Transkript
FORTBILDUNG
Harninkontinenz der Frau
Basisdiagnostik und Therapie in der Hausarztpraxis
Der folgende Beitrag soll einen Leitfaden für die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten einer Hausarztpraxis bei weiblicher Harninkontinenz vermitteln. Beantwortet werden soll auch die Frage, wann eine Überweisung zur spezialisierten Abklärung sinnvoll ist.
Kathrin Beilecke
In der primären Abklärung von Harninkontinenz trägt der Hausarzt eine zunehmende Verantwortung und kann dieser mit hoher fachlicher Kompetenz Rechnung tragen. Die Inzidenz der Harninkontinenz variiert zwischen 14 und 69 Prozent. Risikofaktoren sind Übergewicht, Alter, Schwangerschaft und Typ-2-Diabetes. Eine Basisdiagnostik ohne zusätzliches Equipment ist auch in der Hausarztpraxis leicht umsetzbar und die primäre konservative Therapie nebenwirkungsarm und effektiv. Da Hausärzte am besten über Begleiterkrankungen und Komedikationen der betroffenen Frauen informiert sind, können sie die Indikation für eine pharmakologische Therapie sicher einschätzen. Heil- und
Hilfsmittel wie Vorlagen beziehungsweise Kontinenztampons können budgetfrei verordnet werden, und die Beckenbodengymnastik ist ohnehin bei allen Inkontinenzformen indiziert.
Diagnostische Massnahmen
Ziel der Diagnostik ist es, zwischen den häufigsten Formen Belastungs- beziehungsweise Drangharninkontinenz zu unterscheiden (Abbildung 1 und 2). Liegt eine Mischform vor, auch als Mischharninkontinenz bezeichnet, sollte herausgefunden werden, welche Inkontinenzform den höheren Leidensdruck verursacht. Lassen sich die Symptome nicht sicher zuordnen, kann eine extraurethrale Inkontinenz (Fisteln) beziehungsweise eine Überlaufinkontinenz vorliegen. Hier ist die primäre Überweisung an eine Spezialsprechstunde sinnvoll. Fragebögen zur Abgrenzung zwischen einer Belastungs- beziehungsweise Drangharninkontinenz helfen für eine erste Differenzierung, die Auswertung eines Miktionstagebuchs, welches nicht mehr als drei Tage geführt werden sollte, trägt dazu bei, sich auf eine Arbeitsdiagnose festzulegen. Wenn als Ursache der Beschwerden ein Harnwegsinfekt beziehungsweise eine Restharnbildung ausgeschlossen wurde, kann die konservative Therapie verordnet werden.
MERKSÄTZE
O Risikofaktoren für die Harnikontinenz der Frau sind Übergewicht, Alter, Schwangerschaft und Typ-2-Diabetes.
O Ziel der Diagnostik ist es, zwischen den häufigsten Formen Belastungs- beziehungsweise Drangharninkontinenz zu unterscheiden.
O Nichtmedikamentöse Behandlungsmassnahmen beinhalten Verhaltenstraining, den Einsatz von Kontinenzhilfen und Pessaren sowie Physiotherapie.
O Bei Belastungsharninkontinenz kann additiv zur Physiotherapie des Beckenbodens der Noradrenalin-SerotoninWiederaufnahme-Hemmer Duloxetin verordnet werden.
O Zur medikamentösen Therapie der Reizblase und der Dranginkontinenz werden seit Langem antimuskarinerge Wirkstoffe erfolgreich eingesetzt. Seit 2014 steht in der Schweiz auch das Beta-3-Sympathomimetikum Mirabegron zur Therapie der Reizblase zur Verfügung.
Verhaltenstraining
Schon das Führen eines Miktionstagebuchs resultiert in einer Verbesserung der Kontinenz und der Lebensqualität, was den guten Plazeboeffekt im Rahmen von Zulassungsstudien erklärt, indem die Betroffenen bewusst die Blasenfunktion reflektieren und ihr Trinkverhalten kontrollieren. Das Entleeren der Harnblase vor sportlichen Aktivitäten reduziert Inkontinenzepisoden unter Belastung. Bleibt die Patientin bei imperativem Harndrang stehen und konzentriert sich auf die Harnblase, lassen sich damit bis zu 50 Prozent der Dranginkontinenzepisoden vermeiden. Koffein kann eine Reizblase unterhalten. Es passiert eher selten, dass Patientinnen deshalb auf ihren Kaffee verzichten wollen. Darauf hingewiesen werden sollten sie trotzdem.
Kontinenzhilfen und Pessare
Die Verordnung von aufsaugenden Kontinenzhilfen ist nicht budgetiert und sollte immer angeboten werden. Viele Patientinnen wissen nicht um diese Möglichkeiten und bezahlen die Vorlagen selbst. Vaginaltampons (Pro Dry®, Contam®) üben über die Vagina eine sanfte Kompression gegen die Urethra aus und können in der Belastungssituation Harninkontinenzepisoden unterdrücken.
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FORTBILDUNG
Abbildung 1: Verdickte Harnblasenwand bei Dranginkontinenz in der Sonografie (S: Symphysenunterkante; U: Urethra; HB: Harnblase
Abbildung 2: Trichterbildung der Urethra bei Belastunsinkontinenz in der Sonografie
Physiotherapie
Die Bewusstseinsschulung für den Beckenboden geht einer Konditionierung voraus. Geschulte Physiotherapeuten untersuchen selbst vaginal, um den Beckenbodenstatus zu erheben. Danach wird entschieden, ob bei fehlender Kontraktionsfähigkeit primär die Elektrostimulation, bei geringer Kontraktionsfähigkeit das Biofeedbacktraining allein oder eine Biofeedback-getriggerte Elektrostimulation verordnet wird. Bei gutem Beckenbodenstatus ist oft das angeleitete Training der Muskulatur erfolgreich. Broschüren, die den Patientinnen das Training erklären, reichen allein nicht aus.
Medikamentöse Therapie
der Belastungsharninkontinenz
Additiv zur Physiotherapie des Beckenbodens kann Duloxetin verordnet werden. Als Noradrenalin-Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer sorgt es im Sakralmark für die Stimulation des N. pudendus, wodurch der Tonus der Urethralmuskulatur erhöht wird. Eine einschleichende Dosierung von 2-mal 20 mg bis zum Erreichen der Standarddosis von 2-mal 40 mg soll mögliche Nebenwirkungen reduzieren. Da Duloxetin ebenfalls als Antidepressivum eingesetzt wird, soll es nicht mit anderen Antidepressiva kombiniert werden. Nach Abschluss der Physiotherapie ist ein Auslassversuch gerechtfertigt, um zu sehen, ob die erreichte Kontinenz durch den konditionierten Beckenboden aufrechterhalten werden kann. Die dadurch zeitlich begrenzte Applikation von Duloxetin motiviert auch jüngere Patientinnen zur Einnahme.
Medikamentöse Therapie
der überaktiven Harnblase (Reizblase)
Die antimuskarinerge Therapie ist seit Jahrzehnten der Klassiker der medikamentösen Therapie der Reizblase/Dranginkontinenz. Die «Uraltklassiker» sind Trospiumchlorid beziehungsweise Oxybutynin. Beide haben weiterhin einen Stellenwert in der Therapie der Reizblase: Trospiumchlorid, da es durch die Molekülgrösse (quartäres Amin) die BlutHirn-Schranke nicht passiert und daher keine zentralen Nebenwirkungen hat; Oxybutynin weiterhin durch die transdermale Applikation und damit Umgehung des «Firstpass»-Effekts der Leber, wodurch Nebenwirkungen wie die Mundtrockenheit auf Plazeboniveau gehalten werden können. Oxybutynin, Fesoterodin, Tolterodin und Propiverinhydrochlorid (nicht im AK der Schweiz) brauchen als Retardpräparat nur 1-mal täglich eingenommen zu werden und zeichnen
sich durch eine niedrige Nebenwirkungsrate durch die kontinuierliche Wirkstofffreigabe aus. Der aktive Metabolit des Fesoterodins wird im Vergleich zum pharmakokinetisch verwandten Tolterodin nicht über das Cytochrom P450, sondern mittels ubiquitärer Esterasen gebildet, was für Patientinnen mit Begleitmedikationen relevant ist. Darifenacin mit ausgeprägtem M3-selektivem Wirkansatz, wodurch zentrale und kardiale Nebenwirkungen reduziert und die Mundtrockenheit auf Plazeboniveau gehalten werden können, ist ebenfalls ein Retardpräparat. Solifenacin ist weniger M3-selektiv als Darifenacin, was Obstipationsbeschwerden als eine relevante Nebenwirkung reduzieren soll. Aufgrund der pharmakokinetischen Unterschiede zwischen den verschiedenen Antimuskarinika und wegen der individuellen Verträglichkeiten der Patientinnen ist es sinnvoll, das breite Spektrum vorhalten zu können. Altersbedingt muss keine Dosisreduktion erfolgen.
Sympathomimetische Therapie
Seit 2014 kann in der Schweiz Mirabegron als Beta-3-Sympathomimetikum zur Therapie der Reizblase verordnet werden. Durch die Relaxation der Detrusormuskulatur ohne Hemmung der Kontraktionsfähigkeit kann das Risiko einer Restharnbildung unter Umständen reduziert werden. Mundtrockenheit tritt auf Plazeboniveau auf, zentrale Nebenwirkungen scheinen ebenfalls nicht relevant zu sein. Als Retardpräparat werden täglich 50 mg Mirabegron verordnet, die Reduktion auf 25 mg erfolgt bei eingeschränkter Leberbeziehungsweise Nierenfunktion.
Wann überweisen?
Wenn man sich der Inkontinenzproblematik nicht annehmen
kann, konservative Therapieoptionen kontraindiziert sind,
keine oder eine unzureichende Wirksamkeit gezeigt haben
beziehungsweise von der Patientin nicht erwünscht sind,
ist es sinnvoll, zu überweisen. Sicher kann ein zweites Anti-
cholinergikum verordnet werden, wenn das erste nicht hilft,
oder man wechselt zum Sympathomimetikum beziehungs-
weise umgekehrt. Gerade bei Reizblasenbeschwerden
sollte man dann aber die Basisdiagnostik durch eine Ure-
throzystoskopie ergänzen, um mögliche Urothelpathologien
auszuschliessen.
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Dr. med. Kathrin Beilecke Klinik für Urogynäkologie Deutsches Beckenbodenzentrum St. Hedwig Krankenhaus D-10115 Berlin
Literatur: Leitlinie für die «Diagnostik und Therapie der Belastungsinkontinenz der Frau», AWMFRegister Nr. 015/005. Leitlinie für «Die überaktive Blase», AWMF-Register Nr. 015/007. Tunn R et al.: Urogynäkologie in Praxis und Klinik, 2. Aufl. De Gruyter, Berlin, 2009.
Interessenkonflikte: Die Autorin erhält Referentenhonorare der Firmen Medtronic und AMS.
Diese Arbeit erschien zuerst in «Der Allgemeinarzt» 8/2015. Die bearbeitete Übernahme erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor. Anpassungen an Schweizer Verhältnisse erfolgten durch die Redaktion von «ARS MEDICI».
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