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Krebs und Ernährung – von kurativ bis palliativ
Malnutrition wird als klinisch relevanter Faktor häufig unterschätzt
Viele Betroffene verlieren oftmals schon vor der Krebsdiagnose viel Gewicht. Als Folge der Krebserkrankung sowie therapiebedingt führen Appetitlosigkeit, Geschmacksveränderungen, Übelkeit und Erbrechen zu einer weiteren Verschlechterung des Ernährungszustands. Die Mangelernährung hat einen erheblichen Einfluss sowohl auf die Prognose der Krebserkrankung als auch auf die Verträglichkeit der Therapie. Deshalb ist die Unterstützung der stark beeinträchtigten Patienten bei der Nahrungsaufnahme eine wichtige und erstrangige ernährungstherapeutische, ärztliche und pflegerische Aufgabe.
Annegret Czernotta
«Bereits 85 Prozent der Patienten mit gewissen Krebserkrankungen, wie Magen- oder Bauchspeicheldrüsenkrebs, haben bei der Diagnose Gewicht verloren», sagte Prof. Peter E. Ballmer, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin am Kantonsspital Winterthur, am Workshop: «30 Prozent dieser Patienten sogar stark.» Die Energie- und insbesondere die Eiweissmangelernährung macht sich mit folgender Problematik bemerkbar: Der
Nahrungsaufnahme kommt es zum Gewichtsverlust und damit einhergehend zu einer reduzierten Mobilität. Durch die krebsbedingte Inflammation erhöht sich das Risiko für Infekte und Fatigue. «Dieser Gewichtsverlust wird bei Tumorpatienten oft erfasst und dokumentiert», so Ballmer, «trotzdem kommt es zu keiner Anmeldung bei den Ernährungstherapeutinnen. Die Frage ist: warum?»
«Oftmals wollen Ärzte Krebspatienten nicht noch mehr Beratungen zumuten, oder der Gewichtsverlust wird falsch interpretiert.»
Immunstatus verschlechtert sich, Infektionen sind die Folge, die Therapie wird schlechter toleriert, und Mortalität und Morbidität erhöhen sich. Auf der ökonomischen Seite erhöhen sich die Gesundheits- und Pflegekosten, und der Spitalaufenthalt verlängert sich. Für die Patienten selber ist die Mangelernährung meist mit einer reduzierten Lebensqualität assoziiert. Diese Verschlechterung des Zustandes spiegelt auch das Anorexie-KachexieSyndrom wider: Durch die reduzierte
Die Ernährungsberaterin Christa Dürig vom Kantonsspital Winterthur versuchte, die Antwort anhand der gängigen Praxis zu geben: «Oftmals wollen Ärzte Krebspatienten in ihrer schwierigen Situation nicht noch mehr Beratungen zumuten, oder der Gewichtsverlust wird falsch interpretiert.» Allerdings zeigen Studien, dass bereits ein tumorassoziierter Gewichtsverlust von 5 Prozent ein unabhängiger Prädiktor für ein schlechteres Ansprechen auf die antitumorale Therapie und das Gesamtüber-
leben ist. Ein frühzeitiger Beginn der Ernährungstherapie ist wichtig, und das Screening auf Mangelernährung sollte alle Tumorpatienten, auch solche mit Übergewicht, einschliessen. Für die Erfassung ist eine Kombination der wichtigsten ernährungsabhängigen Parameter wie Nahrungszufuhr, Gewichtsverlust und -verlauf sowie Ausmass der Erkrankung wichtig. Dies erfüllen beispielsweise der NRS 2002 (Nutritional Risk Score), das MUST (Malnutrition Universal Screening Tool) oder das PG-SGA (Patient-Generated Subjective Global Assessment). Letzteres wurde als einziges Ernährungsscreening speziell für onkologische Patienten entwickelt und validiert. Die Indikation für den Beginn einer Ernährungstherapie liegt dann vor, wenn der Patient ein Risiko für Mangelernährung aufweist, beispielsweise bei einer reduzierten Nahrungszufuhr – auch ohne Gewichtsverlust –, oder wenn aufgrund der Erkrankung oder von Therapienebenwirkungen eine eingeschränkte Nahrungsaufnahme besteht. Ambulante Patienten haben als Richtwert einen Energiebedarf von 30 bis 35 kcal/kg KG/Tag und bettlägerige Patienten von 20 bis 25 kcal/kg KG/ Tag. Der Eiweissbedarf liegt generell bei 1,0 bis 1,5 g/kg KG/Tag. Zudem wird bei unzureichender oraler Zufuhr ein Multivitaminpräparat empfohlen. Die Tabelle beschreibt ein stufenweises Vorgehen für die Ernährungstherapie, welches je nach Situation und Indikation auch enterale und/ oder parenterale Ernährung umfasst. Zur Unterstützung der Proteinsynthese wird geraten, sich eher fettbetont und eiweissreich zu ernähren und die Ernährung mit körperlichen Aktivitäten wie Kraft- und Gleichgewichtsübungen zu kombinieren. Zudem hat die unmittelbare Einnahme von mindestens 20 g
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Tabelle:
Stufenschema der Behandlungsstrategien
Stufe VI Supportive parenterale Ernährung (ZKV, Hickman, Port)
Stufe V Supportive, enterale Ernährung (nasogastrale Sonde, nasojejunale Sonde, PEG-, PEG/J-, PEJ-Sonde)
Stufe IV Hochkalorische Zusatznahrung (Trinknahrung, Getränke, Suppen, Joghurt usw.)
Stufe III Anreicherung der Nahrung (evtl. Maltodextrin- und Eiweisskonzentratpulver)
Stufe II
Ernährungsmodifikation, Ernährungsberatung, angereicherte Wunschkost (z.B. mit Rahm, Butter), häufige kleine Mahlzeiten
Stufe I
Evaluation und konsequente Therapie der individuellen Ursachen (z.B. Schmerzen, Depression, Angst, Zahnprothesen, Soor, Xerostomie)
ZVK: zentralvenöser Katheter; PEG: perkutane endoskopische Gastrostomie; PEG/J: PEG mit jejunaler Sonde; PEJ: perkutane endoskopische Jejunostomie.
Nahrungseiweiss nach körperlicher Aktivität einen positiven Effekt auf den Muskelaufbau.
HNO-Tumoren: eine ernährungs-
therapeutische Herausforderung
HNO-Tumoren und ihre Therapie können grosse Auswirkungen auf den Schluckakt und damit auf die Art und Weise der Nahrungsaufnahme haben, sagte Dr. Simon Müller vom Inselspital Bern. Der häufigste maligne HNOTumor ist das Plattenepithelkarzinom. Es wächst lokal destruktiv, metastasiert früh in Lymphknoten, aber spät in andere Organe. Häufig wird deshalb zu Beginn eine aggressive kurative Strategie gewählt. Vom Plattenepithelkarzinom befallen sind die Mundhöhle, der Larynx und der Oro- und Hypopharynx, seltener auch der Nasopharnyx und die Nasennebenhöhlen. Je nach Stadium und Lokalisation des Tumors wird die Radiotherapie, die Chirurgie oder die Chemotherapie in Betracht gezogen – oder eine Kombination dieser therapeutischen Modalitäten. Jede dieser Therapien hat ihre Konsequenzen in Bezug auf die Nahrungsaufnahme: Die Radiotherapie tötet die Tumorzellen durch Schädigung der DNA ab, schädigt dabei aber auch gesunde Zellen der Schleimhaut, Speicheldrüsen und der umgebenden Weichteile. Dies
führt akut zu einer Strahlenmukositis mit dadurch bedingten Schmerzen beim Schlucken (Odynodysphagie) sowie zu chronisch verminderter Speichelproduktion und hinterlässt oftmals Vernarbungen der Schluckmuskulatur, was deren Funktion deutlich einschränken kann. In Geweben mit einem langsamen Stoffwechsel wie dem Knochen kann es auch Jahre nach einer Bestrahlung noch zu Radionekrosen kommen, was bis zum Verlust der Mandibula führen kann. Auch die chirurgische Therapie kann zu massiven Einschränkungen führen, weil Resektionen grosszügig gemacht werden müssen, um ausreichende Sicherheitsabstände zu gewährleisten. Auch funktionell wichtiges Gewebe wie zum Beispiel Anteile der Zunge, der Schlundmuskulatur oder des Larynx können dann verloren gehen. Sind die Defekte gross, sehen Chirurgen eine Deckung mittels Transplantat vor. Allerdings sind diese Transplantate kein funktioneller Ersatz des resezierten Gewebes, da sie keine Innervation haben. Die einzelnen Therapien haben im HNO-Bereich somit Auswirkungen auf sämtliche Phasen des Schluckakts: Ein mangelhaftes Gebiss verhindert adäquates Kauen, fehlender Speichel und eine eingeschränkte Funktion der Zunge und der pharyngealen Muskula-
tur verunmöglichen einen effizienten Transport des Nahrungsbolus; der Verlust der laryngealen Schutzfunktion wiederum führt zu rezidivierenden Aspirationen. Die Chemotherapie ihrerseits verursacht häufig Übelkeit. Aufgrund der grossen Herausforderungen bezüglich adäquater Ernährung während und nach der Therapie werden potenzielle Problempatienten daher bereits präoperativ durch die Ernährungstherapeutin evaluiert. Vor grösseren Eingriffen erhalten sie zudem eine präoperative Immunonutrition. Diese spezielle Formula-Diät soll helfen, postoperativen Komplikationen wie Wundinfekten und Pneumonien vorzubeugen. Werden drei Portionen dieser Ernährung 5 bis 7 Tage vor der Behandlung begonnen, lässt sich die Spitaldauer um 2,12 Tage senken. Auch die Komplikationsrate geht signifikant zurück (p = ≤ 0,001). Die Pulver enthalten pro Portion 16,8 g Protein (22% der Kalorien), Fette (25% der Kalorien), Kohlenhydrate (53% der Kalorien), aber auch wichtige Elektrolyte und Guarfasern. Nach der Operation oder Radiotherapie ist der Patient erneut zu evaluieren. Zu den ernährungsspezifischen Massnahmen zählen die Ernährung über eine Magensonde, das physiotherapeutische oder logopädische Schlucktraining, eine Anpassung der Kostform und die Verschreibung von oralen Nahrungssupplementen wie Trinknahrungen, Maltodextrin oder Proteinpulver.
Orale Nahrungssupplemente
sind wirksam
Seit 2012 übernehmen die Krankenkassen die Kosten von Trinknahrung, die zu Hause eingenommen wird. Die Lebensmittelingenieurin Alexandra Uster vom Kantonsspital Winterthur war an dieser Entwicklung massgeblich beteiligt. Im Vortrag erklärte sie, welche Schritte damals notwendig waren, um die Krankenkassen von der Kostenübernahme zu überzeugen, die Leistungen vorbehalten ist, die wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sowie anhand wissenschaftlicher Methoden nachweisbar sind. Die Evidenz entnahm Alexandra Uster 4000 randomisierten, klinischen Studien mit 360 000 teilnehmenden Patienten. Resultate der Studien zeigten, dass es in 81 bis 90 Prozent zu einer Verbesserung
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des Ernährungszustandes kam, in 46 bis 60 Prozent der Studien sogar zu einer signifikanten Verbesserung. Werden gut 700 kcal pro Tag mehr über orale Nahrungssupplemente (ONS) zugeführt, führte das in einigen Studien sogar zu einem Rückgang in der Mortalität und einer verkürzten Dauer des Aufenthalts im Spital von bis zu 33 Tagen (!) bei orthopädischen Patienten und 2 Tagen bei chirurgischen Patienten. Nicht alle Patientengruppen profitierten in gleichem Mass von einer Trinknahrung, so Alexandra Uster. Wie sieht der Nutzen beispielsweise bei onkologischen Patienten aus? Man konnte zeigen, dass Krebspatienten unter Radiotherapie eine signifikante Verbesserung der Lebensqualität und des Ernährungszustandes erzielten, wenn sie Trinknahrung einnahmen. Nach den ESPEN-Guidelines entspricht das heute Evidenzgrad A. Der gleiche Evidenzgrad besteht bei Patienten mit einem hohen Ernährungsrisiko vor einer grösseren Operation oder speziell vor einem grossen Baucheingriff. Am Kantonsspital Winterthur werden derzeit Daten einer Studie zur Rolle von Ernährungsberatung und Bewegung bei palliativen Patienten mit Krebs der Lunge oder des Magen-Darm-Traktes ausgewertet. Als Fazit hielt Uster fest, dass die Trinknahrung immer in Kombination mit einer Ernährungsberatung erfolgen sollte. Frühzeitige und multimodale Interventionen scheinen vielversprechend zu sein. Speziell bei mangelernährten und palliativen onkologischen Patienten gibt es allerdings bis heute wenig Evidenz zum Nutzen von Trinknahrung.
Bezug̈ lich der Zusammensetzung der Trinknahrung gibt es noch offene Fragen. Ungesättigte Omega-3-Fettsäuren scheinen antiinflammatorische und immunsuppressive Effekte zu haben. Unbekannt ist bis anhin die Wirkung von Aminosäuren wie Arginin.
Mindert Ergänzungsnahrung
die Therapietoxizität?
Die Ernährung sei ein enorm wichtiges Thema im onkologischen Alltag, betonte Attila Kollàr, medizinischer Onkologe am Inselspital Bern. Trotzdem wird Malnutrition als klinisch relevanter Gesundheitszustand seitens der Ärzteschaft häufig unterschätzt. Sie wird durch die eingesetzten Chemotherapeutika aufgrund ihres gastrointestinalen Nebenwirkungsprofils (Appetitlosigkeit, Nausea, Emesis etc.) gefördert. Additiv wirken hinsichtlich der Malnutrition auch die durch die Tumortherapie induzierten hormonellen (z.B. Hypothyreose) und psychischen Veränderungen (Depression). Neuere Chemotherapeutika in Form von Antikörpertherapien wie die Tyrosinkinaseinhibitoren und die Immuntherapie sind mit einem etwas geringeren Auftreten von gastrointestinalen Nebenwirkungen assoziiert, können jedoch ebenso dazu führen. Auch die Interaktion zwischen ungenügender Ernährung und Therapietoxizität wurde beleuchtet. Aufgrund der Hypalbuminämie, welche die Plasmaproteinbildung von Medikamenten beeinflusst, und aufgrund des unterschiedlichen Körperfettgehalts, welcher die Medikamentenclearance signifikant beeinflusst, wird ein diesbezüglicher Zusammenhang in Betracht ge-
zogen. Doxorubicin hat beispielsweise eine Plasmaproteinbindung an Albumin von 97 Prozent. Kollár stellte verschiedene randomisierte Studien zur Thematik vor, welche diesen Zusammenhang stützen, jedoch die Kausalität nicht beweisen. Zusammenfassend hielt er fest, dass eine Therapietoxizität die Mangelernährung fördert, es aber unklar ist, ob Malnutrition auch die Therapietoxizität erhöht. Evidenz besteht dahingehend, dass eine Mangelernährung einen negativen Effekt auf die Lebensqualität hat und aus diesem Grund eine Ernährungsberatung beziehungsweise -therapie einen festen Stellenwert in der Betreuung von onkologischen Patienten haben muss. Eine Mangelernährung ist meist mit einer ungünstigeren Prognose vergesellschaftet; ob die Prognose einer Tumorerkrankung durch eine adäquate Ernährungstherapie verbessert werden kann, bleibt aufgrund der vorliegenden Studienlage unklar. O
Annegret Czernotta
19. Workshop «Moderne klinische Ernährung, Krebs und Ernährung» – von kurativ bis palliativ, 8. Mai 2015, Inselspital Bern.
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