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Titel
Büchertod
Untertitel
-
Lead
«Das Buch ist tot!», sagte Freund Rodolfo und nahm einen grossen Schluck Rotwein. Demnach lag vor uns ein Haufen Leichen, denn Rodolfo, Buchhändler, Literaturliebhaber und Kleinstverleger, bringt immer ein halbes Dutzend neuer Bücher mit, wenn er mich besucht. Nicht ganz selbstlos, denn ich bin sein Testpublikum. Melde ihm zurück, welches der Werke ich warum gerne lese und wie ich die Verkaufschancen sehe.
Datum
Autoren
-
Rubrik
ARSENICUM
Schlagworte
-
Artikel-ID
16719
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Arsenicum: Büchertod?

«Das Buch ist tot!», sagte Freund Rodolfo und nahm einen grossen Schluck Rotwein. Demnach lag vor uns ein Haufen Leichen, denn Rodolfo, Buchhändler, Literaturliebhaber und Kleinstverleger, bringt immer ein halbes Dutzend neuer Bücher mit, wenn er mich besucht. Nicht ganz selbstlos, denn ich bin sein Testpublikum. Melde ihm zurück, welches der Werke ich warum gerne lese und wie ich die Verkaufschancen sehe. Änschgi, Ökonom, nickte und griff sich die Flasche mit dem Rest Rotwein. «Ja, mausetot. Alles in Zukunft nur noch via E-Book. Schade. Es hatte was, dieses Taktile. Und die schönen Bilder in den Coffee-Table-Books.» Vermutlich waren es die sicher mehr als 0,5 Promille, die mich in der Gesellschaft zweier Profis, die es wissen mussten, fürs Buch kämpfen liessen. «Aber die Frankfurter Buchmesse! Grösser denn je! Und die Verkaufszahlen 2015!», begehrte ich auf. Beide lächelten. «Der Sturm vor der Ruhe. War bei der Langspielplatte genau dasselbe», seufzte Änschgi. «Was haben sie da nicht alles vorgebracht an Argumenten, warum die LP nicht sterben würde. Unerreichbare Tonqualität der Vinylplatte. Wunderwerke der Grafik und der Fotografie auf den Covers. Heute ist sie tot. Und ich hocke auf meiner Sammlung von 8000 Vinylplatten, die keiner mehr kaufen will. Genau so wird es den Büchern ergehen. Nur die Stiftsbibliothek in St. Gal-

len wird überleben.» Ich versuchte, mir die Ödnis einer bücherlosen Welt vorzustellen. Auf Hausbesuchen sieht man sie öfters. Völlig bücherfreie Wohnstuben. In der Wohnwand sind keine bunten Bücherrücken zu sehen, sondern Nippes und Alkoholflaschen. Mitten drin der riesige Flachbildschirm des Fernsehers. In meiner Jugend waren Silva-Bücher und Reader’s Digest der ganze Stolz der Eltern meiner Freunde. Ein halber Laufmeter Bücherrücken war das Zeichen für Bildung. Bei meinen Eltern nahm nur schon der dunkelblau glänzende «Grosse Brockhaus» mehr als einen Meter ein. Sie liebten Gesamtausgaben klassischer Dichter, die heutzutage niemand mehr lesen kann, weil sie in Frakturschrift gedruckt waren. Nach ihrem Tod wanderten die Ledereinbände mit Goldschrift in meine Bibliothek, dort stehen sie jetzt neben meinen Leinenbänden aus den Sechzigern, den Gesamtausgaben von Brecht, Kästner, Horvath, Tucholsky und den bunten Suhrkamp-Büchlein. Weggeben kam genauso wenig in Frage wie den Kontakt mit den alten Freunden meiner Eltern abzubrechen. Da es meine Frau genauso machte, haben wir jetzt zwölf Schiller-Gesamtausgaben – die selbstgekauften und die unserer Eltern und Grosseltern. Eine schöner als die andere. Und es kommen immer mehr Bücher dazu. Thomas und Julia schenken jedes Mal ein Buch, wenn

sie uns besuchen, und treffen immer genau unseren Geschmack. Bei «Schreiber» in Olten kann ich nicht vorbei gehen, ohne dass es mich quasi in den Laden hereinsaugt und erst wieder hinauslässt, wenn ich mir den neuesten Capus oder einen alten Bichsel gekauft habe. In unserem Haus nisten sich überall Bücher ein. Im Wohnzimmer stehen sie schon zweireihig im Regal, im Schlafzimmer die Krimis und die kitschigen Liebesromane, im Flur die fremdsprachigen Paperbacks. Selbst im Hobbykeller sammelt sich DIY-Literatur an und die Küche ziert eine Kochbuchbibliothek. Wenn wir zügeln müssten, brauchten wir vermutlich nur schon für unsere Bücher einen Extrazügelwagen. Kürzlich trug ich nach vier Stunden «Bücherregalausmisten», welche ich auf der Leiter lesend verbrachte, einen Schuhkarton mit zerfledderten Reclambändchen und einigen Doubletten zum Antiquariat. Und eine Schiller-Gesamtausgabe. Leider kaufte ich dort eine Chiquita-Kiste voll neuer alter Bücher. Änschgi deutet auf unser deckenhohes Bücherregal und fragt: «Hast du die eigentlich alle gelesen?» Ich musste nicht antworten, denn Rodolfo knurrte: «Blöde Frage. Im Weinkeller fragst du ja auch nicht, ob er alle Flaschen schon getrunken hat!» Recht hat er. Und im Gegensatz zu einer Flasche Wein kann man ein Buch immer wieder geniessen. Es lebe das Buch!

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ARS MEDICI 19 I 2015