Transkript
FORTBILDUNG
Frauen mit Genitalkarzinomen gut begleiten
Umgang mit Symptomen sowie Nebenwirkungen der Chemotherapie
Die Behandlung des Genitalkarzinoms der Frau hat sich in den letzten Jahren gewandelt und ist heute interdisziplinär. Die gemeinsame Betreuung mit Zuweiser und Hausarzt ist essenziell (1) – durch den wechselseitigen Austausch, beispielweise an gemeinsamen Fortbildungsveranstaltungen, steigt die Behandlungsqualität für die Patientin. Die Therapie umfasst in der Regel die Operation mit anschliessender Chemotherapie und/oder Radiotherapie. Der vorliegende Artikel beschreibt die wichtigsten Symptome sowie Nebenwirkungen, die während der Chemotherapie auftreten.
Marcus Vetter
Die Genitalkarzinome der Frau umfassen das Zervixkarzinom, das Endometriumkarzinom, das Ovarialkarzinom inklusive Tuben- und Peritonealkarzinom, das Vaginalkarzinom und das Vulvakarzinom. Die primäre Behandlung ist in der Regel die Resektion, die je nach Stadium und Erkrankung
MERKSÄTZE
O Symptome und Nebenwirkungen nach Chemotherapie sind häufig und gut behandelbar. Die Behandlung sollte interdisziplinär durch Zentrum, zuweisenden Gynäkologen und Hausarzt erfolgen.
O An häufigen Nebenwirkungen treten auf: Blutbildveränderungen einschliesslich Neutropenie, Thrombopenie und Anämie.
O Bei den Genitalkarzinomen sind die Chemotherapieschemata in der Regel mit einer Rate an febriler Neutropenie unter 20 Prozent vertreten, des Weiteren Nausea und Emesis sowie Alopezie. Gelegentlich kommt es auch zu einer schweren Mukositis.
O Die febrile Neutropenie ist ein onkologischer Notfall. Vor Beginn der Therapie müssen die Patientinnen darüber aufgeklärt werden. Die Letalität beträgt auch heutzutage noch bis zu 10 Prozent. Eine antibiotische Therapie mit einem Breitbandantibiotikum sollte umgehend initiiert werden.
O Eine gute Zusammenarbeit zwischen niedergelassenem Allgemeinpraktiker und Spital ist erforderlich, um eine optimale Versorgung der Tumorpatientin zu gewährleisten.
sehr unterschiedlich ausfallen kann. Anschliessend erhalten viele Patientinnen eine platinbasierte Chemotherapie. Beim Ovarialkarzinom beispielsweise ist es meist eine Kombination aus Carboplatin und Paclitaxel, von der in der Regel vier bis sechs Zyklen alle drei Wochen appliziert werden (2). Manche Patientinnen erhalten auch neuere Medikamente, zum Beispiel monoklonale Antikörper wie Bevacizumab. Dieses Medikament hat zu einer besseren Prognose beigetragen und ist für das Ovarialkarzinom und das Zervixkarzinom im fortgeschrittenen Stadium zugelassen (3, 4). Die Kehrseite der Medaille einer effektiveren Tumortherapie sind die Nebenwirkungen der Chemotherapie, inklusive bisher unbekannter Nebenwirkungen neuerer Medikamente (z.B. monoklonale Antikörper). In onkologischen Studien sind die Endpunkte meist Progressionsfreiheit, Ansprechrate oder das Überleben. Lebensqualitätsendpunkte sind leider immer noch sehr selten (5, 6). Dies wird sich in den kommenden Jahren hoffentlich verbessern.
Voraussetzungen für eine Chemotherapie
Bevor eine Chemotherapie appliziert werden kann, müssen gewisse Voraussetzungen erfüllt sein (7). Als grundlegende Faustregel kann empfohlen werden, dass eine Chemotherapie nur dann sinnvoll ist, wenn die Patientin selbstständig die Klinik beziehungsweise das Ambulatorium aufsuchen kann. Grundsätzlich sollte ein ECOG-Performance-Status ≤ 2 vorliegen (gemäss der Definition der Eastern Cooperative Oncology Group bedeutet dies gehfaḧ ig, aber nicht arbeitsfaḧ ig, Selbstversorgung ist mog̈ lich, kann mehr als 50% der Wachzeit aufstehen). Das periphere Blutbild sollte in der Norm sein. Mindestvoraussetzungen vor dem Start einer Therapie sind: O HB > 10 g/l O TC > 100 g/l O LC > 3,0 g/l O neutrophile Granulozyten > 1,5 g/l O auch die Leber- und Nierenwerte sollten in der Norm
liegen (max. < 1,25-faches der Norm). Je nach Erkrankung und Metastasierungsmuster muss diese Entscheidung für jede Patientin individuell getroffen werden. Vor einer anthracylinhaltigen Chemotherapie sollte in der Regel eine Herzechountersuchung oder eine Myokardszintigrafie durchgeführt werden.
Die wichtigsten Nebenwirkungen
Frauen mit Genitalkarzinomen erhalten in der Regel eine platinbasierte Chemotherapie (mit Carboplatin oder Cisplatin)
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Tabelle:
Behandlung der Chemotherapie induzierten Nausea und Emesis nach emetogener Potenz
Emetogene Potenz hohes Risiko (> 90%) z.B. Cisplatin > 50 mg/m2, Cyclophosphamid > 1500 mg/m2
moderat (> 30% bis 90%) z.B. Doxorubicin, Idarubicin, Etoposid p.o.
niedrig (10% bis 30%) z.B. 5-FU, Capecitabin, Gemcitabin minimal (< 10%) z.B. Bevacizumab, Vinblastin
Empfohlene Medikation
Drei-Medikamenten-Schema: 5-HT3-Rezeptor-Antagonist (Palonosetron bevorzugt – NCCN), Dexamethasone und Aprepitant
Zwei-Medikamenten-Schema 5-HT3-Rezeptor-Antagonist und Dexamethason (+/-Aprepitant für bestimmte Patienten)
Dexamethason 8–12 mg
keine Anwendung
adaptiert nach ESMO und NCCN Guidelines (11, 16)
mit einem Kombinationspartner (z.B. Taxan oder Anthracyclin). Die wichtigsten Nebenwirkungen umfassen dabei: 1. Blutbildveränderungen inkl. Anämie, Thrombopenie, Leu-
kopenie, Neutropenie inkl. febriler Neutropenie 2. chemotherapieinduzierte Nausea und Emesis 3. Schleimhauttoxizität inkl. Stomatitis, Oesophagitis,
Gastroenteritis (Mukositis) mit Diarrhö 4. Fatigue und starke Müdigkeit 5. Neurotoxiziät (z.B. Taxane) 6. Infertilität und Libidoverlust (nach OP und nach
Chemotherapie) In der Regel werden die Toxizitäten nach den Common Terminology Criteria for Adverse Events (CTCAE) gradiert. Dies ist ein Katalog, mit dem alle in der Onkologie vorkommenden Symptome gradiert werden können und der hauptsächlich für Studien, aber auch im klinischen Alltag zur Einschätzung der Schwere der Symptome verwendet wird (8). Die Skala reicht von Grad 0 bis 5. In der Regel wird ab Grad 2 bis 3 die Chemotherapie unterbrochen und je nach Symptom muss eine Dosisanpassung erfolgen. Ab Grad 4 wird die Behandlung in der Regel abgebrochen. Die Anpassungen stehen selbstverständlich in Relation zur Zielsetzung der Therapie: Im palliativen Setting wird in der Regel eher früher eine Anpassung vorgenommen als im kurativen oder definitiven Setting. Die folgenden Abschnitte beleuchten die wichtigsten Nebenwirkungen und deren Management im Detail.
Febrile Neutropenie
Die in der gynäkologischen Onkologie verwendeten Therapieschemata haben in der Regel eine Febrile-NeutropenieRate unter 20 Prozent. Ausnahmen bleiben Schemata wie TAP (Doxorubicin, Cisplatin, Paclitaxel) mit einem höherem Neutropenierisiko. Die Neutropenie wird definiert als Abfall der neutrophilen Granulozyten unter 0,5 g/l und einer Temperatur axillär von > 38,2 °C oder 38,0 °C zweimal innerhalb von einer Stunde. Die febrile Neutropenie ist ein onkologischer Notfall und bedarf der umgehenden Behandlung. Bei
den Genitalkarzinomen der Frau besteht dadurch eine Letalität von bis zu 10 Prozent. In der Regel sollte eine sofortige Behandlung mit einem Breitspektrumantibiotikum (z.B. Piperacillin/Tazobactam) begonnen werden. Die Basisdiagnostik bei der febrilen Neutropenie beinhaltet: O Blutbild inklusive Handdifferenzierung, CRP, Nieren- und
Leberparameter, Elektrolyte, Gerinnung O Röntgenthorax zum Ausschluss einer Pneumonie O Harnuntersuchung inkl. Kultur O 2×2-Blutkulturen aerob und anaerob bei Fieberschüben
(auch aus den zentralen Leitungen wie «Porth-a-cath»-System). Zur Risikostratifizierung kann der Score der Multinational Association for Supportive Care in Cancer (MASCC) herangezogen werden, der zwischen Hochrisiko- und Niedrigrisikopatientinnen unterscheidet. Dieser Risikoscore beinhaltet unter anderem: O Symptome und deren Schwere O Vorhandensein einer Hypotonie (< 90 mmHg systolisch) O Alter < 60 Jahre. Patientinnen mit einem tiefen Risikoscore können in der Regel ambulant behandelt werden. Patientinnen mit einem hohen Risikoscore sollten hospitalisiert werden (9). Eine primäre Prophylaxe mit Granulozyten-Kolonie-stimulierendem Faktor (GCSF) sollte bei älteren Patientinnen (> 65 Jahre) oder bei Status nach Radiotherapie des Mediastinums, der Paraaortalfelder oder des Beckens in Erwägung gezogen werden. Auch bei offenen Wunden und Infekten und bei reduziertem AZ kann eine Primärprophylaxe erwogen werden.
Chemotherapieinduzierte Nausea und Emesis
Durch moderne supportive Therapie und den Einsatz von Antiemetika sind die meisten Chemotherapien deutlich besser verträglich als vor Einsatz dieser Medikamente (10). Nach den aktuellen Guidelines des National Comprehensive Cancer Networks (NCCN) werden Chemotherapieschemata mit aufsteigender emetogener Potenz unterschieden (11). Je nach emetogener Potenz sollte die supportive Therapie gewählt werden (siehe Tabelle).
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Insbesondere bei Behandlung mit Cisplatin > 50 mg/m2 ist Vorsicht geboten und in der Regel eine Dreierkombination aus Kortikosteroiden, Serotonin-(5-HT3-)Rezeptor-Antagonisten und NK1-Rezeptor-Antagonisten erforderlich. Bei Persistenz von Nausea und Emesis kann gegebenenfalls auf das weniger emetogene Carboplatin gewechselt werden. Dabei sollte aber die Therapieintention kurativ/definitiv versus palliativ berücksichtigt werden.
Chemotherapieinduzierte Mukositis
Bei der Behandlung der Genitalkarzinome der Frau ist die Mukositis mit unterschiedlichem Schweregrad ebenfalls eine bekannte Nebenwirkung, insbesondere Taxane und Anthracyline können eine solche auslösen. Aber auch andere Medikamente, die nicht routinemässig in der gynäkologischen Onkologie verwendet werden, wie Methotrexat oder auch Target-Therapien wie Everolimus können häufiger eine Mukositis verursachen. Die Behandlung umfasst die Anwendung von Mundspülungen (z.B. mit Salbeitee oder Kamillenextrakt) sowie die Anwendung von Lokalanästhetika wie Xylocain-Gel (2%). Zudem werden Nystatinlösungen und lokales wie auch systemisches Fluconazol eingesetzt. In schwereren Fällen sollten Patientinnen hospitalisiert und der Einsatz einer intravenösen Schmerztherapie bis hin zu Opiaten etabliert werden. Der Einsatz von Kombinationslösungen zur Mundspülung, sogenanntes «magic mouth wash», ist nicht standardisiert. Dabei variiert die Zusammensetzung von Klinik zu Klinik. Unter anderen werden Steroide, Antimykotika, Antibiotika und Lokalanästhetika kombiniert. Zur Behandlung der Mukositis sind aktuell Supportive-Guidelines publiziert (12).
Tumorbedingte Fatigue
Die tumorbedingte Fatigue ist ein multifaktorieller Prozess, der sowohl im adjuvanten wie auch im palliativen Setting verschiedenster Tumorerkrankungen vorkommt. Die Behandlung ist zum Teil sehr schwierig. Es handelt sich um ein komplexes Geschehen mit verschiedenen Ursachen: O Progression der Erkrankung O Myelosuppression durch die Chemotherapie O Radiotherapie O antiestrogene Therapie (Estrogenentzug durch OP und
Chemotherapie) O Immuntherapien, zum Beispiel im Rahmen von Studien
mit Interleukinen O psychosoziale Belastung durch die Erkrankung inklusive
Depression O Anorexie O anderes.
Die Entwicklung der Symptome und der Status der Patien-
tinnen korrelieren miteinander, Einfluss haben der funk-
tionelle, der biologische, der demografische, der medi-
zinische Status (siehe oben) und der Verhaltensstatus der
Patientin (13, 14).
Die Behandlung beinhaltet selbstverständlich die Behandlung
der Grunderkrankung (z.B. tumorspezifische Therapie, Aus-
gleich einer Anämie, Behandlung einer Depression). In der pal-
liativen Phase kann die Fatigue mit Steroiden oder Medroxy-
progesteron behandelt werden. Eine weitere Möglichkeit als
«Off-label»-Gebrauch besteht in der Behandlung mit Methyl-
phenidat (15). Sehr wichtig und in Studien belegt erscheint
auch das regelmässige körperliche Ausdauertraining.
O
Dr. med. Marcus Vetter Gynäkologisches Tumorzentrum des Universitätsspitals Basel Spitalstrasse 21, 4031 Basel E-Mail: marcus.vetter@usb.ch
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