Transkript
BERICHT
Highlights vom ESC 2015
Neue Leitlinie zum akuten Koronarsyndrom vorgestellt
Neue Guidelines standen im Mittelpunkt des diesjährigen Kongresses der European Society of Cardiology, der vom 29. August bis zum 2. September in London stattfand. Weitere Schwerpunkte des Kongresses waren Neuigkeiten aus der Forschung sowie aktuelle Daten zu den kardiologischen Folgen von Umweltverschmutzung.
Reno Barth
Eine Präsentation im Rahmen des ESCKongresses 2015 dürfte den Anfang einer Revolution in der Medizintechnik markieren. In der prospektiven, nicht randomisierten Pre-Marketing-Studie LEADLESS II wurde ein kabel- und elektrodenloser Herzschrittmacher an 526 Patienten getestet (1). Das Gerät hat die Form eines Metallstabs, der im Ventrikel direkt in das Myokard geschraubt wird, und benötigt keinerlei Kabelverbindungen. Die gesamte Elektronik und die Batterie, deren Lebensdauer mit 15 Jahren angegeben wird, befinden sich in diesem Stab. Elektrische Impulse werden über die Metalloberfläche direkt an das Myokard abgegeben. Sechsmonatsdaten aus der LEADLESS-II-Studie, die die Wirksamkeit und die Sicherheit des Schrittmachers untersucht, wurden im Rahmen einer Hotline-Sitzung des ESC 2015 vorgestellt. LEADLESS II war weitgehend erfolgreich. Mehr als 90 Prozent der implantierten Geräte funktionierten einwandfrei, der primäre Sicherheitsendpunkt – Fehlen schwerer unerwünschter DeviceWirkungen – traf auf mehr als 90 Prozent der Patienten zu. Allerdings wurde im Rahmen der Diskussion deutlich angesprochen, dass der kabellose Schrittmacher ungeachtet der erfreulichen Daten derzeit noch ein höheres Risiko bedeutet als ein konventioneller Schrittmacher. Insbesondere wurde bei wenigen Patienten bei der Implantation der Herzmuskel perforiert. Auch wurde das nicht randomisierte Design der Studie kritisiert. Ob dies der Lernkurve geschuldet ist oder ob Veränderungen im Design des Devices erforderlich sind, müssen weitere Studien klären.
Neue Leitlinie
zum akuten Koronarsyndrom
Im Rahmen des ESC 2015 wurden auch mehrere aktualisierte Leitlinien vorgestellt. Die für die grösste Patientenzahl bedeutsame ist sicher die Guideline zum akuten Koronarsyndrom ohne ST-Strecken-Hebung (2). Im Vergleich zur ESC-Guideline von 2011 sind einige wichtige Neuerungen enthalten. Die wohl wichtigste bedeutet für zahlreiche Zentren in Europa die Notwendigkeit zur Umstellung ihrer täglichen Routine. Bei der perkutanen Intervention im Katheterlabor nach Non-STEMI soll vom transfemoralen Zugang auf den radialen Zugang umgestellt werden. Bisher stand es Zentren frei, den einen oder anderen Zugang bevorzugt zu verwenden. Daraus ergaben sich «kulturelle» Unterschiede zwischen Ländern und Zentren. Studiendaten hätten gezeigt, dass es bei transfemoralem Zugang vermehrt zu Blutungskomplikationen und in der Folge zu erhöhter Mortalität komme, so Prof. Dr. Marco Roffi vom Universitätsspital Genf, der Vorsitzende der Task Force, die die Leitlinie erstellte, bei der Präsentation. Aus diesem Grund müsse nun europaweit umgestellt werden, wobei es wichtig sei, dass die Möglichkeit zur Intervention über den transfemoralen Zugang an den Zentren nicht verloren gehe. Dieser werde nämlich für andere Eingriffe wie zum Beispiel die Implantation interventioneller Klappen oder die Behandlung struktureller Herzerkrankungen sowie für periphere Revaskularisierungen benötigt. Um Patienten schneller ins Katheterlabor zu bringen, wird nun eine rasche und praktikable Stratifizierung nach Risikogruppen
empfohlen, die sich an den Troponinwerten und an deren Veränderung über die Zeit orientiert. Die Troponinbestimmung soll möglichst mit einem hochsensitiven Assay erfolgen. Gemäss der älteren ESC-Leitlinie aus dem Jahr 2011 soll dies gleich bei Spitalaufnahme und ein zweites Mal nach drei Stunden geschehen. Diese relativ lange Wartezeit kann verkürzt werden, sofern ein hochsensitiver Assay verfügbar ist. Für diesen Fall schlägt die aktualisierte Guideline einen alternativen Algorithmus mit einer zweiten Troponinbestimmung bereits nach einer Stunde vor. Dazu ein weiteres Mitglied der Task-Force, Prof. Dr. Carlo Patrono von der Università Cattolica del Sacro Cuore in Rom: «Beide Algorithmen sind gleich gut, und beide können verwendet werden.» Wobei die schnellere Diagnose des neuen Algorithmus zweifellos ihre Vorzüge hat. Sie kann einerseits die PCI beschleunigen, andererseits aber auch die schnellere und vor allem sichere Entlassung von Patienten ermöglichen, hinter deren Symptomen kein akutes Koronarsyndrom steht. Prof. Patrono: «Der neue Algorithmus verkürzt die Zeit in der Notaufnahme.» Änderungen gibt es auch bei der Empfehlung einer dualen Antiplättchentherapie (DAPT), bestehend aus einem P2Y12-Inhibitor und Acetylsalicylsäure (ASS). Sie ist nach einer Koronarintervention infolge eines Non-STEMI grundsätzlich indiziert, wobei die generelle Empfehlung auf ein Jahr DAPT lautet. Mit der neuen Leitlinie kommt es hier jedoch zu einer Flexibilisierung, die eine bessere Anpassung an die Bedürfnisse des individuellen Patienten erlaubt. Konkret kann die Behandlung abhängig vom Risikoprofil auf 3 bis 6 Monate verkürzt oder auf bis zu 30 Monate ausgedehnt werden. Prof. Roffi: «Dank der verbesserten Stenttechnologie sind die Raten von Stentthrombosen dramatisch zurückgegangen. Aktuelle Daten zeigen, dass unter diesen Bedingungen eine verkürzte DAPT für Patienten mit hohem Blutungsrisiko sicher und effektiv ist.
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Gleichzeitig haben wir aber auch Daten, die langfristige Vorteile bei verlängerter DAPT zeigen. Diese kann daher bei Patienten mit hohem ischämischem und geringem Blutungsrisiko gewählt werden.» Änderungen gibt es auch hinsichtlich des in der Leitlinie von 2011 empfohlenen «pre-loading». Wird dieses mit Prasugrel durchgeführt, erhöht es das Blutungsrisiko, ohne Vorteile zu bringen. Für Clopidogrel und Ticagrelor sind nicht ausreichend Daten vorhanden, um diese Frage zu beantworten. Prof. Patrono: «Eine Vorbehandlung mit Prasugrel betrachten wir jetzt als kontraindiziert. Das ist ein Paradigmenwechsel. Im Fall von Clopidogrel und Ticagrelor haben wir eine echte Evidenzlücke, die dringend geschlossen werden müsste.» Zum ersten Mal wird in der Leitlinie auch eine Tripletherapie berücksichtigt. Diese können Patienten erhalten, die wegen Vorhofflimmerns unter Antikoagulation stehen und zusätzlich ein akutes Koronarsyndrom entwickeln. In solchen Fällen soll in Abhängigkeit von den individuellen Risiken für eine bestimmte Zeit die DAPT zusätzlich zur Antikoagulation gegeben und danach auf eine Kombination aus Antikoagulation und einem Antiplättchenmedikament umgestellt werden. In dieser Indikation sind die neueren P2Y12 nicht empfohlen. Damit bleibt die Wahl zwischen ASS und Clopidogrel.
Komplizierte Diagnostik
beim Lungenhochdruck
Neben der neuen Non-STEMI-Leitlinie wurden in London auch mehrere weitere Guidelines vorgestellt, die zum Teil ebenfalls klinisch bedeutsame Veränderungen enthalten. Dazu gehört auch die gemeinsam mit der European Respiratory Society (ERS) erstellte Leitlinie zur pulmonalen Hypertension (3). Sie enthält erstmals Empfehlungen zu den in den letzten Jahren in dieser Indikation zugelassenen neuen Medikamenten. Auch hinsichtlich der Diagnosestellung wird Klarheit geschaffen. Betont wird, dass allein ein Befund aus der Echokardiografie noch keine Diagnose und keine Indikationsstellung zur Therapie erlaubt. Vielmehr bleibt die Voraussetzung für eine Therapie die Untersuchung mit dem Rechtsherzkatheter, die in einem spezialisierten Zentrum durchgeführt werden muss. Die Indikation zur Katheterisierung wird auf Basis der trikuspidalen Regurgitationsgeschwindigkeit in Verbindung mit klinischen Faktoren gestellt. Auch ein neuer Therapiealgorithmus wurde vorge-
stellt, der sich am individuellen Risikoprofil des Patienten orientiert und sowohl sequenzielle als auch initiale Kombinationstherapien berücksichtigt. In der neuen Leitlinie zu ventrikulären Arrhythmien (4) wird die Empfehlung verstärkt, Patienten mit ausgeprägter Herzinsuffizienz einen implantierbaren Kardioverter-Defibrillator (ICD) zu implantieren. Basis dieser Empfehlung sind die Daten der MADIT-Studie, die nach einem Follow-up von mittlerweile acht Jahren zeigen, dass bei Patienten mit weniger als 30 Prozent linksventrikulärer Auswurffraktion durch den ICD eine signifikante Reduktion der Mortalität erreicht werden kann. Neu ist die Empfehlung, bei allen Personen, die ohne bekannte kardiologische Vorerkrankung an einem plötzlichen Herztod versterben, eine DNA-Analyse durchzuführen, um genetische Erkrankungen diagnostizieren und Verwandte des Verstorbenen entsprechend beraten zu können.
Herzkrank durch
Umweltverschmutzung
Einen besonderen Schwerpunkt des diesjährigen Kongresses bildete das Thema Herz und Umwelt. Präsentiert wurden mehrere Studien, die auf signifikante Zusammenhänge zwischen Schadstoffbelastung und kardiovaskulärem Risiko hindeuten. So verglich eine polnische Gruppe kardiovaskuläre Risikomarker von jungen, gesunden Probanden im stark umweltbelasteten Krakau und dem wesentlich weniger verschmutzten Lublin (5). Die Probanden mussten seit ihrer Geburt in der jeweiligen Stadt gelebt haben; die Gruppen waren hinsichtlich bekannter Risikofaktoren wie Body-Mass-Index oder Lebensstil vergleichbar. Verglichen wurden Blutdruck, Herzfrequenz und Entzündungsmarker im Plasma. Dabei ergaben sich hinsichtlich Blutdruck und Herzfrequenz keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen. Sehr wohl waren jedoch die Entzündungsmarker bei den Teilnehmern aus Krakau höher. Sie betrugen für Lublin vs. Krakau: O C-reaktives Protein (CRP): 0,4; Inter-
quartile Range [IQR]: 0,5 vs. 0,77; IQR 0,6 mg/ml, p < 0,0001 O Hs (high-sensitivity-)CRP: 0,35; IQR 0,4 vs. 0,50; IQR 0,6 mg/ml, p < 0,0001 O Homocystein (Hcy): 9,03; IQR 4,6 vs. 10,3; IQR 4,4 M, p < 0,0001 O Fibrinogen: 244; IQR 57,7 vs. 263; IQR 87,8 mg/dl, p < 0,0001.
Waren zusätzliche Risikofaktoren vorhan-
den, verstärkten sie den Effekt, was bei
übergewichtigen Personen in Krakau zu
den ungünstigsten Werten führte.
Schliesslich zeigte eine Analyse des belgi-
schen STEMI-Registers, dass chronische
Umweltbelastung nicht nur ungünstige
Auswirkungen auf die Herzgesundheit hat,
sondern auch akut zu kardiovaskulären Er-
eignissen führen kann (6). Für die Studie
wurden mehr als 10 000 Infarkte ausge-
wertet und mit den ebenfalls sehr genauen
belgischen Daten zur Belastung durch Luft-
schadstoffe korreliert. Des Weiteren wurde
das STEMI-Risiko in Bezug auf Aussen-
temperatur, Jahreszeit und Wochentag ad-
justiert. Die Studie zeigte eine signifikante
Korrelation von Luftverschmutzung und
akutem Infarktrisiko. Jeder Anstieg von
Feinstaub und NO2 von jeweils 10 µg/m3
führte zu einem geringen, aber signifikan-
ten Anstieg des relativen STEMI-Risikos,
wobei der Effekt mit RR 1,051 (IC 95%:
1,018–1,084) für NO2 am deutlichsten
war. Für Ozon wurde hingegen keine ver-
gleichbare Wirkung gefunden.
Angesichts dieser Daten hat die ESC ge-
meinsam mit anderen Gesellschaften eine
«Clean Air Petition» verfasst, die die EU-
Kommission auffordert, die Themen Luft-
qualität und Lärm in ihre Präventionsstra-
tegien aufzunehmen und mehr für die Ein-
haltung der von der WHO empfohlenen
Grenzwerte zu tun.
O
Reno Barth
1. Präsentiert von Dr. Vivek Reddy im Rahmen der Hotline II am 30. September in London.
2. Roffi M et al.: 2015 ESC Guidelines for the management of acute coronary syndromes in patients presenting without persistent ST-segment elevation: Task Force for the Management of Acute Coronary Syndromes in Patients Presenting without Persistent ST-Segment Elevation of the European Society of Cardiology (ESC). Eur Heart J 2015, doi: 10.1093/ eurheartj/ehv320.
3. Galiè N et al.: 2015 ESC/ERS Guidelines for the diagnosis and treatment of pulmonary hypertension. Eur Heart J 2015, doi: 10.1093/eurheartj/ehv317.
4. Priori SG et al.: 2015 ESC Guidelines for the management of patients with ventricular arrhythmias and the prevention of sudden cardiac death. Eur Heart J 2015, doi: 10.1093/ eurheartj/ehv316.
5. Bryniarski KL: Risk of hypertension and chronic low grade inflammation among healthy young subjects living in the cities with different ambient air pollution. ESC 2015, FP 2022.
6. Argacha JF et al.: Particulate matter and NO2 air pollution trigger ST-elevation myocardial infarction: a case cross-over study of the Belgian STEMI registry 2009–2013. ESC 2015, FP 4195.
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