Transkript
FORTBILDUNG
Therapeutische Lokalanästhesie
Schmerz vertreibt Schmerz
Was tun, wenn Schmerzen unsere älteren Patienten plagen und bei vielen Aktivitäten des täglichen Lebens behindern? Durch Multimorbidität und schon vielfache Medikation ist die Arzneimitteltherapie oft nicht gangbar wegen der Gefährdung durch Nebenwirkungen, Retention und Interaktionen. Ist vielleicht die therapeutische Lokalanästhesie (TLA) bei diesen Patienten eine gute Alternative?
Diethard Sturm
Von ihrem Hausarzt erwarten die Patienten eine Befreiung von Schmerzen und anderen Störungen und die Lösung ihres Problems. Die Anwendung von Lokalanästhetika bietet in der Hand des Hausarztes ein unkompliziert und risikoarm anwendbares Methodeninventar. Das gemeinsame Erlebnis der Beschwerdeminderung innerhalb von Minuten ist eindrucksvoll und vertrauensbildend. Und der Erfolg macht einfach Spass. Einfach und wirksam sind Quaddelung und Infiltrationen von Muskeln und Schmerzpunkten. Ausserdem hat die Störfeldbehandlung Bedeutung über die Schmerztherapie hinaus bei anderen funktionellen Störungen – übrigens eine Therapie, die von praktischen Ärzten entwickelt wurde (Neuraltherapie nach Ferdinand und Walter Huneke, Erstveröffentlichung 1928, Weiterentwicklung 1940). Die Gesellschaft für Neuraltherapie übernimmt heute die weitere wissenschaftliche Bearbeitung und die Fortbildungsarbeit.
MERKSÄTZE
Allen diesen Methoden ist gemeinsam, dass die Injektion schmerzhaft ist, sonst wäre keine Indikation gegeben. Darauf sollte der Patient vorbereitet sein. Der rasche Wirkungseintritt entschädigt den Patienten für sein kurzes Leiden. Wir verwenden ausschliesslich kurz wirksame Lokalanästhetika wie Procain oder Lidocain ohne Zusätze, auch ohne Kortison.
Schmerzpunktlöschung
Die einfachste und zugleich am vielfältigsten einsetzbare Methode ist die Schmerzpunktlöschung. So bezeichnen wir die Infiltration von Schmerzpunkten und -zonen im Bindegewebe oder in der Muskulatur, zum Beispiel Schmerzpunkte am Ursprung von Muskeln, an den Kollateralbändern des Kniegelenks, an Bursae und posttraumatisch schmerzhaften Periostpunkten und in Myogelosen. Mit anderen Worten: Die Injektion erfolgt «da, wo’s wehtut», sofern sich nicht problematische Gefässe oder andere Strukturen in der Region befinden; deshalb die etwas spöttische Bezeichnung «Dawos»-Methode. Technik: 1 bis 2 Milliliter des Lokalanästhetikums werden in die schmerzhafte Muskulatur (bei Enthesopathien oder Myogelosen), in die Nähe von Sehnen, Bändern, Periost oder in andere schmerzhafte Strukturen gespritzt. Nicht in Sehnen oder Bänder spritzen! Wir agieren in einem sehr gereizten Gebiet wie bei der Triggerpunktbehandlung der manuellen Therapie. Wirkung: Mit folgenden Wirkungen ist zu rechnen: O Schmerzlöschung innerhalb einer Minute und Relaxation
des ansetzenden Muskels O die Spirale Schmerz-Spannung-Schmerz wird unterbro-
chen, dadurch hält die Schmerzlöschung länger an als die Wirkung des Lokalanästhetikums O Normalisierung der Durchblutung.
O Die Anwendung von Lokalanästhetika bietet in der Hand des Hausarztes ein unkompliziert und risikoarm anwendbares Methodeninventar.
O Einfach und wirksam durchzuführen sind Quaddelung und Infiltrationen von Muskeln und Schmerzpunkten. Ausserdem hat die Störfeldbehandlung Bedeutung über die Schmerztherapie hinaus bei anderen funktionellen Störungen.
O Verwendet werden sollten ausschliesslich kurz wirksame Lokalanästhetika wie Procain oder Lidocain ohne Zusätze, auch ohne Kortison.
Bei einer Schmerzbefreiung, die länger anhält als die unmittelbare Wirkungszeit des Lokalanästhetikums, also über 2 Stunden hinaus, und insgesamt einer Minderung der Schmerzen bis zur nächsten Konsultation kann die Infiltration wiederholt werden. Dies ist gegebenenfalls auch mehrmals möglich, beispielsweise bei der Epikondylitis. Wird kein weiterer Fortschritt erreicht, ist die Indikation zu prüfen beziehungsweise sind begünstigende Faktoren auszuschalten. Bei der Epikondylitis zum Beispiel wären die Blockierungen des zervikothorakalen Übergangs zu lösen oder durch Quaddelungen dort zu lockern. Nebenwirkungen und Risiken: Es besteht die Gefahr, Nerven zu anästhesieren und kurzzeitige Paresen oder eine flächige
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Anästhesie über das Infiltrationsgebiet hinaus auszulösen. Eine Arterienpunktion kann man durch die Palpation der Schmerzregion vermeiden. In der Praxis ist es einfach unwahrscheinlich, weil sich in der Nähe von Muskelansätzen keine grösseren Gefässe befinden. Die kleinstmögliche Kanüle mindert ebenfalls das Risiko. Sorgfältige Indikationsstellung ist bei Patienten mit Antikoagulationsbehandlung erforderlich. Aber gerade bei diesen stellt die Behandlung mit Analgetika ein noch grösseres Risiko dar. Keinesfalls darf man in Infektionsherde, etwa Abszesse, punktieren. Ausbleibender Erfolg: Entwickelt der Patient gar keine Reaktion, besagt dies, dass der Schmerz nur dorthin projiziert wird. Das kann im Rahmen eines Pseudoradikulärsyndroms (Wirbelblockierung), des engen Spinalkanals oder bei somatoformen Schmerzen/Depressionen der Fall sein. Eine Schmerzminderung, die nur beschränkt ist auf die unmittelbare Wirkdauer des Lokalanästhetikums, weist auf einen entzündlichen oder tumorösen Prozess hin. In beiden Fällen ist eine Wiederholung nicht indiziert, sondern es sollte nach der zugrunde liegenden Ursache des Schmerzes gefahndet werden.
Quaddelung
Die Wirkung der Quaddelung beruht auf der vegetativen Verkettung der Strukturen innerhalb eines Bewegungssegments. Ein Schmerzreiz löst eine reflektorische Relaxation der Muskulatur im gleichen Segment aus. Muskelverspannungsschmerz lässt sich so gut mindern. Technik: Bevorzugt erfolgt die Quaddelung etwa zwei Querfinger lateral der Mittellinie (auf dem Blasenmeridian!) in den Segmenten der Verspannung, etwa im Abstand jeweils einer Wirbelhöhe. Es empfiehlt sich, die kleinste Kanüle und auch nur eine kleine Spritze (2 ml) zu verwenden, denn dadurch ist ohne grosse Mühe ein ausreichender Druck zu erzielen. Das Einstechen mit kurzem Ruck ist schonender als langsames Einschieben. Wirkung: Wirkungen sind eine rasche Muskelrelaxation verspannter Muskeln im Segment. Es kommt zur Schmerzminderung, weil der muskuläre Spannungsschmerz entfällt. Patienten empfinden oft Wärme durch die bessere Durchblutung bei Muskelentspannung. Die Quaddelung ist als Serie einsetzbar mit täglicher Behandlung oder Behandlung an jedem zweiten Tag. Im Laufe der Serie kommt es zu fortschreitender Entspannung und Schmerzabbau, die sinnvoll unterstützt werden durch Bewegung, Wärme und andere Hausmittel. Die Quaddelung kann – nach entsprechender Einweisung und unter Anwesenheit/Erreichbarkeit des Arztes – an die medizinischen Fachangestellten delegiert werden. Nebenwirkungen und Risiken: Wie bei jeder Injektion (oder beim Erblicken einer Spritze oder beim Gedanken an eine Injektion) ist ein Kollaps möglich, deswegen sollten empfindliche Personen am besten im Liegen oder auf der Liege sitzend
behandelt werden, um Kollateralschäden zu vermeiden. Die Quaddelung ist auch bei erhöhter Blutungsneigung infolge von Antikoagulation (intrakutan, kleinste Kanüle) durchführbar. Ausbleibender Erfolg: Störfelder oder Erkrankungen im Segment können eine nachhaltige Wirkung verhindern. Deshalb sollte eine unzureichende Wirkung unbedingt Anlass zur Ursachensuche geben. Es empfiehlt sich, die Diagnose abwartend offenzuhalten und aufmerksam zu beobachten.
Lokalanästhesie der Wirbelgelenke
Als Alternative zur manuellen beziehungsweise chiropraktischen Blockierungslösung ist die therapeutische Lokalanästhesie als Umflutung der Wirbelgelenke möglich. Die Relaxation führt bei ausreichender Bewegung zur Blockierungslösung. Technik: In der Zone stärkster Störung (Verspannung von Haut, Subkutis und Muskulatur sowie der stärksten Stichkanalblutung nach Quaddelung) wird genau senkrecht zur Hautoberfläche eingestochen und vorsichtig bis zum Knochenkontakt vorgeschoben, dann Injektion von rund 1 ml Lokalanästhetikum. Nicht nach lateral, kranial oder kaudal abweichen! Der Abstand von der Medianlinie beträgt im Bereich der BWS und der LWS einen Querfinger. Im Bereich der HWS ist der Wirbelkanal breiter, die Wirbelgelenke liegen weiter lateral, deshalb zwei Querfinger seitlich der Medianlinie. Wirkung: Das Wirbelgelenk wird umflutet, die umgebenden Strukturen werden relaxiert und die vegetativen Reize gelöscht. Dadurch kommt es zunächst vorübergehend zur Lösung des Pseudoradikulärsyndroms, gegebenenfalls auch zur Spontanlösung der Blockierung (deshalb soll sich der Patient nach der Infiltration bewegen!). Wiederholungen sind indiziert bei unvollständiger, aber dennoch spürbarer Besserung. Nach der zweiten Infiltration sollte das Problem allerdings gelöst sein, sonst ist die Indikation zu überdenken und eine andere Behandlungsstrategie zu suchen. Nebenwirkungen und Risiken: Falsche Technik kann theoretisch zur Infiltration des Rückenmarkkanals führen (Abweichen der Stichführung nach kranial) oder zur Pleura- und Lungenpunktion (Abweichen der Stichführung nach lateral). Ausbleibender Erfolg: Hält die Wirkung nicht über 2 Stunden hinaus an, lässt dies auf eine organische Schmerzursache (z.B. Facettenentzündung) beziehungsweise eine bleibende Reizquelle (Tumor im Segment) schliessen. In diesem Fall ist die Ursache zu suchen und die Therapie umzustellen.
Infiltration von Störfeldern
Störfelder sind vegetative Reizquellen, die durch die andauernde, unkoordinierte Depolarisation gestörter Zellen entstehen. Diese minimalen Impulse stören die vegetative Regulation. Als Störfelder wirken insbesondere Narben.
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LINKTIPP
www.hausarztforschung.de
Fallbeispiele und Techniken sind auf einer DVD des HBF (Institut für hausärztliche Bildung und Forschung Dr. Sturm GmbH) dargestellt. Zu beziehen nur direkt beim Institut unter www.hausarztforschung.de
Bei Instabilität, zum Beispiel bei starker Belastung, akuter Erkrankung, dauernder Stresssituation und so weiter, kommt es zu verschiedenartigen Beschwerden, darunter vor allem Schmerzstörungen. Die Störfeldwirkung kann sich als segmentale Störung über eine reflektorische Wirbelgelenksblockierung manifestieren, aber auch als Fernstörung in einer beliebigen Körperregion Schmerzen verursachen. Wir fragen den Patienten nach Verletzungen beziehungsweise Operationen und suchen die Körperoberfläche nach Narben ab. Auch kleinste Narben wie die von Schlüssellochoperationen oder nach Arthroskopie sind sehr oft aktiv. Nicht zuletzt sind Piercings einzubeziehen (d.h. zu entfernen) und die Narben zu behandeln. Technik: Die verdächtige Narbe wird vollständig oberflächlich mit dem Lokalanästhetikum infiltriert. Es dürfen keine nicht anästhesierten Bereiche bleiben, auch müssen möglichst alle Störfelder in gleicher Sitzung erfasst werden. Sie aktivieren («infizieren») sich sonst sofort wieder gegenseitig. Wirkung: Die Infiltration eines Störfeldes ist schmerzhaft. Durch das Lokalanästhetikum erfolgt die Löschung der von Störfeldern ständig ausgehenden unspezifischen Signale, mitunter tritt während oder unmittelbar nach der Infiltration das «Sekundenphänomen» auf, wenn die vollständige Löschung sofort gelingt. Es äussert sich in einer oft starken vegetativen Allgemeinwirkung und einer sofortigen Schmerzbefreiung.
Die Patienten sollten die Wirkdauer möglichst genau vermerken. Im Allgemeinen kommt es nach mehreren Stunden oder nach einem ganzen Tag zum «Rezidiv», das heisst zum abgeschwächten Wiederauftreten der ursprünglichen Beschwerden. Dann ist innerhalb weniger Tage eine erneute Behandlung indiziert, bei weiterer Besserung bis zum Sistieren der Beschwerden. Damit ist etwa nach drei bis fünf Behandlungen zu rechnen. Bei schweren Störungen kann auch eine langfristige Behandlung in grösseren Abständen sinnvoll sein. Ausbleibender Erfolg: O wenn die Beschwerden nicht von den Störfeldern verur-
sacht wurden O wenn nicht alle Störfelder vollständig erfasst wurden O wenn die Störfelder von Entzündungen oder anderen
Quellen angefacht werden (z.B. dentaler Fokus).
Bei Erfolglosigkeit sollten keine weiteren Versuche der Stör-
feldbehandlung erfolgen, solange sich keine neuen Gesichts-
punkte ergeben.
O
Dr. med. Diethard Sturm Facharzt für Allgemeinmedizin Richterweg 29a D-09125 Chemnitz Tel. ++49 163-63 87 984 Fax ++49 371-50 400 E-Mail: hbfsturm@aol.com Internet: www.hausarztforschung.de
Interessenkonflikte: Der Autor hält Seminare und Kurse im Auftrag des Deutschen Hausärzteverbandes. Er ist Geschäftsführer des HBF (Institut für hausärztliche Bildung und Forschung Dr. Sturm GmbH), Hohenstein-Ernstthal.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 3/2015. Die Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.
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