivaroxaban nur einmal täglich.
Management von Blutungsrisiken
Für die meisten Eingriffe sollten DOAK mindestens 24 Stunden zuvor gestoppt werden, für Hochrisikooperationen (z.B. am ZNS) sogar bis über 48 Stunden zuvor. Weil alle DOAK in grösserem oder geringerem Ausmass durch die Nieren ausgeschieden werden, ist bei Niereninsuffizienz ein noch längerer Vorlauf angebracht. Das gilt besonders für Dabigatran, das zu 80 Prozent über die Nieren eliminiert wird. Vor kleinen Eingriffen mit geringem Blutungsrisiko (z.B. Hautbiopsien) muss die DOAK-Einnahme in der Regel nicht unterbrochen werden, sondern es reicht aus, den Eingriff zum Zeitpunkt des minimalen Plasmaspiegels einzuplanen. Der Talspiegelzeitpunkt liegt beispielsweise bei einmal täglicher morgendlicher Einnahme von Rivaroxaban unmittelbar vor der Einnahme am nächsten Morgen. Dieser Zeitpunkt sei geeignet für den Bagatelleingriff, und die nächste Medikamenteneinnahme könne um 3 bis 4 Stunden aufgeschoben werden, so der Referent. Im Zweifelsfall erhält man durch präoperative Labormessungen sehr genau und spezifisch Auskunft über den aktuell vorhandenen Effekt der Antikoagulanzien. Bei leichten Bagatellblutungen unter DOAK-Therapie reichen meistens Lokalmassnahmen wie Kompression, Tranexamsäure und das Aufschieben der nächsten Dosis um ein paar Stunden aus, ohne dass das Antikoagulans abgesetzt werden muss. Bei mittleren bis schweren Blutungen hingegen muss die Einnahme unterbrochen werden, und es müssen Notfallmassnahmen
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ergriffen werden, die in der Regel eine Spitaleinweisung erforderlich machen. Zu beachten ist, dass die Gegenmittel von Heparin (Protamin) und von Vitamin-K-Antagonisten (Vitamin K) völlig wirkungslos sind.
Einfluss auf Gerinnungstests
DOAK beeinflussen Routinegerinnungstests wie Quick oder INR (International Normalized Ratio), aPTT (activated partial thromboplastin time) und Thrombinzeit. Die im Routinelabor bestimmbaren Gerinnungszeiten sind aber leider nicht sehr aussagekräftig, und es gibt auch keine Zielbereiche wie für Vitamin-K-Antagonisten oder Heparine. Für den Thrombinantagonisten Dabigatran mit einem Spitzenspiegel 2 bis 3 Stunden nach der Einnahme ist die Thrombinzeit ein sensitiver Routinetest. Wenn die Thrombinzeit normal ist, könne man davon ausgehen, dass keine nennenswerte Dabigatrankonzentration mehr vorhanden sei, so der Referent. Der Quick sei dagegen auf Dabigatran mehr oder weniger unempfindlich. Während also die Routinethrombinzeit als Ausschlusstest verwendet werden kann, ermöglichen spezifische Messmethoden – in der Regel auf Basis der Thrombinzeit – die Quantifizierung der Dabigatranwirkung. Dabigatran beeinflusst Anti-Faktor-Xa-Tests überhaupt nicht. Faktor-Xa-Antagonisten (Apixaban, Edoxaban, Rivaroxaban) erreichen ihre maximalen Plasmaspiegel nach 2 bis 4 Stunden. In der Regel sei die Prothrombinzeit (Quick/INR) der empfindlichste Routinetest oder besser gesagt weniger unempfindlich als andere Routinetests, so der Referent. Faktor-Xa-Antagonisten haben keinerlei Auswirkung auf die Thrombinzeit. Die für das Monitoring der Vitamin-KAntagonisten standardisierten Tests Quick und INR sagen in Bezug auf die Faktor-Xa-Antagonisten nicht dasselbe aus. Hinter einem normalen Quick könne sich durchaus eine relevante Konzentration von zum Beispiel Rivaroxaban verbergen, sagte Dr. Studt.
Verfälschungen bei der Thrombophilieabklärung
Im Thrombophilielabor können Faktor-Xa-Antagonisten alle Faktor-X-abhängigen Tests verfälschen. Am relevantesten ist ein falsch pathologischer Lupus-Antikoagulans-Test. Wenn diese Verfälschungsmöglichkeit nicht berücksichtigt werde, könne fälschlicherweise ein Antiphospholipidantikörpersyndrom diagnostiziert und eine lebenslange Antikoagulation durchgeführt werden. Es sei deshalb unbedingt ein Kontrolltest nötig, wenn unter dem Einfluss von FaktorXa-Antagonisten Lupus-Antikoagulans positiv getestet wurde, so der Referent. Der Kontrolltest kann entweder nach Beendigung der Antikoagulation erfolgen oder zum Zeitpunkt eines minimalen Plasmaspiegels (12 bzw. 24 h nach der letzten Einnahme) vor der nächsten Einnahme. Faktor-Xa-Antagonisten können auch weitere Testresultate verfälschen. Beispielsweise können für die Protein-C- und Protein-S-Aktivität fälschlicherweise normale Werte gemessen werden, wodurch eine Thrombophilie verpasst werden kann. Zur Sicherheit wird in der Hämatologie am Universitätsspital Zürich bei allen Thrombophilieabklärungen im Hintergrund auch die Anti-Faktor-Xa-Aktivität gemessen, um eine durch Medikamente bedingte Verfälschung der Testresultate erfassen zu können. Zur Messung der Wirkung von Apixaban, Edoxaban und Rivaroxaban eignen sich am
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besten Anti-Faktor-Xa-AktivitätsTests. Es handelt sich dabei um Tests, wie sie zum Monitoring von Heparin und niedermolekularen Heparinen verwendet werden (Kasten). Erstaunlich oft komme es vor, dass Patienten nicht sagen können, welche oralen Antikoagulanzien sie eingenommen haben. Häufig können sie sich nicht einmal erinnern, zu welchem Zeitpunkt die Einnahme erfolgte. Wenn man herausfinden möchte, welches Antikoagulans vom Patienten eingenommen wurde, kann man sich an der Tabelle 2 orientieren. Quick und INR reagieren besonders stark auf Vitamin-K-Antagonisten und werden durch Dabigatran praktisch nicht beeinflusst. Die Beeinflussung durch Faktor-Xa-Antagonisten ist je
nach Zeitpunkt (Spitzenspiegel- bzw. Talspiegelzeitpunkt) mehr oder weniger stark ausgeprägt. Die Thrombinzeit bleibt durch Vitamin-K-Antagonisten völlig unbeeinflusst, wird aber durch Dabigatran in sehr ausgeprägtem Mass verlängert. Faktor-Xa-Antagonisten beeinflussen die Thrombinzeit überhaupt nicht. Wenn die Thrombinzeit bei der Messung verlängert ist und ein orales Antikoagulans im Spiel ist, muss es sich um Dabigatran handeln. Wenn die Anti-Faktor-Xa-Aktivität, die weder durch Vitamin-K-Antagonisten noch durch Dabigatran beeinflusst wird, erhöht ist, muss es sich beim dafür verantwortlichen oralen Antikoagulans entweder um Apixaban, Edoxaban oder um Rivaroxaban handeln. Auf die Frage, was ein Patient tun soll,
wenn er die morgendliche Rivaroxa-
bandosis vergessen hat, antwortete
Dr. Studt in der Diskussion: «Wenn
ein Patient am Abend bemerkt, dass er
die morgendliche Rivaroxabandosis
versehentlich nicht eingenommen hat,
sollte er die Dosis am Abend nachneh-
men und am nächsten Morgen wie
gewohnt mit der Tabletteneinnahme
fortfahren.»
O
Alfred Lienhard
Quelle: Medidays 2015, Seminar Hämatologie: Antikoagulation 2015, Dr. Jan-Dirk Studt ,31. August 2015, Zürich.
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